Gerichtsentscheidungen in Kürze

von Ernst Böttcher, Rechtsanwalt, Hanau

Erotische Massage

Das Bayrische Landessozialgericht hat am 06.02.2020, Az: L 8 So 163/17, ein Urteil gefällt, das einen doch originellen Konflikt regelt.

Sachverhalt

Ein schwerbehinderter Mann wollte über die Sozialhilfe Leistungen zur Finanzierung von erotischen Ganzkörpermassagen erhalten, die er zweimal wöchentlich in Anspruch nehmen wollte. Jede Massage sollte jeweils € 200,00 kosten. Die zuständige Behörde lehnte eine Kostenübernahme ab. Daraufhin klagte der schwerbehinderte Mann. Zur Begründung seines Begehrens erklärte er, er sei hypersexuell und aufgrund seiner Erkrankung nicht in der Lage, sich selbst zu erleichtern. Er sei daher dringend auf die Massagen zur Befriedigung seines Geschlechtstriebs angewiesen. Das Sozialgericht München wies die Klage ab. Dagegen richtete sich die Berufung des Klägers.

Entscheidung

Das Bayrische Landessozialgericht bestätigte die Ablehnung durch die Vorinstanz und wies daher die Berufung des Klägers zurück. Es versagte den Anspruch auf Leistungen der Sozialhilfe für erotische Ganzkörpermassagen, weil die Kosten einer solchen Massage nicht regelbedarfsrelevant seien. Daher könnten sie auch nicht im Rahmen des Bedarfs berücksichtigt werden, weshalb eine Erhöhung des Regelsatzes nicht in Betracht komme. Eine Berücksichtigung im Rahmen der Hilfe zur Pflege oder sonstigen Lebenslagen käme auch nicht in Frage. Ganzkörpermassagen mit sexueller Komponente fielen nicht unter die Hilfe zur Pflege. Das Gericht verwies auch noch auf die Vorschrift des § 73 SGB XII, der Hilfe in sonstigen Lebenslagen regelt. Diese Vorschrift könne nicht als „Reparaturnorm“ herangezogen werden.

Fazit

Allein die Tatsache, dass sich ein Sozialgericht mit einer derartigen Frage auseinandersetzen muss, zeigt, wie sehr sich doch die Gesellschaft hinsichtlich ihrer Wertvorstellungen und der Legitimität menschlicher Bedürfnisse geändert hat. Bei Fassung der Vorschriften des Sozialgesetzbuches hat sicherlich niemand der Verfasser des Textes an die Finanzierung derartiger Bedürfnisse gedacht. Die Norm (Hilfe in sonstigen Lebenslagen) ist eine typische Formulierung, bei der der Gesetzgeber bewusst einen semantischen Spielraum eröffnet hat, um diese Vorschrift den Lebenslagen anzupassen.     Möglicherweise, bei fortschreitender Kenntnis und Entwicklung menschlicher Wertvorstellungen, könnte ein Gericht in 30 Jahren denselben Sachverhalt anders entscheiden.

Auskunft über einen Samenspender in der DDR

Ein Urteil des BGH vom 23.01.2019 (Az: XII Zr 71/18) behandelt zwar keine Problemstellung des täglichen Lebens, erscheint mir aber hinsichtlich der Frage der Wirksamkeit von Rechtshandlungen im Rahmen der Rechtsordnung innerhalb der DDR für höchst interessant.

Sachverhalt

Die Klägerin wurde im Dezember 1990 auf dem Gebiet der DDR geboren. Zu diesem Zeitpunkt war die Mauer zwar schon gefallen, es galt jedoch noch das örtliche Recht. Sie war mittels künstlicher heterologer Insemination gezeugt worden. Der Samen stammte von einem anonymen Spender. Die Klägerin erfuhr im Jahr 2013 von den Umständen ihrer Zeugung und verlangte Auskunft über die Personalien des Samenspenders. Das in Anspruch genommene Klinikum verweigerte die begehrte Auskunft und berief sich unter anderem darauf, dass dem Samenspender damals im Einklang mit dem aktuellen DDR-Recht Anonymität zugesagt worden war. Daraufhin erhob die Frau Klage beim Amtsgericht Dresden. Das Amtsgericht folgte der Begründung des Klinikums und wies die Auskunftsklage daher ab. Auch die Berufung vor dem Landgericht Dresden hatte keinen Erfolg. Das Landgericht Dresden bestätigte die Rechtsauffassung des Amtsgerichts.

Daraufhin legte die Klägerin Revision beim Bundesgerichtshof ein.

Entscheidung

Der BGH entschied zu Gunsten der Klägerin. Ein Auskunftsanspruch könne auf Grundlage der bisher getroffenen Feststellungen nicht verneint werden. In der damaligen DDR konnte ein Arzt dem Samenspender rechtlich bindend Anonymität zusichern. Dies sei bei der Entscheidung jedoch unerheblich. Eine derartige Anonymitätszusage steht dem Auskunftsanspruch des Kindes schon deshalb nicht entgegen, weil es das verfassungsrechtlich geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht unberücksichtigt lässt. Dieses Persönlichkeitsrecht beinhaltet den Anspruch des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung, weshalb eine diesem Recht entgegenstehende Regelung mit dem Grundgesetz unvereinbar ist und deshalb keinen Bestand hat.

