Cold Case-Erfahrungen aus Sicht der Staatsanwaltschaft

Dr. Annette Marquardt, Kapitaldezernentin, Staatsanwaltschaft Verden

Was sind Cold Cases?

Bislang existiert keine einheitliche Definition für Cold Cases. Die Staatsanwaltschaft Verden arbeitet auf der Grundlange der eigenen Erfahrungen in der Cold Case Analyse mit folgender eigener Definition:

Dem Ermittlungsverfahren liegt ein (versuchtes) Tötungsdelikte oder aber ein Vermisstenfall, bei dem nach kriminalistischer Erfahrung die Möglichkeit eines Kapitaldelikts besteht, zugrunde, das bislang nicht vollständig geklärt werden konnte in der Form, dass alle Täter/ Teilnehmer rechtskräftig verurteilt worden sind bzw. in dem nicht der einzige im dringenden Tatverdacht stehende Tatverdächtige vor rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens verstorben ist und an seiner Täterschaft keine vernünftigen Zweifel bestehen, und das keine weiteren Ermittlungsansätze bietet, weshalb die Staatsanwaltschaft das Verfahren gem. § 170 Abs. 2 StPO eingestellt hat bzw. in dem Vermisstenfall keine weiteren Ermittlungen mehr betrieben werden.

Dabei ist zu bedenken, dass die Vermisstenfälle nicht zwingend der Staatsanwaltschaft vorgelegt werden.

Beispiel:

Die 15jährige V kehrt im Dezember 1969 nach einer Feier nicht nach Hause zurück. Die Personen, bei denen sie sich zuletzt aufgehalten hat, werden Wochen später vernommen, trotz auftretender Widersprüche ohne Vorhalte. Fragen werden nicht protokolliert. Es werden –zumindest nach Aktenlage- nur wenige Ermittlungen geführt, die Akten nicht der Staatsanwaltschaft vorgelegt. Über 40 Jahre später erhält die Staatsanwaltschaft ein Schreiben eines Hinweisgebers, woraufhin die Staatsanwaltschaft die Polizei bittet zu prüfen, ob dort ein entsprechendes Ermittlungsverfahren bekannt ist, und dann die Akten erhält und schließlich ein Ermittlungsverfahren wegen Mordes einleitet.

Das Problem der Cold Cases und warum die Fälle nicht selten immer kälter werden

Sowohl Staatsanwaltschaften als auch Polizeidienststellen sind häufig mit aktuellen Fällen bereits derart belastet, dass kaum oder nur wenig Kapazitäten für Cold Cases verbleiben. Häufig bedarf es viel Zeit und Muße, sich in die alten Akten einzulesen, alle Informationen aus den Akten aufzunehmen und ein Spurencontrolling durchzuführen, ggfs. auch ergänzende Ermittlungen durchzuführen. Dasselbe gilt für die OFA-Dienststellen und auch die Spezialdienststellen wie Cold Case Units verfügen nur über begrenzte Kapazitäten.

In den meisten Cold Cases bedarf es darüber hinaus erheblicher „Vorarbeiten“, nämlich der Klärung, ob die Akten vollständig sind bzw. die Akten der Staatsanwaltschaft und der Polizei identisch sind (was sehr häufig nicht der Fall ist) oder ob noch Asservate vorhanden sind. Oftmals nimmt die Suche nach Aktenteilen/ Spuren/ Asservaten erhebliche Zeit in Anspruch. Damit Polizei und Staatsanwaltschaft möglichst zeitgleich sich in die Akten einlesen können, bedarf es der Digitalisierung der Akten.

Sind in den Dienststellen diverse Altfälle vorhanden (Regelfall), muss eine Priorisierung vorgenommen werden.

Diese kann sich orientieren an:

  • In welchen Fällen droht die Verjährung des Totschlags?
  • In welchen Fällen sind weitere Ermittlungen am ehesten erfolgversprechend?

Um diese Fragen beantworten zu können, ist das gründliche Aktenstudium unerlässlich. Dies alles ist sehr zeitaufwendig und führt oftmals wegen der Vielzahl an neuen Verfahren dazu, dass Cold Cases bisweilen immer „kälter“ werden.

