Antisemitismus in Deutschland – Eine aktuelle Analyse der Sicherheitsbehörden

Prof. Dr. Stefan Goertz[1], Bundespolizei, Hochschule des Bundes, Lübeck

1. Einleitung

Nicht erst die aktuellen antisemitischen Vorfälle in Deutschland zeigen, dass Antisemitismus seit vielen Jahren ein großes Problem für die Freiheitliche demokratische Grundordnung Deutschlands darstellt. Auf Demonstrationen von „Querdenkern“ sind seit Monaten an Judensterne des dritten Reiches angelehnte „Ungeimpft“-Sterne zu sehen. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte dazu: „Das ist absolut nicht hinnehmbar und sollte gegebenenfalls auch strafrechtlich verfolgt werden.“[2] Nach Ansicht des Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung werde auf Corona-Demonstrationen von Querdenken damit der „Holocaust relativiert, indem die Maskenpflicht mit dem Tragen des Judensterns im Nationalsozialismus verglichen“ werde. Weiter führte Klein aus: „Mit Sorge beobachte ich auch die Zunahme der Verbreitung antisemitischer Verschwörungsmythen im Netz.“[3] Bayerische Behörden hatten im Frühsommer 2020 berichtet, dass bei Corona-Demonstrationen von Querdenkern vermehrt Schilder mit der Aufschrift „Ausgangsbeschränkungen sind sozialer Holocaust“ gezeigt wurden. Bei Corona-„Protesten“ in Berlin und anderen Städten trugen QAnon-Anhänger demonstrativ Kleidungsstücke mit einem „Q“ und die Verfassungsschutzbehörden führen aus, dass sowohl „Rechtsextremisten als auch eine Reihe von Reichsbürgern der QAnon-Theorie anhängen“.[4] Ein Anknüpfungspunkt für Rechtsextremisten biete die Behauptung der QAnon-Bewegung, die handelnden Eliten des „tiefen Staates“ seien „Linke, jüdischen Glaubens oder von Juden gesteuert“. Daher sehen die Verfassungsschutzbehörden die Gefahr, dass antisemitische und/oder gegen Politiker gerichtete Gewalttaten „mit der Behauptung einer Bedrohung durch den ,tiefen Staat‘ legitimiert würden“.[5]

Am Wochenende des 15.5.2021 kam es bei pro-palästinensischen Protesten in verschiedenen deutschen Städten zu antisemitischen Parolen und Ausschreitungen. Der Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erklärte sein Entsetzen über antisemitische Hetze bei diesen Demonstrationen: „Die Bilder sind unerträglich“. Natürlich dürfe man die Politik Israels scharf kritisieren und dagegen laut protestieren, „aber für Antisemitismus, Hass und Gewalt gibt es keine Begründung“ sagte Schäuble. Deshalb brauche es „die ganze rechtsstaatliche Härte gegen Gewalttäter, und es braucht den größtmöglichen Schutz für die jüdischen Gemeinden und Einrichtungen“, betonte der Bundestagspräsident. Er mahnte zugleich: „Wer sich in seinem Protest nicht eindeutig davon abgrenzt, wenn das Existenzrecht Israels angegriffen wird, macht sich mitschuldig.“ Deutschland müsse muslimischen Migranten klarmachen, sie seien „in ein Land eingewandert, in dem die besondere Verantwortung für Israel Teil unseres Selbstverständnisses ist“.[6]

Das Bundesministerium des Innern definiert Antisemitismus wie folgt:

„Antisemitismus gilt als Sammelbezeichnung für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die den als Juden geltenden Einzelpersonen oder Gruppen aufgrund dieser Zugehörigkeit negative Einstellungen unterstellen, um damit eine Abwertung, Benachteiligung, Verfolgung oder Vernichtung ideologisch zu rechtfertigen. Antisemitismus ist ein typischer ideologischer Bestandteil des Rechtsextremismus, kommt aber auch in anderen extremistischen Ideologien und Weltanschauungen vor. Als Vorurteils- und Einstellungssyndrom werden dabei Juden häufig im Sinne einer Verschwörungsideologie verschiedene negative Wesensmerkmale und Charaktereigenschaften zugeschrieben. Eine besondere Rolle spielt hierbei die Behauptung einer angeblichen weltweiten Dominanz in Politik und Wirtschaft. Das nationalsozialistische Regime hat sich beim Genozid an den europäischen Juden (Holocaust) auf solche antisemitischen Klischees berufen.“[7]

In alphabetischer Reihenfolge wird in diesem Beitrag der Antisemitismus von Ausländerextremisten, Islamisten, Linksextremisten, Rechtsextremisten sowie „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ in Deutschland untersucht.

2. Antisemitismus von Ausländerextremisten

Das Bundesamt für Verfassungsschutz stellt fest, dass nicht islamistische ausländerextremistische Organisationen überwiegend aus politischen, sozialen oder ethnischen Konflikten in den jeweiligen Heimatländern hervorgegangen sind. Das Hauptziel der in Deutschland vertretenen ausländerextremistischen Organisationen ist dabei die Unterstützung der jeweiligen „Mutterorganisationen“ in den Herkunftsländern. Der nicht islamistische Ausländerextremismus stellt hierbei kein ideologisch einheitliches Phänomen dar. So finden sich in diesem Phänomenbereich nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden vor allem türkische Organisationen, die ideologisch dem Rechts- oder Linksextremismus zuzuordnen sind.[8]

Rechtsextremistische Organisationen mit Bezug ins Ausland sind nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz stark nationalistisch geprägt und messen der eigenen Volksgruppe einen höheren Stellenwert zu als anderen Ethnien. Ihrer Ideologie liegt ein übersteigertes Nationalbewusstsein zugrunde und das Menschenbild solcher Gruppierungen ist stark von rassistischem Gedankengut beeinflusst.[9] Als bedeutsamsten Akteur hierbei bewertet das Bundesamt für Verfassungsschutz die rechtsextremistische türkische „Ülkücü“-Bewegung, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Türkei entstanden ist. Ziel der „Ülkücü“-Bewegung ist der „Schutz des Türkentums“ sowie die Errichtung von „Turan“, einem (fiktiven) ethnisch homogenen Staat unter Führung „der Türken“, der die Siedlungsgebiete der Turkvölker umfasst und – je nach Lesart – vom Balkan bis nach Westchina oder sogar bis Japan reicht.[10]

