Die Volksvertretung in der Krise

von Stefanie Haumer und Christoph Keller

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“
(Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz)

Die staatliche Macht ist in Deutschland auf die drei Gewalten der Legislative, Exekutive und Judikative verteilt, wobei keiner der genannten eine Vormachtstellung zukommt. Dem Grundgesetz ist also kein grundsätzlicher Vorrang des Parlaments – auch nicht aufgrund seiner im Gegensatz zu den anderen Staatsgewalten unmittelbaren demokratischen Legitimation – für alle staatliche Entscheidungen zu entnehmen. Aus der Kompetenzverteilung des Grundgesetzes folgt aber, dass zur Gesetzgebung vorrangig die Parlamente berufen sind, die gemäß Art. 80 GG diese Kompetenz per Gesetz an die Exekutive delegieren können. Aus dem Demokratieprinzip, dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten ist abzuleiten, dass im Bereich der Rechtsetzung der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung, soweit diese staatlicher Regelung zugänglich ist, verpflichtet ist, alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen.[3] Ob es eines förmlichen Gesetzes zur Regelung eines Lebensbereiches bedarf oder der parlamentarische Gesetzgeber die Normsetzung der vollziehenden Gewalt überlassen darf, bestimmt sich nach der Regelungsmaterie und der Intensität der mit der jeweiligen Regelung verbundenen Grundrechtseingriffe.[4] So konnte nach Auffassung des AG Dortmund die Regelung eines Kontaktverbots in der Ausprägung des § 12 CoronaSchVO NRW durch eine Rechtsverordnung nicht erfolgen.[5]

Mit zunehmender Dauer der Maßnahmen nach den Corona-Verordnungen der Länder geriet der verfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt immer stärker in die Diskussion. Den im Verordnungswege normierten Maßnahmen droht mit der immer wahrscheinlicher werdenden Verletzung des Parlamentsvorbehalts zunehmend die verfassungsrechtliche Grundlage zu entgleiten.[6]

Auch ein anderer Aspekt darf beim Blick auf die derzeitige Kompetenzverschiebung zwischen den hoheitlichen Gewalten nicht unerwähnt bleiben. Dem Bundesgesundheitsministerium wurde durch die Ergänzung des IfSG im 2. Abschnitt des Gesetzes, der die Koordinierung im Pandemiefall betrifft, eine Anzahl neuer Ermächtigungen im Fall und für die Dauer einer durch den Bundestag festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite eingeräumt. Diese Ermächtigungen betreffen u.a. Auskunftsrechte gegenüber Personen, die nach Deutschland einreisen, das Recht gegenüber Fluggesellschaften zur Untersagung der Beförderung von Personen aus bestimmten Ländern, die Befugnis zur Anordnung der gesundheitlichen Untersuchung dieser Personen oder das Recht zur Anforderung von Daten von Reisenden.[7] Sie stellen allerdings – ebenso wie die Vorschriften des IfSG oder die CoronaSchVO NRW – keine ausreichende Rechtsgrundlage für die mit der Stilllegung des öffentlichen Lebens verbundenen gravierenden Grundrechtseingriffe dar.

Problematisch an den neuerlichen Ermächtigungen ist, dass nach Art. 83 GG die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt. Durch ein einfachrangiges Gesetz wie das IfSG kann diese verfassungsrechtliche Vorgabe nicht ignoriert und daher können die angesprochenen Kompetenzen auf diese Weise nicht auf das BMG übertragen werden. Ungeklärt ist auch wie sich diese neuerlichen Kompetenzen des BMG zu den Kompetenzen der Bundespolizei bzw. zu denen der Landesgesundheitsbehörden verhalten.[8]