Ein weiterer Punkt mit dem sich das Gericht auseinandersetzte war die Befürchtung des Klinikums, dass der Samenspender das Klinikum wegen der Unwirksamkeit der Anonymitätszusage auf Schadenersatz in Anspruch nehmen könnte. Es führte dabei aus, dass das Klinikum nach der damaligen örtlichen Rechtslage mit der Zusicherung der Anonymität keine Pflichtwidrigkeit begangen hätte, die ihm jetzt vorgeworfen werden könnte.

Fazit

Auch Jahre nach der Wiedervereinigung kommt es manchmal zu Konflikten zwischen Rechtshandlungen im Rahmen der Gesetzeslage innerhalb der DDR und den Grundrechten, die nach der Wiedervereinigung nunmehr für alle Bundesländer der Bundesrepublik Deutschland gelten. Die Rechtshandlungen der damaligen DDR berücksichtigten natürlich nicht das Grundgesetz. Wenn sich also Rechtshandlungen, die in der damaligen DDR rechtmäßig waren, im Lichte des Grundgesetzes als grundrechtswidrig herausstellen, so kann an diesen Rechtshandlungen nicht verbindlich festgehalten werden. Dies ist im Einzelfall gar nicht so besonders, weil auch Gesetze, die in der Bundesrepublik Deutschland  erlassen werden, ständig der Überprüfung unterliegen, ob sie denn mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Sollte es hier einen Interpretationsspielraum geben, so sind sie hier so auszulegen, dass sie mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Für den Fall der zugesicherten Anonymität gibt es jedoch keinen Interpretationsspielraum. Daher konnte der BGH gar nicht anders entscheiden.

Erstaunlich ist, dass das Amtsgericht und das Landgericht in Dresden sich auf die schuldrechtliche, sozusagen Vertragsebene bezogen haben, und die Auslegung nicht im Lichte des Grundrechts des allgemeinen Persönlichkeitsrechts getroffen haben. Dass ein Kind im Rahmen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einen Anspruch auf Kenntnis seiner Herkunft hat ist nicht so neu. Dies hat das Bundesverfassungsgericht auch in anderen Entscheidungen schon entschieden.

Mitverschulden

Eine Entscheidung des OLG Rostock vom 25.10.2019, Az: 5 U 55/17, das sich mit dem Mitverschulden des Geschädigten beschäftigt, verdient Beachtung.

Sachverhalt

Die 16-jährige Klägerin war zu zwei Bekannten in ein Auto gestiegen. Nach kurzer Fahrt verursachte der 21-jährige Beklagte, der das Fahrzeug führte, einen Verkehrsunfall. Er kam von der Straße ab und kollidierte mit einem Baum. Der Fahrer und die Beifahrerin wurden schwer verletzt. Der dritte Insasse verstarb noch an der Unfallstelle. Die Klägerin erlitt ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und ist seit dem Unfall schwerbehindert. Sie benötigt eine ständige Betreuung und besucht nunmehr eine Einrichtung zur Förderung von behinderten Menschen. Die Haftpflichtversicherung zahlte ein Schmerzensgeld von € 30.000,00 an die Klägerin.

Hiermit war die Klägerin nicht einverstanden und erhob Klage gegen die Haftpflichtversicherung. Sie beantragte ein weiteres Schmerzensgeld von mindestens € 320.000,00 sowie eine monatliche Schmerzensgeldrente in Höhe von mindestens € 500,00 sowie Ersatz ihres Verdienstausfalles.

Das Landgericht stellte nach einer Beweisaufnahme fest, dass die Klägerin als Beifahrerin auf der Rückbank gesessen hatte und nicht angeschnallt war. Ihr wurde vorgehalten, dass sie, wenn sie angeschnallt gewesen wäre, einen wesentlichen Teil der Verletzungen nicht erlitten hätte. Aus diesem Grund war das Landgericht der Auffassung, dass die gezahlten € 30.000,00 ausreichend gewesen seien.

Hiergegen legte die Klägerin Berufung ein. Dabei war vor allen Dingen zu klären, nach welchen Kriterien ein Mitverschulden der Klägerin zu bewerten ist, da sie zum Zeitpunkt des Unfalls ihren Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte.

Entscheidung

Das Oberlandesgericht entschied, dass die Mitverursachung nicht danach zu bemessen sei, welche unfallbedingten Verletzungen daraus resultierten, dass die Klägerin den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte, sondern hier eine Gesamtbetrachtung über die Schadensentstehung erfolgen müsse. Dabei seien alle Umstände gegeneinander abzuwägen, um so eine Mithaftungsquote zu ermitteln. Das OLG hat die Mitverursachung der Klägerin mit einem Drittel bemessen, weil der Anteil am Zustandekommen des Unfalls durch den Fahrer, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit um mehr als 25% überschritten und eine Kurve geschnitten hatte, deutlich überwogen habe. Da die genauen gesundheitlichen Folgen für die Klägerin und auch ihre zukünftigen Verdienstchancen noch nicht feststanden, erließ das OLG lediglich ein Grundurteil.