Für türkische Rechtsextremisten („Ülkücü“-Anhänger) stellt Antisemitismus nach Auffassung der deutschen Sicherheitsbehörden ein ideologisches Kernelement dar. So ist ihre Ideologie geprägt von einer Überhöhung des (unterschiedlich definierten) Türkentums bei gleichzeitiger Abwertung anderer Nationen, Ethnien und Religionen. Der Antisemitismus hat hierbei einen besonderen Stellenwert. Während andere Feindbilder historisch-territorial (z.B. bei den Armeniern) oder ideologisch („die USA“, Kapitalismus) hergeleitet werden, werden Juden sowohl wegen der behaupteten „biologischen Minderwertigkeit“ als auch wegen ihres vermeintlich „weltumspannenden verschwörerischen Einflusses“ von türkischen Rechtsextremisten angefeindet.[11] Das Bundesamt für Verfassungsschutz analysiert, dass der Antisemitismus der „Ülkücü“-Anhänger in bestimmten religiösen Interpretationen, Verschwörungstheorien und biologistisch hergeleiteten Minderwertigkeitszuschreibungen begründet ist. Mit Gründung des Staates Israel trat ein Antizionismus hinzu, der sich als einseitige Parteinahme für die Palästinenser manifestiert.

Bei linksextremistischen türkischen Ausländerextremisten kommt es anlassbezogenen zu israelkritischen Stellungnahmen, die jedoch nicht vorherrschend auf Religion und Ethnie abstellen, sondern auf den Territorialkonflikt mit den Palästinensern.[12]

Die „Volksfront für die Befreiung Palästinas“ (PFLP) bekennt sich seit ihrer Gründung im Jahre 1967 zu den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus und ist ideologisch von einem starken Nationalismus geprägt. Die PFLP verfolgt das Ziel des Aufbaus eines palästinensischen Staates in den Grenzen des historischen Palästina vor Gründung Israels mit Jerusalem als Hauptstadt. Dieses Ziel soll durch die „Beseitigung der zionistischen Besatzung“ realisiert werden, was bedeutet, dass die PFLP das Existenzrecht Israels bestreitet und offen den bewaffneten Kampf gegen Israel propagiert. Ihre antisemitische Agitation stufen die deutschen Verfassungsschutzbehörden aufgrund der Zielsetzung der PFLP und ihrer ideologischen Ausrichtung als stark antizionistisch geprägt ein.[13]

Die antisemitische BDS-Bewegung steht für „Boykott, Desinvestitionen & Sanktionen“ (Boycott, Divestment & Sanctions) und propagiert eine Kampagne, die aus totalem wirtschaftlichen Boykott, dem Rückzug von Investitionskapital und staatlichen politischen Sanktionen gegen Israel bestehen soll. Nach eigenen Angaben besteht die BDS-Bewegung aus einem Zusammenschluss von 171 hauptsächlich palästinensischen Organisationen (unter ihnen auch die terroristischen Organisationen Hamas und PFLP), die im Jahre 2005 gegründet wurde. Der Deutsche Bundestag hat am 17.5.2019 einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis90/Die Grünen mit dem Titel „BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen“ angenommen. Darin wird ausgeführt: „Die Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung sind antisemitisch.“[14]

3. Antisemitismus von Islamisten

Der Islamismus ist eine Form des politischen Extremismus, in dem die Existenz einer gottgewollten und daher „wahren“ und absoluten Ordnung postuliert wird, die über den von Menschen gemachten Ordnungen und Gesetzen steht. Der Islamismus basiert nach Angaben der Verfassungsschutzbehörden auf der Überzeugung, dass die Weltreligion des Islam nicht nur eine persönliche bzw. private Angelegenheit ist, sondern auch das gesellschaftliche Leben und die politische Ordnung bestimmen sollte. Dies steht im klaren Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Prinzipien der Volkssouveränität, der Trennung von Staat und Religion, der freien Meinungsäußerung und der allgemeinen Gleichberechtigung. Islamisten verfolgen das Ziel, die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland unter Berufung auf ihre Religion ganz oder teilweise abzuschaffen.[15]

In allen islamistischen Strömungen und Organisationen lassen sich antisemitische Ideologieelemente nachweisen, nur die Art und Weise, wie einzelne Gruppierungen damit in der Öffentlichkeit, auch im Internet, auftreten, variiert.

Im Islam wird über die Versuche des Propheten Mohammeds berichtet, drei jüdische Stämme zu seiner Glaubensauffassung zu bekehren. Als diese Bemühungen scheiterten, kam es zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die mit der militärischen Niederlage der Stämme endeten. Diese Ereignisse bilden den Hintergrund für die im Koran zu findenden judenkritischen Stellen. Zusammengefasst lautet die Anschuldigung, die Juden hätten den Bund mit Allah und den Muslimen gebrochen, indem sie Mohammed nicht als den von Gott auserwählten Propheten anerkannten. Daneben wird der Vorwurf erhoben, Juden würden bei den von ihnen getätigten Geldgeschäften betrügen. Diese Koranstellen, die bis in die Gegenwart hinein immer wieder aus ihrem historischen Zusammenhang gelöst und wortwörtlich verstanden wurden und werden, bilden nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz im Islam die Grundlage für eine Judenfeindschaft, die „einen integralen Bestandteil des religiösen Selbstverständnisses“ darstellt.[16]

