Annäherung an die Führungslehre – Wie kann der Theorie-Praxis-Transfer gelingen?
PD Axel Treczokat, Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Lübeck
„Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können“ (Albert Einstein)
Wenn man sich im Rahmen der Aus- und Fortbildung bzw. im Studium über die Mitarbeiterführung in den Polizeibehörden austauscht, dann wird man sehr schnell mit Fachbegriffen aus der PDV 100 sowie anderen internen Organisationsvorgaben konfrontiert. Das ist auch gut und richtig. Jedoch sind bei der Befassung mit dem Thema Mitarbeiterführung weitere Aspekte sowie Perspektiven zu berücksichtigen, damit ein Transfer dieser Theorieansätze sowie Vorgaben in die Praxis gelingt. Das Wirken in die Führungspraxis ist die Hauptaufgabe der Führungslehre im Rahmen der Deduktion. – In den nachfolgenden Ausführungen werden ausgewählte Gesichtspunkte zum Theorie-Praxis-Transfer dargestellt.
Womit befasst sich eigentlich die Führungslehre?
Mit diesem recht „strengen“ Begriff wird das theoretisch aufbereitete Verständnis von Führungshandeln bezeichnet. Hierbei stützt sich die Führungslehre auf Theorien zur Führung sowie relevanten Erkenntnissen aus der Soziologie, Psychologie, Betriebswirtschaftslehre (insb. der Führungsforschung) etc. ab. Diese theoretischen interdisziplinären Erkenntnisse werden in der Führungslehre gezielt zusammengefasst, damit diese in der Aus- und Fortbildung den Mitarbeitern und Führungskräften möglichst praxisorientiert vermittelt zu werden können. Die Erkenntnisse zur Führung sollen den Adressaten als Orientierungshilfe im beruflichen Alltag dienen. – Und genau da liegt die entscheidende Transferproblematik! – Wie kann der Mitarbeiter oder die Führungskraft diese Erkenntnisse, Handlungshilfen und Methoden/Techniken in seine konkrete Arbeitssituation übertragen? Etwas abseits des beruflichen Alltags zu lernen, das ist eine Sache. Es im beruflichen Alltag ggf. sogar auf Dauer anzuwenden die andere. Insbesondere im Bereich der Fortbildung wird dieses auch als „Back-Home-Problematik“ bezeichnet. Hierbei wird durch die Betroffenen zumeist auf ungünstige Umstände oder fehlende Gelegenheiten verwiesen. Letztlich entscheidend ist jedoch die persönliche Transferentscheidung der Handelnden. Will man sein bisheriges Verhalten aufgrund der Erkenntnisse ändern oder nicht. Dabei ist die persönliche Bewertung entscheidend, was von der Theorie in die spezifische berufliche Situation übertragen werden kann. Diese Veränderungsbereitschaft sollte im beruflichen Umfeld (Vorgesetzte, Kollegen und Mitarbeiter) angemessen kommuniziert werden. Der Austausch zu den Erkenntnissen aus der Führungslehre beeinflusst maßgeblich den Transfererfolg.