Wahlpflichtkurs Cold Case an der Polizeiakademie Nienburg

Um dieser vorgenannten Problematik entgegenzuwirken und zeitgleich Studierenden der Polizeiakademie das Arbeiten und auch Lernen an echten Akten zu ermöglichen, arbeitet die Staatsanwaltschaft seit 2014 eng mit der Polizeiakademie Nienburg zusammen.[1] Inzwischen hat der Wahlpflichtkurs 12 Fälle der Staatsanwaltschaft Verden analysiert und in allen Fällen Ermittlungsansätze aufgezeigt.

Der dort eingerichtete Wahlpflichtkurs „Cold Case“ verfolgt die Zielrichtung sehr praxisorientierter Ausbildung. Die Studierenden erhalten digitalisierte Echtakten zur Analyse. Sie werden über ihre besondere Schweigepflicht belehrt und verpflichten sich schriftlich zur Verschwiegenheit. Die digitalisierten Akten werden besonders und mehrfach gesichert, sodass ein Kopieren oder Ausdrucken von Aktenbestandteilen nicht möglich ist.

Vermittlung der Grundlagen der Ermittlungsarbeit mit dem Schwerpunkt der Besonderheiten der Cold Cases

Vermittlung der tragenden Aspekte des Zeugen vor Gericht, insbesondere des Polizeibeamten vor Gericht

Wichtig ist generell in allen Ermittlungsverfahren, dass vorhandene Spuren objektiv ausgewertet werden. Durch die Analyse bzw. das Erlernen der Grundlagen einer Analyse wird vermittelt, wie wichtig gerade die sorgsame Auswertung der Spuren ist.

Es wird vermittelt, wie man Informationen aus den Akten filtert und strukturiert, etwa ein Opferbild erstellt, Spuren am Tat-/ Fundort auswertet oder bewertet, wie man korrekt Hypothesen aufstellt ohne sich in Spekulationen zu verlieren.

Dabei wird gleichzeitig sehr praxisnah gelernt, wie wichtig gute Vernehmungsprotokolle sind, die erkennen lassen, welche Fragen/ Vorhalte formuliert wurden oder, ob -und wenn ja-, welche Informationen von dem zu Vernehmenden stammen, und welche verheerenden Folgen lediglich Vermerke über Vernehmungen haben, wenn Zeugen in der Zwischenzeit verstorben sind, somit Inhalte der Aussage nicht mehr verwertet werden können.

Beispiel:

1984 wurde ein Mann an der Weser getötet. Die Ermittlungen ergaben einen Tatverdacht gegen A, der die Tat bestritt. Zeugenvernehmungen wurden teils nur in Vermerkform niedergelegt. Das Tatwerkzeug (Scherben einer Kornflasche) wurde vernichtet. A ließ sich in zahlreichen Vernehmungen über ein Jahr wiederholt ein und passte immer wieder seine Aussagen der Beweislage an. 34 Jahre später konnten u.a. durch Öffentlichkeitsarbeit neue Erkenntnisse gewonnen mit der Folge, dass A angeklagt wurde.

Nach langen Erörterungen mit der MOKO fiel die Entscheidung, die damaligen Zeugen nicht erneut zu vernehmen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, nicht mehr vorhandene Erinnerung wiederhergestellt zu haben. Es wurde auch bewusst davon Abstand genommen, zu den damaligen Vernehmungsbeamten Kontakt aufzunehmen und diese zu vernehmen, weil übereinstimmend die Auffassung herrschte, dass man sich auch noch nach so vielen Jahren sicher an diesen besonderen Fall erinnern wird, zumal die Vernehmungsbeamten zum Großteil nicht im FK 1 gearbeitet hatten und der Fall für sie deshalb eher als Besonderheit einzustufen war. Es wurden daher lediglich die aktuellen Adressen ermittelt bzw. festgestellt, wer verstorben ist.