Im dritten Reich pflegte der Mufti von Jerusalem, Mohammed Amin el-Husseini, enge Kontakte zu den deutschen Nationalsozialisten und hetzte in Radioansprachen offen gegen die Juden. Auch in der ägyptischen „Muslimbruderschaft“ fanden arabische Übersetzungen europäischer judenfeindlicher Schriften ab den 1930er Jahren weitere Verbreitung und großen Anklang. Im Jahr 1948 stellte die Gründung des Staates Israel und dessen militärischer Sieg über die verbündeten arabischen Staaten Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak im Unabhängigkeitskrieg eine Eskalation dar. Eine Erklärung der unerwarteten Niederlage gegen das kleine und vermeintlich schwache Land Israel schien lediglich durch das Konstrukt einer „jüdischen Weltverschwörung“, wie sie in der antisemitischen Schmähschrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“ dargestellt wird, möglich. Der von der ägyptischen Regierung forcierte Nachdruck einer arabischen Übersetzung dieser Schrift führte letztlich zu ihrer massenhaften Verbreitung im arabischen Sprachraum.[17] Das Bundesamt für Verfassungsschutz bezeichnet die 1950 vom ägyptischen Islamisten Sayyid Qutb verfasste Schrift „Unser Kampf mit den Juden“ als eine „ideologischen Meilenstein“ des islamistischen Antisemitismus. Der Ägypter Qutb galt bereits zu Lebzeiten als einer der wichtigsten Theoretiker der islamistischen „Muslimbruderschaft“. Er verband in dieser Schrift europäisch-antisemitische Stereotype, die Verschwörungstheorien der „Protokolle der Weisen von Zion“ und antijüdische Koranstellen zu einer gedanklichen Einheit und entwickelte so die ideologische Grundlage für einen islamistischen Antisemitismus. Durch die Adaption des europäischen Antisemitismus und dessen Anpassung an die religiösen, sozialen und kulturellen Eigenheiten der arabischen Welt schuf Qutb einen neuartigen – islamistischen – Antisemitismus. Dessen europäische Wurzeln sorgen nach Einschätzung der deutschen Verfassungsschutzbehörden bis heute dafür, dass der islamistische Antisemitismus anschlussfähig für Antisemiten aus verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen ist, hier nennt das Bundesamt für Verfassungsschutz rechtsextremistische Holocaustleugner und die Unterstützung der palästinensischen Hamas durch deutsche Linksextremisten.[18]

Der von Qutb zur Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte islamistische Antisemitismus ist ein prägendes Element aller islamistischen Organisationen weltweit, auch im 21. Jahrhundert. Dies hat zur Folge, dass sich in sämtlichen islamistischen Ideologieelementen die gleichen oder zumindest vergleichbare antisemitische Ausführungen über Juden finden. Der Kerngedanke ist dabei durchgängig die Behauptung, dass „Juden im Verborgenen nach der Weltherrschaft streben“ bzw. diese bereits „ausüben und somit die Weltpolitik und -wirtschaft kontrollieren“.[19] In diesem islamistisch-antisemitischen Stereotyp wollen die vermeintlichen „jüdischen Verschwörer“ angeblich den „Rest der Welt durch absichtlich verursachte Wirtschaftskrisen sowie durch eine künstliche Verknappung der Geldmittel von sich abhängig machen“. Diese Behauptung greift das seit dem Mittelalter bestehende Bild des „gierigen Juden“ auf und überträgt es in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts.[20]

Das „Schüren von Kriegen und Konflikten durch Juden“ ist ein weiteres islamistisch-antisemitisches Stereotyp. Den „Protokollen der Weisen von Zion“ zufolge „zetteln jüdische Verschwörer weltweit Kriege und Konflikte an, um Völker und Nationen gegeneinander auszuspielen und zu zermürben“. Dieser Vorwurf wird beispielsweise in der Charta der palästinensischen Hamas aufgegriffen, die „den Juden“ unterstellt, sowohl den Ersten als auch den Zweiten Weltkrieg ausgelöst zu haben. Das (erfolgreich umgesetzte) Ziel der Juden sei es gewesen, sich an „diesen Kriegen zu bereichern“ und damit die finanzielle Grundlage für ihre „Weltherrschaft“ zu legen.[21]

Das nächste islamistisch-antisemitische Stereotyp ist das „jüdische Handeln mit Hilfe von Geheimagenten und Geheimorganisationen“. Teil des in den „Protokollen der Weisen von Zion“ behaupteten „jüdischen Weltherrschaftsstrebens“ sei es, durch „Geheimorganisationen und Geheimagenten gesellschaftliche Konflikte und Spannungen“ herbeizuführen. Auch dieser Vorwurf wurde und wird von zahlreichen islamistischen Organisationen aufgegriffen. Die Unterstellung: „Die Juden“ würden als Drahtzieher hinter verschiedensten Vereinigungen und Bewegungen stehen, angefangen von den USA über die UN und den Liberalismus bis hin zu den Freimaurern.

Das islamistische Narrativ des „ewigen Kampfes zwischen Muslimen und Juden“ wird weltweit stark vom islamistischen und jihadistischen Milieu aufgegriffen. In dieser Dichotomie werden Juden von Salafisten als „Anführer der Ungläubigen“ dargestellt. Das Ziel „der Juden“ sei es, den Islam systematisch zu bekämpfen und zu zerstören.[22]

Abschließend führt das Bundesamt für Verfassungsschutz aus, dass es allen islamistischen Organisationen gemein ist, dass sie kaum bis gar nicht zwischen dem Staat Israel und dem jüdischen Volk unterscheiden, weder sprachlich noch inhaltlich. So werden oftmals jahrhundertealte antisemitische Stereotype auf den aktuellen Staat Israel übertragen. Ein besonders weit verbreitetes Beispiel ist die sogenannte Ritualmordlegende, die ihren Ursprung im christlichen Mittelalter hat. Den Juden wurde hierbei unterstellt, zur Vorbereitung ihres Pessach-Festes11 ungesäuertes Brot (Mazzen) mit dem Blut christlicher Kinder zu backen. Das Motiv des „Kinder schlachtenden Juden“ rückte vor allem nach dem Gazakrieg im Jahr 2014 in den Mittelpunkt antiisraelischer Agitation.[23]

Islamistische Organisationen und Akteure von Antisemitismus in Deutschland sind nach Angaben der deutschen Sicherheitsbehörden u.a. die „Muslimbruderschaft“ (MB), die Hamas, die Hizbullah, die „Hizb ut-Tahrir“, die „Millî Görüş“-Bewegung, das salafistische Milieu sowie Jihadisten.