Des Weiteren wird das Bundesministerium für Gesundheit in § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG ermächtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates Ausnahmen von den parlamentarisch legitimierten Vorschriften u.a. des IfSG sowie der auf seiner Grundlage erlassenen Rechtsverordnungen zuzulassen.[9] Bedenklich erscheint, wenn die Exekutive in die Lage versetzt wird, per Verordnung gesetzliche Regelungen in Teilen außer Kraft zu setzen, ohne dass abschließend erkennbar wäre, welche Teile dies sind. Verzichtet der Bundesrat zudem auf seinen Zustimmungsvorbehalt, der ihm verfassungsrechtlich zugestanden ist, weil es nach Art. 83 GG Sache der Länder ist, das IfSG auszuführen, werden weitere wichtige Mitwirkungsrechte des Bundesrates bei der Rechtsetzung aufgegeben – und eine Gewichtsverschiebung zwischen gesetzgebender Gewalt und Verwaltung zumindest begünstigt.[10] Der Vorbehalt des Gesetzes sowie die Bindung der Verwaltung, hier des Gesundheitsministeriums, an Gesetz und Recht wird unterlaufen, indem sich die Verwaltung selbst die Rechtsgrundlagen für das notwendig erachtete Verhalten schafft bzw. das Recht und Gesetz, an das sie gebunden ist, suspendiert und durch eigenes Recht zu ersetzt.[11] Mit dem Prinzip der Gewaltenteilung als Grundlage unseres Rechtsstaats, das die oben angesprochene Ewigkeitsgarantie notstands- und krisenfest macht, ist dies nicht vereinbar.

Zwar gesteht Art. 80 Abs. 1 GG zu, dass ein Bundesminister (oder die Landesregierungen) durch Gesetz ermächtigt werden kann, Rechtsverordnungen zu erlassen. Aber dabei müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im ermächtigenden Gesetz bestimmt werden.[12] § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG genügt diesen Vorgaben nicht. Weiterhin mit Art. 80 Abs. 1 GG unvereinbar ist, dass nach dem Wortlaut des § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG eine Rechtsverordnung, die im Rang unterhalb der Gesetze steht, ein höherrangiges Bundesgesetz außer Kraft setzen können soll. [13]

An dieser Stelle soll allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung dem Gesetzgeber und auch der von ihm zum Verordnungserlass ermächtigten Exekutive von Verfassungs wegen einen Spielraum für den Ausgleich widerstreitender Grundrechte zubilligt, wenn die Freiheits- und Schutzbedarfe der verschiedenen Grundrechtsträger in unterschiedliche Richtung weisen, wie dies in einer Pandemie der Fall ist.[14] Aber auch wenn stets hervorgehoben wird, dass die gegenwärtige Situation es rechtfertigt, das geltende Recht mit mehr Flexibilität zu versehen, darf dieser Spielraum die Grenzen der Rechtsstaatlichkeit nicht verlassen. Trifft der Gesetzgeber des IfSG die für die Grundrechtsverwirklichung wesentlichen Regelungen tatsächlich noch selbst – wie die oben angesprochene Wesentlichkeitsdoktrin des BVerfG dies fordert, wenn er die Exekutive – wie in § 5 Abs. 2 Nr. 3 IfSG – ohne einschränkende Vorgaben zum Erlass weiterer Verordnungen ermächtigt, die in Grundrechte eingreifen?

Auf Landesebene gestaltet der nordrhein-westfälische Gesetzgeber die Regelungen des IfSG mit dem nordrhein-westfälischen Epidemiegesetz (IfSGB[15]), u.a. zu den Zuständigkeiten, weiter aus.[16] Das Gesetz enthält ein Regelwerk zum Krisenmanagement bei (auch künftigen) Epidemien von nationaler oder landesweiter Tragweite.[17] Hierzu sind weitreichende Befugnisse der Landesregierung und der zuständigen Behörden vorgesehen. Vergleichbar mit der angesprochenen Kompetenzerweiterung des BMG erhalten auch Landesregierung und -gesundheitsministerium mit dem IfSBG weitere Ermächtigungen zu Grundrechtseingriffen während der Dauer einer epidemischen Lage von landesweiter Tragweite. Hierzu zählen Anordnungen betreffend den Krankenhausbereich sowie den öffentlichen Gesundheitsdienst und auch der Zugriff auf Materialien und medizinische Geräte sowie medizinisches Personal wird ermöglicht.[18] Rechtsgrundlagen für die Stilllegung des öffentlichen Lebens und die damit verbundenen Grundrechtseingriffe finden sich im IfSBG nicht.