Die Vernehmungsbeamten, die sich zum Teil nicht auf die Vernehmung in der Hauptverhandlung vorbereitet hatten, erinnerten sich jedoch in der Hauptverhandlung nicht mehr an den Fall. Es konnte somit weder rekonstruiert werden, was A damals ausgesagt hatte noch wie er seine Angaben den neuen Beweisen angepasst hatte. Auch blieb offen, ob und wie A damals belehrt wurde. Viele Zeugen, die damals Angaben zum tatzeitnahen und tatortnahen Aufenthalt des A gemacht hatten, konnten sich ebenfalls an nichts erinnern bzw. waren in der Zwischenzeit verstorben. Alibizeugen waren damals zwar vernommen, ihre Angaben aber nur in Vermerkform niedergelegt worden, sodass nunmehr nach Versterben der Zeugen keine Möglichkeit bestand, deren Aussagen in die Hauptverhandlung einzuführen.

Weil somit relevante Tatsachen nicht in der Hauptverhandlung festgestellt werden konnten, wurde A freigesprochen.[2]

Der Beispielsfall zeigt die besonderen Schwierigkeiten der Cold Cases, aus denen –wenn man die Probleme einmal erkennt- nachhaltig für Cold Cases gelernt werden kann (nämlich im Rahmen der Priorisierung bereits gründlich zu prüfen, was tatsächlich noch verwertbar ist und inwieweit nicht lösbare Probleme in der Hauptverhandlung auftreten werden/ können), aber auch für zukünftige Verfahren (und dies nicht nur für Kapitaldelikte), nämlich insbesondere:

  • Polizeibeamte sind im Rahmen ihrer Dienstpflichten gehalten, sich auf eine Vernehmung als Zeuge vor Gericht –von sich aus- gewissenhaft vorzubereiten und ggfs. auf Akten in der Dienststelle zurückzugreifen. Dies gilt auch für Pensionäre.
  • Vermerke über den Inhalt einer Zeugenaussage können nach dem Tod des Zeugen nicht durch Verlesen eingeführt werden. Dies ist ausschließlich bei Vernehmungsprotokollen möglich. Es gilt § 256 Abs. 1 Nr. 5 StPO. Deshalb ist es dringend anzuraten, Zeugen förmlich zu vernehmen!
  • Ist ein Zeuge verstorben, kann dessen Aussage nur durch Verlesen des (förmlichen) Protokolls eingeführt werden (§ 251 Abs. 1 Nr. 3 StPO). Dies gilt nicht für Vermerke!
  • Lebt ein Zeuge noch, kann sich aber nicht erinnern, kann das Protokoll nicht nach § 253 Abs. 1 StPO verlesen werden mit der Wirkung, dass die Verlesung die Aussage ersetzt. Es sind vielmehr zunächst einzelne Passagen vorzuhalten und dann –wenn der Zeuge sich weiter nicht erinnern kann- ist gem. § 253 Abs. 1 StPO die gesamte Aussage zu verlesen. Kann sich der Zeuge sodann weiter nicht erinnern, ist die Aussage wertlos. Es besteht in diesen Fällen keine Chance, die damalige Aussage beweiskräftig einzuführen.

Dies ist bei besonders alten Cold Cases ein erhebliches Problem!

Beschuldigtenvernehmungen können nicht durch Verlesen des Protokolls eingeführt werden, sondern ausschließlich durch Vernehmung der Vernehmungsbeamten (vgl. OLG Köln, 1 Ss 323/82). Inhalte aus Protokollen können zwar vorgehalten werden, um die Erinnerung der Zeugen aufzufrischen, sie ersetzen aber keineswegs die Aussage des Zeugen. Kann sich der Zeuge trotz des Vorhalts nicht erinnern, sondern erklärt er nur „Wenn das da so steht, wird es wohl so gewesen sein.“, kommt dieser Aussage kein Beweiswert zu. Dies hat dann zur Folge, dass die Erkenntnisse aus den „alten Vernehmungen“ nicht eingeführt werden können. Dass derartige pauschale Angaben keinerlei Beweiswert haben, ist den wenigsten Polizeibeamten bekannt.

