Kinderschutz in Deutschland

Der Schutz unserer Kinder vor sexualisierter Gewalt ist eine Frage von Würde und Haltung – doch wie stehts darum in Deutschland?

Von Josefine Barbaric, Salach ( Baden-Württemberg)

Vorwort

Es ist ein offenes Geheimnis, dass die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen ein Milliarden Geschäft ist. Sie ist als globale Herausforderung im Kinderschutz zu bewerten, die Entwicklungsländer und Industrienationen gleichermaßen betrifft. Jede Sekunde wird ein Kind irgendwo in der Welt vergewaltigt, gequält und missbraucht. „Kinderpornografie“ ist ein weltweit boomender Wirtschaftszweig, auch in Deutschland. Weshalb ich der Aussage des sonst geschätzten, Unabhängigen Beauftragen Wilhelm Rörig, widersprechen möchte, der unlängst in einem Interview anführte: „Sexueller Missbrauch sei eine Pandemie“. Die aktuelle Covid-19 Pandemie hat gezeigt, dass schnelle und gut koordinierte Maßnahmen zu einer soliden Eindämmung des Virus führen können. Hier wird Deutschland weltweit als positives Vorbild vorangestellt. Doch wie steht es um Deutschland im Bereich „sexueller Missbrauch an Kindern“? Nur wohlweislich möchte ich darauf verweisen, dass Gewalt an Kindern, insbesondere sexuelle Gewalt an Kindern, kein akutes Phänomen darstellt. So ist diese, häufig sexuell motivierte Gewaltform, eben keine akute Pandemie, sondern eher ein chronisches Geschwür – von dem die Welt bereits seit langer Zeit weiß. Hierzu möchte ich, neben der UN-Kinderrechtskommission an den Stockholmer Weltkongress aus dem Jahr 1996 erinnern. Es wurde ein Aktionsplan verabschiedet, der zur weltweiten Verbesserung der Kinder beitragen sollte. [ii] Was also hat Deutschland in den vergangenen Jahren konkret unternommen, sexuelle Ausbeutung und Gewalt im eigenen Land erkennbar zu verbessern? Daher sollte – bereits im Vorfeld in diesem Zusammenhang -nicht unerwähnt bleiben, dass die europäische Kommission am 25. Juli 2019 ein Vertragsverletzungsverfahren auch gegen Deutschland einleitete. Unter Punkt 6, Migration, Inneres und Bürgerschaft, wurde folgendes aufgenommen:

Kinderschutz: Kommission fordert DEUTSCHLAND und sechs weitere Mitgliedstaaten zur Durchsetzung der EU-Vorschriften zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern auf

Die Kommission hat heute beschlossen, Aufforderungsschreiben an sieben Mitgliedstaaten (Bulgarien, Deutschland, Litauen, Malta, Rumänien, Slowakei und Schweden) zu richten, weil diese Länder es versäumt haben, die EU-Vorschriften zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung von Kindern sowie der Kinderpornografie (Richtlinie 2011/93/EU ) in nationales Recht zu überführen. Die EU hat strenge Vorschriften erlassen, die gewährleisten, dass diese Formen des Missbrauchs in ganz Europa unter Strafe stehen, Täter hart bestraft werden, Opfer im Kindesalter geschützt werden und die zur Verhütung dieser Straftaten beitragen. Die Richtlinie umfasst auch besondere Maßnahmen zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern im Internet. In fast allen Mitgliedstaaten ist es zu Verzögerungen bei der Umsetzung der neuen Maßnahmen gekommen, da die Richtlinie äußerst umfassend ist. Die Kommission ist sich dieser Schwierigkeiten bewusst. Um Kinder jedoch wirksam vor sexuellem Missbrauch zu schützen, müssen alle Mitgliedstaaten sämtliche Bestimmungen der Richtlinie in nationales Recht überführen. Die Kommission hat daher beschlossen, Vertragsverletzungsverfahren gegen sieben Mitgliedstaaten wegen der nicht ordnungsgemäßen Überführung der Richtlinie in nationales Recht einzuleiten. Die betroffenen Mitgliedstaaten haben jetzt zwei Monate Zeit, um gegenüber der Kommission Stellung zu nehmen. Andernfalls kann die Kommission beschließen, eine mit Gründen versehene Stellungnahme zu übermitteln.[iii]

Wie also steht es nun auf Bundes- und Länderebene in Deutschland um den Kinderschutz? Wie groß ist die tatsächliche Bereitschaft, Kinder vor sexualisierter Gewalt schützen zu wollen?