Ein weiteres Regelwerk auf Landesebene stellt die vom MAGS erstmals am 22.3.2020 erlassene[19] und in kurzen Zeitabständen immer wieder aktualisierte Coronaschutzverordnung NRW dar.[20] Als hierdurch einschränkbare Grundrechte zitiert § 32 IfSG die Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), die Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) und das Brief- und Postgeheimnis (Art. 10 GG). Die Coronaschutzverordnung enthält Ge- und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, welche intensiv in die oben genannten Grundrechte eingreifen. Vor dem Hintergrund der Schwere dieser Eingriffe sind die Anforderungen besonders hoch, die gemäß dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 GG an die Bestimmtheit der Verordnungsregelungen zu stellen sind. Allerdings wurden und werden diese Verordnungen regelmäßig unter großem Zeitdruck entworfen, was teilweise zu Lasten der Normenklarheit geht.

Festzustellen ist, dass der massivste kollektive Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik[21] in NRW zunächst auf Grundlage eines ministeriellen Erlasses, später aufgrund stetig abgeänderter Verwaltungsverordnungen erfolgt. Ob dies eine angemessene gesetzliche Grundlage darstellt, sollte vom parlamentarischen Gesetzgeber überdacht werden. Jedenfalls wurde hierdurch ein Präzedenzfall geschaffen. Denn auch, wenn der Eingriff in der Sache richtig ist, gilt es, eine Gewöhnung an die Beschränkung unserer Freiheitsrechte in jedem Fall zu vermeiden.[22] Das bedeutet, dass nach Abflachen der Infektionskurve die notwendige Sorgfalt und Mühe darauf zu verwenden ist, die Grundrechtseinschränkungen schnellstmöglich und vollständig rückgängig zu machen. Der rechtsstaatlich legitimierte Gesetzgeber sollte das Heft zurück in die Hand nehmen und getreu der Wesentlichkeitsdoktrin die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen wieder selbst regeln. In Vorbereitung auf eventuelle künftige Pandemien oder landesweite Notlagen sollte die Zeit nach der Corona-Pandemie genutzt werden, um das besondere Gefahrenabwehrrecht, insbesondere die unter Zeitdruck entstandenen Regelwerke, zu überdenken bzw. zu überarbeiten – unter Einbeziehung der aus der gegenwärtigen Lage gewonnenen Erkenntnisse.

Abschließend soll ein Blick auf die bevorstehende Möglichkeit einer Impfung und deren Regelung geworfen werden. Nach der oben angesprochenen Wesentlichkeitsdoktrin[23] ist immer dann ein durch die Volksvertretung erlassenes Gesetz erforderlich, wenn eine Regelung weitreichende Auswirkungen auf die Grundrechte der Bürger hat. Derzeit steht nicht ausreichend Impfstoff für die gesamte (impfwillige) Bevölkerung zur Verfügung. Eine Impfung kann jedoch in bestimmten Fällen über Leben und Tod eines Menschen entscheiden. Die Auswirkungen der Regelung, wer Zugang zum Impfstoff erhält bzw. wer (noch) nicht, greifen mithin tief in die Grundrechte auf Leben und Gesundheit ein. Diese Frage ist mit den Herausforderungen im Rahmen eines Triage-Verfahrens vergleichbar. Auch hier stellt sich die Herausforderung, eine Bevorrechtigung mit Blick auf die Grundrechte Leben und Gesundheit zu rechtfertigen. Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und die Unantastbarkeit der Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) sind fest im Grundgesetz verankert. Diese Rechte zu schützen, ist Aufgabe des Staates. Dabei darf ein Menschenleben nicht gegen ein anderes Menschenleben abgewogen werden.[24] Und eine Entscheidung bzw. Bevorrechtigung durch die Festlegung einer Impfreihenfolge darf nicht an Ärzte vor Ort delegiert werden.[25] Wegen der angesprochenen existentiellen Folgen und weil es Aufgabe des Staates ist, elementare Rechtsgüter der Bürger zu schützen, die durch die Pandemie bedroht werden, sind die wesentliche Vorgaben mit Blick auf die Impfreihenfolge von den demokratisch legitimierten Volksvertretern intensiv zu diskutieren und in einem Parlamentsgesetzgeber zu regeln.