Somit kann man feststellen, dass die theoretische Erklärung von (Führungs-) Verhalten nur so wirkungsvoll ist, wie die tatsächliche persönliche Verhaltensanpassung in der beruflichen Praxis gelingt. Daher sollten die Erkenntnisse aus der Führungslehre sehr persönlich genommen werden: „Wie verhalte ich mich als Mitarbeiter?“, „Wie verhalte ich mich als Vorgesetzter?“, „Wie wirke ich bei der Gestaltung der Arbeitssituation mit?“ und „Wie gehen wir miteinander um?“
Die Betroffenheits-Problematik
Im Rahmen der Veranstaltungen in der Aus- und Fortbildung sowie der Beratung von Führungskräften macht man als Lehrender wiederholt die Erfahrung, dass die Gesprächspartner (dieses schließt den Verfasser mit ein) bei dem Thema Führung eigene Erfahrungen, eigene Vorstellungen und eigene Lösungen haben. Manchmal sind diese Überzeugungen bei Personen so hartnäckig, dass eine diskursive Erörterung nur mühsam gestaltet werden kann. Beispielsweise ist jeder Gesprächspartner der festen Überzeugung, dass er in den besten Absichten handelt. Dass das gutgemeinte Handeln auch ggf. unerwünschte negative Wirkungen hat, wird nicht einkalkuliert. – Eine unbelastete Diskussion, eine selbstkritische Reflexion zum eigenen Verhalten in Führungssituation und eine unvoreingenommene Auseinandersetzung zum Thema Führung sind kaum möglich. – Ursächlich für dieses Phänomen sind wahrlich die persönlichen Erfahrungen mit den „allgegenwärtigen“ Führungsbeziehungen im Rahmen der Familie, der Erziehung, der beruflichen und privaten Sozialisation. Aufgrund dieser Erfahrungen bilden sich bei den Personen spezifische Deutungsmuster, d.h. es entstehen durch diese Eindrücke Sinnesschemata, wie jemand die Umwelt erkennt und versteht. Des Weiteren ist die Befassung mit dem Thema Führung überwiegend von der persönlichen Betroffenheit (in den Rollen als Mitarbeiter, Kollege, Vorgesetzter) geprägt. Diese Betroffenheit beinhaltet, dass die Inhalte des Themas Führung auf den Lernenden / den Lehrenden persönlich emotional einwirken. Dieses ist den Betroffenen häufig nicht bewusst. Die Betroffenheit führt jedoch dazu, dass eine kognitive und affektive Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen der Führungslehre erfolgt. Natürlich sind Betroffenheit und andere Emotionen durchaus hierbei erwünscht, da es ja um eine soziale Beziehung zwischen Menschen geht. Die eigenen Deutungsmuster sowie die persönliche Betroffenheit sollten jedoch nicht zu einem Erkenntnis- bzw. Veränderungshindernis werden. Ebenso sollte in der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema Führung sowie praktischem Führungshandeln eine sogenannte professionelle Distanz gewahrt werden. D.h., es sind emotionale Empfindungen zulässig, um eine Situation treffend zu erfassen, jedoch sollte eine rationale Bewertung nicht beeinträchtigt werden. Dieses bezeichnet man auch als „abgrenzte Zuwendung“.
Die Anspruchshaltung an Führungskräfte
Bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Führung fokussiert man sich insbesondere seitens der Mitarbeiter sowie der Organisation zumeist sehr rasch auf die Rolle der Führungskraft, die Erwartungshaltungen an Führungskräfte und andere Vorstellungen, wie ein „Chef“ idealtypisch sein sollte“. Hierbei wird zumeist unbewusst den Annahmen der Eigenschaftstheorie (blind) gefolgt. D.h., man unterstellt, dass eine Führungskraft über dauerhafte (zum Teil nicht erlernbare) erfolgskritische Persönlichkeitseigenschaften für Führung verfügt. Des Weiteren nimmt man an, dass sich eine Führungskraft in diesen Eigenschaften von seinen Mitarbeitenden unterscheidet. Es wird indirekt eine partielle Überlegenheit unterstellt. Einige Beschreibungen von Führungseigenschaften bzw. Anforderungen an eine Führungskraft erwecken den Eindruck, dass nicht ein Mensch, sondern eine Art Superheld beschrieben wird. Jedoch ist die Eigenschaftstheorie nicht geeignet Führungserfolg alleinig zu erklären.
Diese oft unrealistischen Erwartungshaltungen prägen jedoch die Auseinandersetzung mit dem Thema Führung. Somit macht man es sich aus der Mitarbeiterperspektive als auch der Organisations-/Behördensichtweise sehr einfach, in dem man extrem hohe Erwartungen an bestimmte Rolleninhaber, hier Führungskräfte, richtet. Dass dieses ggf. zu einer Überforderung bei Führungskräften führt bzw. Erwartungen nicht erfüllt werden, ist angesichts einer solch überzogenen Erwartungs-/Anforderungshaltung nicht überraschend. Auch fördert diese Sichtweise Führungskräfte-Bashing. Ebenso verleitet diese Herangehensweise an das Thema Führung dazu, dass wesentliche Aspekte nicht thematisiert werden. Bspw. wäre es angemessen, dass die Rolle des Mitarbeiters ebenso umfassend betrachtet wird, wie die Rolle der Führungskraft. – Auch sollte sich jeder fragen: Nehme ich meine Rolle als Mitarbeiter (auch im Sinne der Organisationsinteressen) tatsächlich richtig wahr?