Erklärt ein Vernehmungsbeamter, er könne sich an den Inhalt der Vernehmung nicht erinnern, kommt eine Verlesung der von ihm gefertigten polizeilichen Vernehmungsniederschrift gem. § 253 Abs. 2 StPO nicht in Betracht. Diese Vorschrift gilt nicht im Rahmen der Vernehmung von Vernehmungspersonen, die in der Hauptverhandlung über Bekundungen aussagen, die andere vor ihnen gemacht haben (vgl. BGH 3 StR 26/13). Die Vorschrift ist nur anwendbar, wenn es sich bei dem Zeugen, dessen Gedächtnis unterstützt werden soll, um dieselbe Person handelt, deren Aussage in dem zu verlesenden Protokoll festgestellt wurde. (BGH NStZ 1984, 17). Den Verhörpersonen können die darüber aufgenommenen Niederschriften zwar vorgehalten werden, die Vorhalte dürfen aber nicht zum ergänzenden Urkundenbeweis bei Erinnerungsmängeln benutzt werden.

Es wird vermittelt, wie wichtig zeitnahe Alibiüberprüfungen sind. Fehlen diese, lassen sich viele Jahre später solche Ermittlungen kaum noch nachholen, ein erhebliches Problem in vielen Cold Cases! Ferner kann anhand der Altfälle den Studierenden die Bedeutung vollständiger und korrekter Belehrungen von Zeugen und auch Beschuldigten vor Augen geführt werden und welche Folgen falsche oder unvollständige Belehrungen haben, was häufig in der Praxis nicht bekannt ist. Auch in den Altfällen gilt: Ist ein Beschuldigter nicht richtig/ vollständig belehrt worden, sind seine Angaben möglicherweise nicht verwertbar, sodass darauf keine Verurteilung gestützt werden kann.

Neueste Untersuchungsmethoden werden erlernt, Ermittlungsstrategien besprochen. Die Studierenden lernen darüber hinaus aber auch, dass Teamarbeit unerlässlich ist. Und schlussendlich: An echten Fällen wird leichter und nachhaltiger gelernt als nur in der Theorie.

Vorteile für Polizei und Staatsanwaltschaft, bisherige Erfahrungen, Vorteile dieses „Sonderwegs“ für die Praxis Cold Case

Neben den bereits aufgezeigten Vorteilen für die Ausbildung junger Polizeibeamten/ Beamtinnen bietet der geschilderte Sonderweg erhebliche Vorteile für Polizei und Staatsanwaltschaft.

Priorisierung

Eine Priorisierung ohne Aktenstudium ist in aller Regel –wie bereits dargelegt- nicht möglich. Häufig lassen Cold Cases erst weitere Ermittlungsansätze erkennen, wenn man in die Akte „tiefer eingetaucht“ ist, wofür aber nicht selten neben den aktuellen Fällen die Zeit fehlt.

Durch die „Auslagerung“ einer ersten Auswertung des Akteninhalts, eines Spurencontrollings, ist es möglich, sich eine Übersicht darüber zu verschaffen, in welchen Akten möglicherweise noch Ermittlungsansätze verborgen sind. In Cold Cases alleine darauf zu schauen, ob noch Spurenmaterial vorhanden ist, das auf etwaige DNA- Antragungen untersucht werden kann, wäre zu kurz gedacht.

Denn: DNA ist in Cold Cases nicht alles. Auch Nachvernehmungen von Zeugen oder das Ermitteln neuer Zeugen etwa durch eine gezielte und strukturierte Öffentlichkeitsarbeit können reiche Chancen bieten, setzen aber voraus, dass man sich zuvor intensiv mit den vorhandenen Aussagen/ Spuren befasst und eine Strategie erarbeitet hat.

Spurencontrolling/ erstes Erkennen weiterer Ermittlungsansätze

Die Neubewertung vorhandener Spuren, das Rekonstruieren des Tatgeschehens, die Befassung mit dem Opferbild, die Erhebung etwaiger neuer Erkenntnisse (etwa aus Verfahrensregistern, Internet) u.a. sind wichtige erste Schritte bei der Cold-Case-Bearbeitung bzw. der Vorbereitung neuer/ weiterer Ermittlungen. Die Studierenden gießen ihre Erkenntnisse aus den vorhandenen Spuren in Übersichten oder Zeitleisten, die als solche bereits für die Mordermittler hilfreich sein können, diskutieren Ideen und denkbare weitere Schritte. Etwaige Widersprüche in Vernehmungen werden visualisiert. Erkenntnisse und Vorschläge werden schriftlich dargestellt und der jeweiligen Polizeidienststelle/ Staatsanwaltschaft mündlich präsentiert.