4. Antisemitismus von Linksextremisten

Die deutschen Verfassungsschutzbehörden konstatieren, dass der Antisemitismus weder ein Wesensmerkmal des Linksextremismus noch ein elementarer Bestandteil seiner Ideologie ist. Dies schließt nach Angaben des BfV jedoch individuelle antisemitische Einstellungen und Rückgriffe auf antisemitische Stereotype bei Linksextremisten nicht aus. Im deutschen Linksextremismus gibt es nach Auffassung des BfV eine „antisemitische Tradition“, ausgehend von den Frühsozialisten und der Arbeiterbewegung bis hin zu von Linksextremisten verübten Anschlägen gegen jüdische Einrichtungen Ende der 1960er Jahre und einer antiisraelischen Haltung von Angehörigen der ersten RAF-Generation. Dieser Antisemitismus war u.a. antikapitalistisch motiviert und basierte historisch auf einer Gleichsetzung von „Juden“ und „Kapital“. Das BfV analysiert, dass deutsche Linksextremisten aktuell in der Regel nicht dezidiert antisemitische, sondern antiisraelische Positionen vertreten, dabei wird „Israelkritik“ zudem mit Kapitalismuskritik verbunden.[24]

Die antiisraelische Haltung wird vor allem von einem Teil der deutschen Linksextremisten, den sogenannten Antiimperialisten, vertreten. Antiimperialistische Gruppierungen, so z.B. der „Rote Aufbau Hamburg“, sind mit Schwerpunkt im norddeutschen Raum also z.B. in Hamburg, aber auch in Bremen und Berlin vertreten. Antiimperialisten verurteilen Israel als „verlängerten Arm“ der „imperialistischen“ USA, insbesondere in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Im Zusammenhang mit israelischen Aktionen gegen die Palästinenser werden auch antisemitische Stereotype – u.a. die Begriffe „Apartheitsregime“, „Holocaust“, „Pogrom“, „Vernichtungskrieg“ und „Völkermord“ – verwendet. Insofern setzen Antiimperialisten die Politik Israels mit den Verbrechen des Nationalsozialismus gleich. Vor diesem Hintergrund wird auch das Existenzrecht Israels negiert.[25]

Daneben finden sich im Rahmen linksextremistischer Kapitalismuskritik auch antisemitische Versatzstücke. In einer verkürzten Kapitalismuskritik, wie sie vor allem unter marxistischen-leninistischen Bestrebungen zu finden ist, werden die Auswirkungen und Missstände des wirtschaftlichen Systems personalisiert und einer konkreten Gruppe angelastet. Die dabei bemühte Unterscheidung zwischen Finanz- und Realkapital erinnert nach Auffassung des BfV deshalb nicht zufällig an jene vom „raffenden“ und „schaffenden Kapital“ im Nationalsozialismus.[26]

Der sich ideologisch anschließende Antiimperialismus führt in der Analyse der Verfassungsschutzbehörden oftmals zu einer „Kritik“ an Israel, die in ihrer Einseitigkeit und Intensität als antisemitisch gewertet werden kann. Je dogmatischer eine Gruppe ihren Antiimperialismus vertritt, desto eher überschreitet sie die Linie zum Antisemitismus.[27]

5. Antisemitismus von Rechtsextremisten

Antisemitismus ist ein zentrales Ideologieelement des Rechtsextremismus und in allen seinen Äußerungsformen virulent, seien sie publizistisch, parlamentarisch oder auch aktionistisch orientiert. Der rechtsextremistische Antisemitismus zielt auf die Diffamierung und Diskriminierung einer behaupteten Gesamtheit „der Juden“ ab. Antisemitismus gehört zu den ideologischen Grundüberzeugungen des Rechtsextremismus und ist in quasi allen rechtsextremistischen Organisationen präsent.[28] Nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz baut der rechtsextremistische Antisemitismus insbesondere auf dem rassistischen Weltbild des Nationalsozialismus auf, der das Judentum als „nichtdeutsche, fremde Rasse“ definierte und diesen „Feind der eigenen Rasse“ „ausmerzen“ wollte. Nicht zuletzt aufgrund der strafrechtlichen Konsequenzen meiden Rechtsextremisten mittlerweile in ihrer Propaganda offenen, rassistisch motivierten Antisemitismus. Vielmehr weichen sie auf einen angedeuteten Antisemitismus aus, insbesondere durch die Behauptung eines übermäßigen politischen Einflusses von Juden (politischer Antisemitismus). Auch religiös begründeter Antisemitismus ist gelegentlich zu beobachten. Im Rechtsextremismus finden sich sowohl religiöse als auch kulturelle oder rassistische Begründungsmuster für Antisemitismus. Häufig korrespondieren diese mit verschwörungstheoretischen Ansätzen. Beide zeugen von ideologischer Nähe zum historischen Nationalsozialismus und treten meist in Verbindung mit revisionistischen Positionen auf.[29] Daneben nutzen Rechtsextremisten die im politischen und gesellschaftlichen Alltag geäußerte Kritik an der Politik Israels, um die Existenzberechtigung des Staates Israel infrage zu stellen. Die grundsätzliche Ablehnung Israels basiert auf der prinzipiellen Ablehnung des Judentums. Gleichsetzungen der israelischen Politik mit den Verbrechen an Juden im Nationalsozialismus sind ebenfalls ein gängiges Muster des antizionistischen Antisemitismus.[30]

Im Rahmen des sekundären Antisemitismus werfen Rechtsextremisten „den Juden“ vor, sie benutzten die Verantwortung Deutschlands für den Holocaust als Mittel der Erpressung, um finanzielle und politische Forderungen durchzusetzen. Antisemitischen Verschwörungstheorien zufolge wird Deutschland im Rahmen einer planvollen Konspiration instrumentalisiert, um den „jüdischen Einfluss“ zu vergrößern oder das Ziel der jüdischen Weltherrschaft zu erreichen. Häufig wird ein „jüdischer Einfluss“ auf politische Entscheidungen der Regierungsverantwortlichen behauptet.