Ist Führung überhaupt möglich?
Neben den sehr hohen Erwartungen innerhalb einer Führungsbeziehung haben Führungskräfte häufig auch noch andere Erwartungshaltungen bzw. Aufgaben zu erfüllen. Dieses sind typischer Fachaufgaben, welche der Funktion / dem Dienstposten zugeordnet sind, Verwaltungstätigkeiten (Personal, Budget, Produkte etc.) sowie weitere Nebenaufgaben (z.B. Beauftragter für ein Spezialthema, Mitwirkung bei der Personalgewinnung, Ausbildung und Fortbildung etc.). Im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung hat eine Führungskraft nachfolgende Aussage zu diesem Gesichtspunkt gemacht: „Aufgrund der Vielzahl der anstehenden Aufgaben und Termine kann ich mich nicht auch noch um die Mitarbeiter kümmern.“ Diese Aussage offenbart eine gravierende Problematik beim Umgang mit Führungskräften: Organisationsbedingt ist tatsächliche mitarbeiterorientierte Führung sehr erwünscht, aber tatsächlich kaum noch möglich. D.h., bei der organisatorischen Ausgestaltung von Führungspositionen, wird der zeitliche Anteil, welcher für die Führungstätigkeit tatsächlich erforderlich ist als viel zu gering angesetzt. Dieses ist auch dem Umstand geschuldet, dass eine zeitliche Bemessung dieser Führungstätigkeiten individuell ist und nur sehr unscharf nominal erfasst werden kann. Dieses Problem wird gerade bei der Mitarbeiterbeurteilung deutlich. Häufig haben die (Erst-) Beuteiler eine so hohe Anzahl an Mitarbeitern nach sehr umfänglichen verwaltungsrechtlichen Vorgaben zu beurteilen, dass eigentlich keine anderen Aufgaben mehr wahrgenommen werden können. Dieses ist jedoch unrealistisch.
Insofern sollte im Rahmen der Führungslehre nicht nur die reine Führungstätigkeit betrachtet werden, sondern es sollten alle Tätigkeiten berücksichtigt werden, welche durch eine Führungskraft wahrgenommen werden. Grundsätzlich beinhaltet die Führungslehre die beteiligten Akteure, die Umwelt (z.B. Organisation, Branche etc.) und die Aufgaben. Auch sind Aspekte der Organisationslehre Bestandteil der Führungslehre.
Führungskräfteentwicklung – Gute Mitarbeiter haben gute Führungskräfte verdient!
Führen und geführt werden will gelernt sein. Das Annehmen und Ausfüllen dieser Rollen im beruflichen Kontext erfordert von den beteiligten Akteuren eine besondere Verhaltensänderung bzw. Verhaltenssteuerung. Gerade für die Rolle der Führungskraft bzw. des Vorgesetzten ist das Erfassen, das Erlernen sowie das Verinnerlichen der besonderen Rollenanforderungen (z.B. Aufbau besonderer Führungskompetenzen) aus pädagogischer Sicht sehr komplex und bedarf einer ausgedehnten Lern- und Erfahrungsphase. Diese Erkenntnis ist nicht neu und ist eine Standardaufgabe (Führungskräfteentwicklung) im Personalmanagement. – Jedoch haben durch die gesellschaftlichen sowie demografischen Entwicklungen (z.B. Generationenwechsel in den Organisationen) bisherige Konzepte in diesem Bereich an Wirkung verloren. Insbesondere haben der demografische Umbruch, der damit verbundene Wertewandel, veränderte Berufsbiografien sowie die Digitalisierung diese Entwicklung geprägt. Auch hat sich im öffentlichen Dienst die Entgeltbewertung von Führungspositionen im Verhältnis zu anderen Stellen/Dienstposten nicht attraktiv entwickelt. Weiterhin besteht in vielen Bereichen der subjektive Eindruck, dass eine verantwortungsvolle Führungsaufgabe durch die Organisation nicht mehr angemessen wertgeschätzt wird. Die genannten Faktoren haben insgesamt, auch bei den Polizeibehörden, dazu geführt, dass die Gewinnung von Nachwuchsführungskräften zunehmend schwieriger wird.