Fazit

Das Urteil ist deshalb bemerkenswert, weil die Argumentation der Versicherung üblicherweise lautet, dass der Geschädigte, wenn er nicht angeschnallt war, für alle Schäden haftet, die ihm selbst dadurch entstanden sind, dass er nicht angeschnallt war. Da bei einem Verkehrsunfall davon auszugehen ist, dass der überwiegende Teil der Verletzungen beim nicht-angeschnallten Beifahrer darauf zurückzuführen sind, dass er nicht angeschnallt war, kann die Versicherung üblicherweise einen großen Teil von Schadensersatzforderungen, d.h. Schmerzensgeld und Arzthonorare und ähnliches einsparen.

Die Gesamtbetrachtung, die vom OLG Rostock vorgenommen wurde, stellt nicht auf die Kausalität zwischen dem Verhalten des Geschädigten und den Unfallfolgen ab, sondern bezieht die Unfallverursachung mit in die Überlegung ein. Sollte sich diese Rechtsprechung durchsetzen, könnte dies für die  Versicherungen in Zukunft recht teuer werden.

Widerruf der staatlichen Anerkennung als Erzieher

Ein Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28.01.2020 (Az: VG 3 K 924.18), das sich mit der Berufsausübung als Erzieher befasst, soll hier dargestellt werden.

Sachverhalt

Der Kläger ist seit 1994 staatlich anerkannter Erzieher. Er wurde rechtskräftig zu Geldstrafen wegen gefährlicher Körperverletzung, Bedrohung und einfacher Körperverletzung verurteilt. Dies geschah in den Jahren 2015 und 2017. Das Opfer seiner Taten war in beiden Fällen seine ehemalige Lebensgefährtin. Täter und Opfer hatten ein gemeinsames Kind, das 2012 geboren war. Dem Kläger war vorgeworfen worden, seine ehemalige Lebensgefährtin im Beisein des Kindes gegen die Wand geschleudert und mit beiden Händen am Hals gewürgt zu haben. Ein anderes Mal hatte der Kläger, ebenfalls im Beisein des Kindes, seine ehemalige Lebensgefährtin mit der Aussage „ich werde dich töten“ bedroht und sie mit flacher Hand gegen das Ohr geschlagen.

Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie widerrief aufgrund dieser Taten, die staatliche Anerkennung des Klägers als Erzieher. Sie begründete ihre Entscheidung damit, dass sich der Kläger schwerer Verfehlungen schuldig gemacht habe. Aus diesen Verfehlungen ergäbe sich die Unzuverlässigkeit zur Ausübung des Berufs. Hiergegen hatte der Kläger seine Klage vor dem Verwaltungsgericht erhoben.

Er bestritt die ihm zur Last gelegten Taten. Er sei den Verleumdungen nur aus Rücksicht gegenüber dem gemeinsamen Kind bisher nicht entgegengetreten. Im Rahmen seiner Berufsausübung habe er immer eine hohe Professionalität an den Tag gelegt und habe darüber hinaus immer positive Rückmeldungen erhalten.

Entscheidung

Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab. Ungeachtet des Bestreitens des Klägers sei die Kammer zur Auffassung gelangt, dass der Kläger die Taten begangen hat. Durch diese schweren Verfehlungen sei die Unzuverlässigkeit zur Ausübung seines Berufs als Erzieher begründet. Dabei sah das Gericht die Maßgeblichkeit für seine Tätigkeit als Erzieher in der Art und im Umfang des konkreten Fehlverhaltens. Es stellte dabei heraus, dass es nicht erforderlich sei, hierfür ein Verbrechen zu begehen (Straftat, die mit einer Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsentzug bedroht ist) oder ein Sexualdelikt.

Das Gericht sah offensichtlich die Besonderheit in dem Fehlverhalten, dass die Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit im Beisein des Kindes verübt wurden. Hier zeige sich, die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit, sich in Anwesenheit von Kindern in schwierigen Situationen adäquat zu verhalten.  Dabei stellte das Gericht auf die Vorbildfunktion von Erziehern ab, wobei eine strikte Trennung zwischen privatem und beruflichem Verhalten kaum zu ziehen sei. Auch die Einstufung der Vorfälle als „Beziehungstaten“ könne hier keine andere Beurteilung gebieten. Ohne den Widerruf durch die Senatsverwaltung sei das öffentliche Interesse an dem Einsatz zuverlässiger Erzieher gefährdet. Ein Ermessensfehler lasse sich hier nicht erkennen.

Fazit

Die Aberkennung der staatlichen Anerkennung als Erzieher bedeutet nunmehr, dass der Kläger in einem Arbeitsverhältnis mit einem staatlichen Träger nicht mehr als Erzieher arbeiten kann. Dennoch ist es kein Berufsverbot, weil ein privater Betreiber den Kläger jederzeit als Erzieher beschäftigen kann. Es wäre dem Kläger aber auch in diesem Fall anzuraten, sich mit seinen Aggressionen auseinanderzusetzen.