Nach der Auffassung der deutschen Verfassungsschutzbehörden sind in nahezu allen Teilbereichen des Rechtsextremismus in Deutschland antisemitische Einstellungs- und Agitationsmuster in unterschiedlicher Intensität und Ausprägung feststellbar. Weil in Politik, Medien und Mehrheitsgesellschaft ein klarer Konsens gegen Antisemitismus vorherrscht, stehen antisemitische Agitationsmuster oftmals nicht im Mittelpunkt rechtsextremistischer Agitation, sondern fließen in Nebensätze oder Randbemerkungen ein.[31]

Der religiös motivierte Antisemitismus wird in der deutschen rechtsextremistischen Szene nach Auffassung der deutschen Verfassungsschutzbehörden nur noch sehr selten propagiert und ist eher als unterschwelliges, aber wirkmächtiges Stereotyp verbreitet. Daneben hat der rassistische Antisemitismus, der einen angeblich genetisch bedingten Minderwert von Juden gegenüber der durchweg positiv beschriebenen „arischen“, „weißen“ oder „nordischen Rasse“ behauptet, gemäß dem Bundesamt für Verfassungsschutz in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Er artikuliert sich vor allem in Teilen des neonazistischen und subkulturell geprägten Rechtsextremismus. In der Außendarstellung spielen der religiös motivierte und der rassistische Antisemitismus eine immer geringere Rolle.

Vor allem Rechtsextremisten, die versuchen, stärker in die Mehrheitsgesellschaft zu wirken, bedienen sich anderer Varianten der antisemitischen Agitation, von der sie sich eine Anschlussfähigkeit in der Mehrheitsgesellschaft erhoffen.[32]

Von einer unverhohlenen Leugnung des Holocaust haben die meisten deutschen Rechtsextremisten nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz aufgrund der Gesetzeslage Abstand genommen. Aber sie stilisieren unter dem Deckmantel des vermeintlichen Kampfes um Meinungsfreiheit und für die Abschaffung des § 130 StGB inhaftierte Holocaust-Leugner zu „politischen Gefangenen“. Vor allem zugunsten der Holocaust-Leugnerin und Geschichtsrevisionistin Ursula Haverbeck-Wetzel wurden mehrfach szeneübergreifend Solidaritätsdemonstrationen veranstaltet. Anlässlich ihres 90. Geburtstages versammelten sich unter dem Motto: „Mit 90 Jahren in Gesinnungshaft: Freiheit für Ursula Haverbeck!“ im November 2018 über 400 Rechtsextremisten in Bielefeld und skandierten u.a.: „Nie wieder Israel“ und: „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“.[33]

Einen breiten Raum innerhalb der rechtsextremistischen Szene nimmt im Augenblick der antizionistische Antisemitismus ein. Er negiert das Existenzrecht Israels und diffamiert Israel, indem er dem Land einen „Vernichtungskrieg“ und eine Politik der „Ausrottung“ gegenüber den Palästinensern vorwirft. Dadurch wird der Staat Israel zu einer Projektionsfläche für antisemitische Ressentiments. Verbunden ist damit eine starke Zunahme antisemitischer Äußerungen in den sozialen Medien, Blogs und Online-Kommentaren zu verzeichnen. Dabei werden häufig antisemitische Stereotype verwendet sowie Judenhass in vermeintliche „Israelkritik“ gekleidet. Die vordergründige Anonymität des Internets verleitet zahlreiche Antisemiten zur offenen Artikulation ihres Judenhasses.[34]

Antisemitismus ist unverändert ein wichtiges Ideologieelement der gewaltorientierten rechtsextremistischen Szene. Eine latente bis offene antisemitische Einstellung ist für weite Teile der Szene prägend. Dabei finden alle antisemitischen Argumentationsmuster Anwendung. Die am 23.6.2020 vom Bundesminister des Innern verbotene Gruppierung „Nordadler“ hatte die Anwendung von Gewalt gegen politische Gegner befürwortet und sich ausführlich mit Gewalt- und Machtergreifungsfantasien befasst. Ihrem Bekenntnis zum historischen Nationalsozialismus entsprechend, vertrat die Gruppierung einen nationalsozialistisch begründeten Antisemitismus.[35]

Die „Atomwaffen Division“ ist eine aus den USA stammende Gruppierung, die den „totalen Bürgerkrieg“ zum „Erhalt der weißen Rasse“ propagiert und terroristische Akte ausdrücklich befürwortet. In Deutschland verbreitet sie gewaltverherrlichende Flyer an mehreren Orten und Propagandavideos im Internet im Namen einer „Atomwaffendivision Deutschland“. Die US- „Atomwaffen Division“ vertritt explizit einen nationalsozialistisch begründeten politischen Antisemitismus, der sich auch in dem im Namen der „AWD Deutschland“ veröffentlichten Propagandamaterial widerspiegelt. Juden seien demnach „die Ursache allen Übels“ in der Welt. Neben anderen Feindbildern, wie beispielsweise Muslimen, sind nach Auffassung der AWD die Juden für sie der eigentliche Feind hinter diesen anderen Feinden.[36]

Rechtsextremistische Musik spielt eine wichtige Funktion für die Verbreitung von Antisemitismus im Rechtsextremismus in Deutschland und international. Die Bandbreite in der rechtsextremistischen Musik reicht hierbei von „Vernichtungsfantasien bis hin zu subtileren Formen des Antisemitismus“. Unverhohlener Judenhass und vor allem die Androhung und Aufrufe zu Gewalt und Mord finden meistens in Texten von sogenannten Untergrund-Produktionen statt. Diese werden oft von Musikern unbekannter Identität eingespielt oder von Musikern, die sich ausschließlich für einen einzigen Tonträger oder nur für ein zeitlich begrenztes Musikprojekt zusammenschließen. In rechtsextremistischen Liedtexten werden Juden in typisch nationalsozialistischer Diktion als „Untermenschen“ und „Volksschädlinge“ herabgesetzt und als „Parasiten“ entmenschlicht, ihr Tod herbeigesehnt und ihnen Daseins- und Lebensrecht prinzipiell abgesprochen. Antisemitismus wird offen als etwas Positives bewertet und verschiedene Mordmethoden imaginiert: erschießen, vergasen, verbrennen.[37]