Anhand der Ergebnisse des Wahlpflichtkurses können Polizei und Staatsanwaltschaft deutlich einfacher erkennen, ob ein Fall weitere Ermittlungsansätze bietet bzw. bieten könnte.

Vorbereitung der Arbeit der Mordkommission/ Einholung von Gutachten

In einigen Fällen, die bislang dem Wahlpflichtkurs vorlagen, konnten zeitnah zeitaufwendige Gutachten bzw. Maßnahmen in die Wege geleitet werden, um so die späteren Ermittlungen vorzubereiten. So wurde in einem Fall eine Exhumierung des Opfers durchgeführt, um Knochenmaterial für weitere Gutachten (u.a. Isotopenuntersuchung) zu erlangen und eine Weichteilrekonstruktion des Gesichts durchzuführen.

In anderen Fällen wurden die Studierenden um gezielte vorbereitende Maßnahmen gebeten, wie etwa die Auswertung der damaligen Berichterstattung zur Klärung der Frage, ob der Tatverdächtige gegenüber der Polizei mögliches Täterwissen bekundet oder die Erkenntnisse aus der Presseberichterstattung erlangt haben könnte.

In weiteren Fällen wurde um eine vergleichende Analyse von Fällen gebeten mit dem Ziel der Klärung bzw. Erörterung der Frage, ob die Fälle in einem Serienzusammenhang stehen (könnten).

Abschichten vorbereitender Maßnahmen

Durch eine derartige vorbereitende Analyse ist es den Mordermittlern möglich, einzelne Maßnahmen abzuschichten und durch die Ergebnisse dieser vorbereitenden Maßnahmen weiter einzugrenzen, ob die Einrichtung einer Mordkommission sinnvoll ist oder erst möglicherweise andere Fälle priorisiert werden sollten.

Verbesserung der Ausbildung der Studierenden, Sensibilisieren für objektive Bewertungen und Vermisstenfälle

Durch die Auswahl der Fälle, die Formulierung etwaiger konkreter Analyseaufträge, die enge Zusammenarbeit von Mordkommissionen und Staatsanwaltschaften mit den Studierenden und die Übermittlung der in der Praxis auftretenden Probleme (etwa: Warum ist eine Beschuldigtenvernehmung nicht verwertbar? Warum kann nur eine förmliche Vernehmung eines Zeugens, der verstorben ist, in der Hauptverhandlung verwertet werden? Welche Folgen hat es, wenn sich ein Zeuge in der Hauptverhandlung –trotz Vorhalts- nicht erinnern kann?) an die Studierenden kann aus meiner Sicht eine deutliche Verbesserung der Ausbildung der Studierenden erzielt werden. Dabei sind die Vorteile keineswegs auf die Ermittlungen in Kapitaldelikten beschränkt, sondern betreffen auch grundsätzliche Themen, wie Vernehmungsinhalte, Belehrungen, Erarbeitung von Vernehmungsstrategien, Umgang mit Stresssituationen und Umfangsverfahren, Aufnehmen und Verarbeiten von vielen Informationen, Umgang mit elektronischen Akten und objektives Bewerten von Spuren, Vermeiden von Spekulationen und vorschnellem Bewerten. Gerade Letzteres ist für alle Bereich der polizeilichen Arbeit unerlässlich.

Ferner halte ich es für wichtig, die Studierenden frühzeitig zu sensibilisieren in Bezug auf sogenannte Vermisstenfälle.

Vermittlung der Notwendigkeit und Bedeutung der Cold-Case-Bearbeitung

Einblicke in Echtakten und das Arbeiten mit den Echtakten sind geeignet, den Studierenden die Wichtigkeit der Cold-Case-Bearbeitung zu vermitteln und aufzuzeigen, dass Cold- Cases gar nicht so selten auch nach vielen Jahren noch weitere Ermittlungsansätze bieten. Der Sonderweg eröffnet den Studierenden diverse Themen, die über die übliche Ausbildung hinausgehen: Was bedeutet die Ermittlungsarbeit für die Beamten, die sich in einen Cold-Case-Vorgang einarbeiten, was bedeutet das Spurencontrolling für die Polizeibeamten, die die ersten Ermittlungen geführt haben? Wie geht man mit etwaigen Fehlern um? Was bedeutet die Cold-case-Bearbeitung für überlebende Opfer bzw. für Angehörige von getöteten Opfern?