Deutlich bemerkbar macht sich dieses bei der Gewinnung von Führungskräften für den höheren Polizeivollzugsdienst. Derzeit ist scheinbar ein Aufstieg in den höheren Polizeivollzugsdienst für bewährte Beamte aus dem gehobenen Polizeivollzugsdienst nicht mehr attraktiv. Auch hat das die Gewinnung von externen Hochschulabsolventen für den höheren Polizeivollzugsdienst nicht zur Deckung des Personalbedarfes geführt. Desgleichen haben kurzfristige Anpassungsfortbildungen oder sogenannte Praxisaufstiege dieses Problem nicht gelöst. – Insofern kann festgestellt, dass eine Führungskräfteentwicklung kein „Selbstgänger“ ist oder „Nebenbei“ betrieben kann. Sondern es bedarf eines strukturierten Konzeptes in der Organisation, welches bei der Erkennung von Führungstalenten beginnt und mit dem Offboarding von bewährten Führungskräften in die Pension/Ruhestand (z.B. im Rahmen eines Wissenstransfers) endet. Auch sind sämtliche Führungsfunktionen (laufbahnunabhängig) in einem solchen Konzept zu berücksichtigen. Standardisierte Programme zur Führungskräfteentwicklung, welche durch besondere Organisationeinheiten (u.a. in einer Abteilung für Personalentwicklung) umgesetzt werden, sind vielfach schon vor Jahren in Großunternehmen der Wirtschaft und in einigen Behörden erfolgreich implementiert worden.
Was ist eigentlich Führungserfolg?
Teilweise wird der Führungserfolg als dass positive oder negative Ergebnis, welches die Führungskraft in Erfüllung ihrer Führungsaufgabe erzielt hat, beschrieben. Jedoch wird überwiegend wissenschaftlich festgestellt, dass es schwierig ist, dass Ergebnis von Führungshandeln als erfolgreich oder nicht erfolgreich zu klassifizieren bzw. eindeutig auf das Handeln einer einzigen Führungskraft zurückzuführen. Führungserfolg ist nicht eindeutig messbar, vorhersagbar oder zuzuordnen. Auch stellt sich die Frage „für wen“ der Führungserfolg sich lohnt. Ist der Führungserfolg für die Führungskraft persönlich lohnend (z.B. Karriereerfolg)? Profitiert die Organisation von der erfolgreichen Führung, da die Organisationsziele (z.B. Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben) erreicht wurden? Oder hat sich der Führungserfolg sehr positiv auf Mitarbeiterschaft (z.B. Arbeitszufriedenheit) ausgewirkt? In diesem Sinne wird manchmal auch die Führungslehre nicht treffend eingeordnet, indem sie dahingehend missverstanden wird, dass es darum geht die eine oder die andere Seite erfolgreich (z.B. Karriereleitfaden, Ausbeutung der Arbeitskraft, Interessenvertretung etc.) zu machen. – Praktisch lässt sich das Phänomen Führungserfolg aus der Sicht der Führungslehre nur systemisch auflösen, wenn man das Gemeinsame betont. Sowohl Erfolg als auch Misserfolg wirken sich auf die Führungskraft, die Organisation und die Mitarbeiterschaft aus. Insofern ist es auch das gemeinsame Ziel der Führungskraft, der Organisation und der Mitarbeiterschaft, dass man erfolgreich ist. Die Führungslehre unterstützt diese gemeinsame Zielerreichung. Daher sollte der Theorie-Praxis-Transfer auch ein Anliegen aller Akteure sein.
Zusammenfassend kann festgestellt, dass der Transfer von den Erkenntnissen aus der Führungslehre in die berufliche Praxis gelingt, wenn:
- Alle Beteiligten (Mitarbeiter und Führungskräfte) reflexions- und veränderungsbereit sind.
- Führungsthemen eher aus einer Perspektive der professionellen Distanz betrachtet werden.
- Angemessene Ansprüche / Erwartungshaltungen an Führungskräfte gerichtet werden.
- Führungsfunktionen nicht mit weiteren Aufgaben „überfrachtet“ werden.
- In einer Organisation konzeptionell die Führungskräfteentwicklung umfassend implementiert wird.
- Die Führungslehre als Unterstützung für die gemeinsame erfolgreiche Zielerreichung empfunden wird.