In der Einschätzung der Verfassungsschutzbehörden besitzt der Antisemitismus als ideologisches Identifikationsmerkmal und Agitationsfeld für die rechtsextremistischen Parteien einen hohen Stellenwert. So sind antisemitische Positionen und Feindbilder tief in der Gedankenwelt der Parteimitglieder und -aktivisten verwurzelt. Antisemitische Positionen sind in der Ideologie der NPD tief verfestigt und sind oftmals mit der positiven Bezugnahme auf den historischen Nationalsozialismus und geschichtsrevisionistischen Standpunkten verbunden. Das Bundesamt für Verfassungsschutz analysiert, dass sich Judenfeindlichkeit –vordergründig verborgen – bei rechtsextremistischen Parteien in Deutschland in der Nutzung antisemitischer Chiffren und vermeintlicher Israel-Kritik ausdrückt. Regelmäßig werden durch NPD-Vertreter Verschwörungstheorien im Sinne eines politischen Antisemitismus bedient, indem eine jüdische Verschwörung mit dem Ziel der Vergrößerung „des jüdischen Einflusses“ unterstellt wird.[38] Das Bundesamt für Verfassungsschutz verweist in seinem Lagebild Antisemitismus auf einen Facebook-Eintrag des rheinland-pfälzischen NPD-Landesvorsitzenden aus dem Dezember 2018: „Wenn es eine zionistische Regierung schafft, daß sich die weiße Bevölkerung gegenseitig abschlachtet, weißt Du daß der EWIGE Antimensch die Strippen zieht! #NiewiederIsrael.“[39]

Die rechtsextremistische Partei „DIE RECHTE“ propagiert in ihrem Auftreten, ihren Aussagen und Aktivitäten ein rechtsextremistisches Weltbild, das mit geschichtsrevisionistischen Thesen und antisemitischen Positionen einhergeht. Die antisemitische Haltung dieser rechtsextremistischen Partei zeigt sich nicht zuletzt an aktuellen Wahlplakaten. So nahm der Slogan „Israel ist unser Unglück“ die aus dem 19. Jahrhundert stammende und seit 1927 auf jeder Titelseite des antisemitischen NS-Hetzblatts „Der Stürmer“ abgedruckte Losung „Die Juden sind unser Unglück“ auf. Auch der Twitter-Post des Bundesvorsitzenden Sascha Krolzig vom 18.5.2019 mit der Aussage, die Partei „DIE RECHTE“ sei „die einzige konsequent anti-israelische Partei auf dem Stimmzettel“, offenbart diese Grundhaltung.[40]

Die rechtsextremistische Partei „Der III. Weg“ bezeichnete Israel auf ihrer Partei-Homepage als „Terrorstaat“ und ruft unter dem Motto „Was jeder gegen den zionistischen Völkermord tun kann“ offen zum Boykott von Produkten aus Israel, dem „zionistischen Geschwür im Nahen Osten“, dem „zionistischen Raubstaat“, auf. Dies helfe dabei, „den Völkermord in Palästina [zu] bekämpfen“.[41]

Das Bundesamt für Verfassungsschutz führt aus, dass von Funktionären und Anhängern des als Prüffall Rechtsextremismus eingestuften und mittlerweile aufgelösten AfD-Personenzusammenschlusses „Der Flügel“ „Versatzstücke eines sekundären Antisemitismus vertreten werden“.[42] Die meisten solcher antisemitischer Verlautbarungen werden über kurze Beiträge in den Sozialen Medien verbreitet. Björn Höcke, Vorsitzender der AfD Thüringen und ihrer Landtagsfraktion sowie prominentester „Flügel“-Repräsentant, bemühte in seinen eigenen Schriften und Reden nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz Motive des sekundären Antisemitismus.[43]

Das Bundesamt für Verfassungsschutz analysiert aktuell, dass Rechtsextremisten verstärkt das Internet nutzen, um antisemitische Ideologieelemente zu verbreiten. Durch die anonyme und multilaterale Kommunikation ist so eine neue Form der antisemitischen Propaganda entstanden. Die virtuellen Kommunikationsmöglichkeiten – vor allem durch Soziale Medien, Foren, Teil- und Unterforen – verschmelzen zu einer virtuellen „Echokammer“. Innerhalb dieser führt die positive Bezugnahme Anderer auf die eigenen Positionen zur Bestätigung der bereits vorgefassten Meinung und zum Ausblenden abweichender Argumente, so auch zu Antisemitismus.[44] Als aktuelles Beispiel für eine antisemitische Agitation im Internet nennt das BfV das Video-Weblog (V-Log) des selbsternannten „Volkslehrers“. Die Videos des YouTube-Kanals „Der Volkslehrer“ wurden insgesamt mehrere Millionen Mal aufgerufen. Der „Volkslehrer“ verbreitet auf seinem Kanal verschwörungstheoretische und antisemitische Positionen und bemüht das im Rechtsextremismus bekannte Narrativ einer vermeintlichen „jüdischen“ Clique, die „im Verborgenen und allein zu ihrem Vorteil die Geschicke der Welt“ lenke und dabei souveräne Völker unterdrücke und gegeneinander ausspiele.[45] Hinter dem YouTube-Kanal „Der Volkslehrer“ steckt Nikolai Nerling. Dieser unterrichtete von 2009 bis 2018 an einer Grundschule in Berlin-Gesundbrunnen, bis er im Jahr 2018 aus dem Schuldienst entlassen wurde. Mehrfach sperrte YouTube seinen Kanal „Der Volkslehrer“, weswegen Nerling nach Alternativen suchte. So richtete er die Domain https://volkslehrer.info ein und stellte seine Videos zudem auch auf der Plattform BitChute ein.[46]

Quasi jede neue Internet-Plattform wurde in den vergangenen 30 Jahren auch von rechtsextremistischen Antisemiten genutzt. Häufig kam es dabei zu Abwanderungsbewegungen der antisemitischen Rechtsextremisten, z.B., weil die Plattformanbieter strengere Moderationsregeln einführten, um menschenfeindliche Inhalte einzuschränken oder zu entfernen. Dennoch werden Plattformen des gesellschaftlichen Mainstreams immer wieder verwendet, um in der Mitte der Gesellschaft Anknüpfungspunkte für die Verbreitung antisemitischer Inhalte zu finden. Das gilt aktuell für Plattformen wie Facebook oder YouTube und galt ebenso für die Anfang des 21. Jahrhunderts in Deutschland populären Plattformen StudiVZ und Myspace.[47]