Internationaler Kurs Cold Cases

Seit 2020 hat die Polizeiakademie Nienburg in Zusammenarbeit mit „The Police Network on Missing Persons“ (PEN-MP) und verschiedenen Universitäten in Europa und Australien einen internationalen Kurs COLD Case eingerichtet, der die Chance bietet, international gemeinsame Standards bei der Bearbeitung von Cold Cases und sogenannten Vermisstenfällen zu erarbeiten, gemeinsam anhand der Cold Cases zu lernen und sich international zu diversen Problemen auszutauschen.

Vorteile der INTERNATIONALEN CC-Analyse (Zusammenarbeit mit spezifischen Fakultäten Forensic Science, Psychology, Criminology, Forensic Anthropology pp) in Zusammenarbeit mit dem Lehrpersonal

Der internationale Austausch führt zu einer Konzentration des Fachwissens, das in den an dem Projekt teilnehmenden Ländern im Bereich Cold Cases gesammelt wurde. Auf Cold Cases spezialisiertes Lehrpersonal tauscht sich anhand konkreter Fälle und einzelfallbezogener Probleme aus und vermittelt die gewonnenen Erkenntnisse an die Studierenden. Moderne Untersuchungsmethoden im Bereich Forensic Science werden ausgetauscht und Ideen erörtert, wie ggfs. mittels Computerprogrammen Informationen aus den Akten bearbeitet und ausgewertet werden können. Darüber hinaus bietet der Internationale Kurs die Chance, auch in eher aussichtlosen Cold Cases (wie etwa Tötungsdelikte an Neugeborenen bei Fehlen jeglicher Spurenlage) gemeinsam Ideen zu erarbeiten.

Erhöhung des Erkenntnisgewinns

Durch die Einbindung Studierender insbesondere aus dem Fachbereich Psychologie ist es möglich, Aussagen zu analysieren (Etwa: Sind Angaben des Zeugen X glaubhaft? Wie ist die Persönlichkeit des Beschuldigten B bzw. seine Aussage zu bewerten?) und –bei Bedarf- konkrete Vernehmungsstrategien erarbeiten zu lassen. Auch eröffnet die Einbindung von Psychologen die Möglichkeit, einzelfallbezogene Medienstrategien zu erstellen.

Neue Cold-Case-Kultur

Die Altfälle zeigen leider auch vereinzelt, dass Polizeibeamte, die die Erstermittlungen geführt haben, bei der Wiederaufnahme der Ermittlungen Sorge haben, dass nun der Fall geklärt werden könnte, sie „schlecht dastehen“, wenn Jahre später ein Tatverdächtiger überführt oder angeklagt werden kann und deshalb die Bereitschaft, die neuen Ermittlungen zu unterstützen, nicht immer vorzufinden ist. Die Einbindung bereits junger Studierender in die Cold-Case-Bearbeitung bietet die Chance, Veränderungen in den Köpfen vorzunehmen. Werden später Ermittlungen wiederaufgenommen, so ist das ein gemeinsamer Erfolg und nicht ein Misserfolg einzelner Beamter. „Spurencontrolling“ bedeutet, unvoreingenommen und objektiv noch einmal neu zu bewerten. Sind mögliche Fehler in Stresssituationen unterlaufen, sollte man damit offen umgehen, das gilt auch für aktuelle Ermittlungen. Je früher etwaige Fehler erkannt und angesprochen werden, umso eher besteht die Chance, Fehler zu heilen.

Literatur

Marquardt, A., Bettels, K. (2018): Cold-Case-Bearbeitung, Beschreiten neuer Wege in der Polizeiakademie Nienburg, Struktur des Nienburger – Modells, Der Kriminalist, 10/18: 22-29

Marquardt, A. (2020): Cold Case – die Schwierigkeiten eines Altfalles, Kriminalistik 11/20, S.656 -663


[1] Marquardt, A, Bettels, K. (2018), S.22-29

[2] Marquardt, A, (2020), S.656 – 663