[3] BVerfG, Beschluss vom 8.8.1978 – 2 BvL 8/77, juris, Rn. 77, m.w.N.

[4] BVerfG, Beschluss vom 8.8.1978 – 2 BvL 8/77, juris, Rn. 77, m.w.N.

[5] AG Dortmund, Urteil vom 2.11.2020 – 733 OWi-127 Js 75/20-64/20. Das Gericht hatte drei Männern freigesprochen, die im Frühjahr d.J. gegen die damals geltenden Kontaktbeschränkungen verstoßen haben sollen. Ein derart gravierender Grundrechtseingriff bedürfe eines förmlichen Gesetzes durch das Parlament – und nicht nur einer Verordnung durch die Regierung.

[6] Brocker (2020), S. 1485: „Strapazierung des Parlamentsvorbehalts in der Corona-Pandemie“.

[7] Vgl. § 5 IfSG.

[8] Möllers (2020), Verfassungsblog.

[9] Kritisch zu der Abweichungsbefugnis des § 5 Abs. 2 IfSG Kersten/Rixen (2020), S. 121 ff. IfSG. Die Verf. begründen, warum Verwaltungsakte des Bundesgesundheitsministeriums, die in Vollzug dieser Norm ergehen, wegen absoluter sachlicher Unzuständigkeit nichtig sind (S. 128).

[10] Vgl. Claussen (2020), S. 244 (245).

[11] So auch Kingreen (2020), LTO.

[12] Eine weitere Frage ist, ob es in dieser Zeit die richtige Entscheidung des Gesetzgebers darstellt, sich aus dem Geschäft der Normsetzung zurückzuziehen, selbst wenn es ihm gelänge, dies verfassungsgemäß zu bewerkstelligen. Möllers (2020), Verfassungsblog, bezweifelt dies zu Recht stark.

[13] Dies wurde nur in engen Grenzen als Anwendungsbeschränkung zugelassen von BVerfGE 8, 155 (170 f.).

[14] Vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.5.2020 – 1 BvR 1021/2, Rn 10.

[15] Gesetz zur Regelung besonderer Handlungsbefugnisse im Rahmen einer epidemischen Lage von nationaler oder landesweiter Tragweite und zur Festlegung der Zuständigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz – Infektionsschutz- und Befugnisgesetz – IfSBG-NRW.

[16] Das IfSBG wurde eingeführt mit dem Gesetz zur konsequenten und solidarischen Bewältigung der COVID-19-Pandemie in Nordrhein-Westfalen und zur Anpassung des Landesrechts im Hinblick auf die Auswirkungen einer Pandemie vom 14.4.2020.

[17] Zum Begriff s. § 11 IfSBG.

[18] §§ 13, 14 IfSBG; vgl. hierzu Amhaouach (2020), JuWissBlog.

[19] Gem. §§ 28, 32 IfSG i.V.m. § 10 IfSGB.

[20] Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 (CoronaSchVO); zum historischen Ablauf s. Bundesrechtsanwaltskammer unter https://brak.de/die-brak/coronavirus/uebersicht-covid19vo-der-laender/#NRW_Verordnungen (zuletzt aufgerufen am 19.11.2020).

[21] So Möllers (2020), Verfassungsblog.

[22] Vgl. auch Spamann (2020), Verfassungsblog.

[23] BVerfG, Beschluss vom 08.08.1978 – 2 BvL 8/77, juris, Rn. 77, m.w.N.

[24] Vgl. hierzu BVerfG Urteil vom 15.2.2006 – 1 BvR 357/05.

[25] Die Frage, ob der Gesetzgeber im Eilverfahren zur Gesetzgebung verpflichtet werden kann, lässt das BVerfG mit Blick auf die Triage ausdrücklich offen. BVerfG Beschluss vom 16.7.2020, 1 BvR 1541/20.