Ein Beispiel für eine offen antisemitisch agierende Gruppierung bei vk.com ist nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz die „Goyim Partei Deutschlands“(GPD). Der Begriff „Goyim“ leitet sich von „Goi“ ab, eine jüdische Bezeichnung für Nichtjude. Das Selbstverständnis als „Partei“ deutet darauf hin, dass es sich um einen Zusammenschluss von Nichtjuden handelt, der das Ziel anstrebt, gemeinsam gegen Juden vorzugehen. Auf der vk.com-Seite der GPD wird massiv antisemitische Hetze betrieben. Insgesamt bieten die zahlreichen einsehbaren Fotos, Videos und Postings Anhaltspunkte für Verstöße gegen die §§ 86a StGB (Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen), 111 StGB (Öffentliche Aufforderung zu Straftaten) und 130 StGB (Volksverhetzung).[48] Allein am 21.4.2019 wurden vom Account der GPD mehrere Bilder mit antisemitischen Sprüchen gepostet: „Wer den Weltfrieden will, muß die Juden ausrotten!“, „Religionsfreiheit abschaffen! Das Judentum ist eine verfassungsfeindliche und terroristische Vereinigung!“, „Wir fordern Reparationszahlungen für die 60 Millionen getöteten Gojim des 2. Weltkriegs!“, „Deutsche wehrt euch! Rottet die Juden aus!“, „Das Vierte Reich 100% JUDENFREI!“, „JUDENTOD LÖST WELTENNOT!“[49].

Die deutschen Verfassungsschutzbehörden betonen, welche enorme Rolle virtuelle Kommunikationsräume für Radikalisierungsverläufe und die Verbreitung rechtsextremistischer Narrative spielen können und verweisen auf verschiedene rechtsterroristische Anschläge in den USA, in Christchurch sowie in Halle (Stephan Balliet). Balliet ließ sich in seinen Vernehmungen umfangreich zu den Taten und seinem rechtsextremistisch-antisemitischen Tatmotiv ein. Er habe sich gegen „die Juden, die eine Weltregierung“ anstrebten, „wehren wollen“. Der „Weltherrschaftsanspruch der Juden“ drücke sich in u.a. der Kontrolle der US-Notenbank und dem Ziel des „Großen Austausches“ aus, der den Plan verfolge, die „weiße Mehrheitsbevölkerung“ durch nicht-weiße bzw. muslimische Einwanderer zu ersetzen. Dazu diene z.B. die von „Juden gesteuerte Masseneinwanderung von Migranten nach Deutschland“. Zudem leugnete der Attentäter Balliet den Holocaust.[50] Balliet lud wenige Minuten vor der Anschlag verschiedene Schriftstücke auf dem Imageboard Meguca (meguca.org/meadhall/) hoch. Der Titel des ersten Dokuments lautete nach Angaben des BfV „Dedomesticate yourself and KILL ALL JEWS“. Das zweite Dokument „A short pre-action report“ enthielt u.a. Waffenbeschreibungen sowie einen Abschnitt, in dem seine Ziele, „The Objectives“, definiert wurden.[51]

6. Antisemitismus von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“

Der extremistische Phänomenbereich „Reichsbürger und Selbstverwalter“ ist durch seine staatsfeindlichen Einstellungen und Verschwörungstheorien geprägt. Letztere bedingen auch eine Anschlussfähigkeit an antisemitische Erklärungsmuster. Bei „Reichsbürgern und Selbstverwaltern“ finden sich daher immer wieder antisemitische Einstellungen und Äußerungen. Die Bandbreite reicht von Schuldzuweisungen Einzelner, die „die Juden“ für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich machen, über offen antisemitische Verschwörungstheorien, wonach beispielsweise der Erste Weltkrieg von „den Juden“ geplant worden sei, bis hin zur Leugnung des Holocaust. Antisemitismus bildet aber nach Einschätzung der Verfassungsschutzbehörden in der Regel kein tragendes Ideologieelement und keinen Agitationsschwerpunkt dieser extremistischen Szene.[52]

In kleineren Teilbereichen, in denen sich das Spektrum der „Reichsbürger und Selbstverwalter“ mit der rechtsextremistischen Holocaustleugner-Szene überschneidet, tritt der Antisemitismus deutlich hervor. Die „Reichsbürger und Selbstverwalter“-Gruppierung „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ die am 19.3.2020 vom Bundesminister des Innern verboten wurde, äußerte sich in ihren Verlautbarungen nicht nur offen antisemitisch, sondern forderte ausdrücklich eine tiefgreifende Diskriminierung und Entrechtung von Juden. Die Vorstellung einer jüdischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft ist in einer Reihe verschiedener Veröffentlichungen der Gruppierung präsent. So bezeichneten Mitglieder der Organisation „Geeinte deutsche Völker und Stämme“ Juden als „dunkle Rasse, die der hellen den Kampf angesagt hat“ oder„Andersweltler“, die „(…) in ihren Grundfesten und Glaubenssätzen daran gebunden sind ohne die Achtung der Schöpfung die Weltherrschaft zu erringen und dazu kreative Geschichten erfinden, um den Menschen wiederholt glaubhaft zu machen versuchten, dass sie ein verfolgtes Volk sind (…).“ Als Sühne für ihre angebliche „Unbelehrbarkeit“ soll es Juden nach Vorstellung derGdVuSt untersagt werden, Eigentum an Grund und Boden zu erwerben und ihren Glauben auszuüben; teils wird ihnen gar das Wahlrecht abgesprochen.[53]

Hauptthemenfeld der „Reichsbürger und Selbstverwalter“ bleibt die Leugnung der Legitimität und Souveränität der Bundesrepublik Deutschland sowie die Ablehnung des Grundgesetzes und der bestehenden Rechtsordnung, mit der nicht unbedingt ein primärer, aber doch sekundärer Antisemitismus einhergehen kann. Gerade im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien – vor allem wenn es um angebliche Hintergründe der sogenannten etablierten Politik geht – werden antisemitische Einstellungen sichtbar. Dabei spielen sowohl der soziale als auch der politische Antisemitismus eine Rolle.[54]

7. Fazit

Antisemitismus in Deutschland bedroht die Freiheitliche demokratische Grundordnung und muss effektiv und gesamtgesellschaftlich bekämpft werden. Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte Mitte Mai 2021 es müsse „empfindliche und schnelle Folgen haben, wenn sich jemand antisemitisch betätigt. Die Staatsanwaltschaft und die Polizei müssen in die Lage versetzt werden, Antisemitismus schnell und besser zu erkennen und zu ahnden.“ Zudem brauche man einen „europäischen Standard“ für die Identifizierung und Bestrafung von Antisemitismus. Klein kündigte eine nationale Strategie für den Kampf gegen Antisemitismus an. Sie setze auf Repression und Prävention und müsse von der kommenden Bundesregierung umgesetzt werden.[55]

Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) forderte, die Sicherheitsbehörden müssten die antisemitische Szene genauer ins Visier nehmen. Der BDK-Vorsitzende Sebastian Fiedler sagte dazu: „Entscheidend ist: Die deutschen Sicherheitsbehörden müssen ein noch genaueres Bild vom Gefahrenpotenzial gewaltbereiter antisemitischer Gruppen bekommen.“ Sichtbar sei derzeit eine Mobilisierung der propalästinensischen und antiisraelischen Gruppen. „Da hilft nur eine Stärkung der Nachrichtendienste und eine Ad-hoc-Schwerpunktsetzung beim Polizeilichen Staatsschutz“, mahnte Fiedler.[56]

Berlins Innensenator Andreas Geisel erwartet nach den israel- und judenfeindlichen Ausschreitungen am Wochenende des 15.5.2021 in Berlin ein hartes Durchgreifen der Justiz. „Antisemitismus hat auf unseren Straßen nichts zu suchen. Ich gehe davon aus, dass der Rechtsstaat jetzt auch Zähne zeigt“. „Wir können ja nicht nur darüber reden, sondern wir müssen jetzt auch deutlich machen, dass wir das ernst meinen“, betonte Geisel.[57]


[1] Prof. Dr. Stefan Goertz, Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei, Lübeck. Professur Sicherheitspolitik, aktuelle Forschungsschwerpunkte: Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus, Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus, Linksextremismus, Radikalisierungsforschung, Sicherheitspolitik.

[2] Vgl. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-demos-klein-judenstern-kopien-100.html (20.5.2021).

[3] Vgl. ebd.

[4] Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/eine-hoechst-dynamische-situation-verfassungsschutz-befuerchtet-folgen-durch-verschwoerungstheoretiker-fuer-superwahljahr-2021/26707722.html (21.5.2021).

[5] Vgl. ebd.

[6] https://www.welt.de/politik/deutschland/article231179597/Antisemitismus-bei-Anti-Israel-Demos-Es-muss-sich-auch-in-den-Koepfen-etwas-veraendern.html (21.5.2021).

[7] https://www.bmi.bund.de/DE/service/lexikon/functions/bmi-lexikon.html?cms_lv3=9397740&cms_lv2=9391092 (21.5.2021).

[8] https://www.verfassungsschutz.de/DE/themen/auslaenderextremismus-ohne-islamismus/auslaenderextremismus-ohne-islamismus_node.html (22.5.2021).

[9] https://www.verfassungsschutz.de/DE/themen/auslaenderextremismus-ohne-islamismus/begriff-und-erscheinungsformen/begriff-und-erscheinungsformen_artikel.html (22.5.2021).

[10] Ebd.

[11] Bundesamt für Verfassungsschutz (2020): Lagebild Antisemitismus. Köln, S. 75.

[12] Ebd.

[13] Ebd., S. 76.

[14] Ebd., S. 77.

[15] https://www.verfassungsschutz.de/DE/themen/islamismus-und-islamistischer-terrorismus/begriff-und-erscheinungsformen/begriff-und-erscheinungsformen_artikel.html#doc714104bodyText5 (23.5.2021).

[16] Bundesamt für Verfassungsschutz (2019): Antisemitismus im Islamismus. Köln, S. 16.

[17] Ebd., S. 17-18.

[18] Ebd., S. 19-20.

[19] Bundesamt für Verfassungsschutz (2019): Antisemitismus im Islamismus. Köln, S. 20.

[20] Ebd.

[21] Ebd., S. 21.

[22] Ebd., S. 22.

[23] Ebd., S. 25.

[24] Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (2020): Lagebild Antisemitismus. Köln, S. 80.

[25] Vgl. ebd., S. 81.

[26] Vgl. ebd., S. 83.

[27] Vgl. ebd., S. 84.

[28] Vgl. https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/261322/der-antisemitismus-im-heutigen-rechtsextremismus#fr-footnode1 (23.5.2021).

[29] Vgl. ebd.

[30] Vgl. Goertz, Stefan (2021): Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus in Deutschland. Eine analytische Einführung für Polizei und Sicherheitsbehörden. Hilden, S. 94.

[31] Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2019): Verfassungsschutzbericht 2018. Berlin, S. 73; Goertz 2021, S. 94.

[32] Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2019): Verfassungsschutzbericht 2018. Berlin, S. 74; Goertz 2021, S. 95.

[33] Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (2019): Verfassungsschutzbericht 2018. Berlin, S. 75; Goertz 2021, S. 95-96.

[34] Vgl. ebd.

[35] Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (2020): Lagebild Antisemitismus. Köln, S. 19.

[36] Vgl. ebd. S. 20.

[37] Vgl. ebd., S. 20-21.

[38] Bundesamt für Verfassungsschutz (2020): Lagebild Antisemitismus. Köln, S. 24.

[39] Zitiert nach ebd., S. 24.

[40] Vgl. ebd., S. 26.

[41] Zitiert nach ebd., S. 27.

[42] Ebd., S. 28.

[43] Ebd.

[44] Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (2020): Lagebild Antisemitismus. Köln, S. 36.

[45] Vgl. ebd., S. 37.

[46] Vgl. ebd.

[47] Vgl. Goertz 2021, S. 98.

[48] Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (2020): Lagebild Antisemitismus. Köln, S. 41–42.

[49] Zit. nach: Ebd.

[50] Vgl. ebd., S. 46-47.

[51] Vgl. ebd.

[52] Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (2020): Lagebild Antisemitismus. Köln, S. 52.

[53] Vgl. ebd., S. 53.

[54] Vgl. ebd., S. 57.

[55] Vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article231179597/Antisemitismus-bei-Anti-Israel-Demos-Es-muss-sich-auch-in-den-Koepfen-etwas-veraendern.html (26.5.2021).

[56] Vgl. ebd.

[57] Vgl. ebd.