Rückblende

Wenn ein Vorstandsvorsitzender eines namenhaften Kinderschutzvereins in Deutschland die Bundesjustizministerin erst öffentlich zum Rücktritt auffordern muss, damit diese dann schlussendlich doch noch einlenkt, um endlich im Bereich des § 184b StGB – Herstellung und dem Besitz von kinderpornografischen Materials – und § 176 StGB  – Sexueller Missbrauch an Kindern – nachzubessern, um aus einem Vergehen ein Verbrechen machen zu wollen, dann wirkt das, vorsichtig ausgedrückt, verrückt! Es wirkt abgerückt von der eigentlichen Mission, den Schutz für Kinder in Deutschland tatsächlich verbessern – und damit zur Chefsache machen zu wollen. Seit dem Vertragsverletzungsverfahren der europäischen Kommission wurden kritische Stimmen in Deutschland immer lauter. Immer häufiger und eindringlicher wurde darauf hingewiesen, Maßnahmen, welcher Art auch immer, zum großen Thema Kinderschutz, vor allem aber im Bereich „Kinderpornografie“, zu verschärfen. Doch die Bundesjustizministerin stellte sich vehement dagegen und war nicht im Ansatz zu einem Dialog bereit. Hierzu erinnere ich an die letzten Innenministerkonferenzen vom Juni 2019 in Kiel und Dezember 2019 in Lübeck und an die vergangene Jugendministerkonferenz vom 27. Mai 2020. Erst als der öffentliche Druck zu groß wurde, kam der große Sinneswandel der Bundesjustizministerin. Doch das Signal, das durch solch unglückliche Vorgehensweisen von höchster politischer Instanz an die Landesregierungen, an die Menschen, an die Bürger*innen und Wähler*innen dieses Landes gesandt wurde, war einfach nur Ignoranz. Ignoranz allerdings ist weder ein guter Führungsstil, noch ist sie das, was der Schutz unserer Kinder in diesem Land braucht. Am 4. Juni 2020 kritisiere der Unabhängige Beauftragte Rörig massiv die Länder in ihrer Haltung zum Schutz für Kinder vor sexualisierter Gewalt in Deutschland. Am 4. Juli 2020 gab er hierzu ein Interview in der „Neuen Osnabrücker Zeitung“.

„Die Politik brauche immer erst Skandale, um Konsequenzen zu ziehen“, kritisierte Rörig. Bei den Landesregierungen erlebe er eine fatale Sturheit, die „unverantwortlich“ sei. „Das regt mich richtig auf“, sagte der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung der „NOZ“. „Man darf die Dinge nicht einfach so laufen lassen und nur hoffen, dass das eigene Bundesland nicht von einem Skandalfall betroffen ist.“ [iv]

Nebenbei erwähnt sei, dass auch Ignoranz eine Form von Gewalt ist. Die Summe aller bereits genannten Informationen, einhergehend mit diesem kurzem Interviewausschnitt, lassen sehr schnell und gut erkennen, wo genau wir in Deutschland, 24 Jahre nach dem Stockholmer Weltkongress, im Kinderschutz tatsächlich stehen. Sexueller Missbrauch an Kindern ist ein chronisches Geschwür und Deutschland hat  – im Gegenzug zur Covid-19 Pandemie – im Bereich Kinderschutz, insbesondere dem Schutz von Kindern vor sexuellem Missbrauch an Kindern, vollständig versagt. Für viele Menschen in Deutschland ist es aktuell nur schwer aushaltbar, sich all das vorstellen zu müssen, was wir als Gesellschaft zu diesem schweren und dunklen Thema „Sexueller Missbrauch an Kindern“ aus den Medien entnehmen müssen. Ich möchte nicht falsch verstanden werden, denn ich finde es sehr gut, dass darüber mittlerweile konstant berichtet wird, auch wenn ich mit der einen oder anderen Berichterstattung nicht im Ansatz einverstanden bin. Die Gesellschaft muss verstehen, dass all diese Fälle eben keine Einzelfälle sind, sondern nur die Spitze eines Eisbergs abbilden. So wird mittlerweile fast schon stündlich darüber informiert, dass immer mehr Kindern in Deutschland schwerste Gewaltverbrechen angetan wurden bzw. werden. Sexualisierte Gewaltverbrechen, „Kinderpornografie“, wie die aktuell korrekte juristische Bezeichnung noch lautet, sind Dokumentationen schwerster Gewalttaten, verübt von erwachsenen Täterpersonen (w/m) an (häufig betäubten) Kindern, ausschließlich für erwachsene Menschen (w/m) hergestellt. Diese Gewalt-Dokumentationen werden dann im weiteren Verlauf zum Handel und zum Verkauf in einschlägigen Foren im Darknet angeboten, und verbleiben im Netz. Selbst wenn die Tat aufgedeckt werden kann und die Täterpersonen (w/m) unter Umständen „verurteilt“ werden, , hört das Martyrium für die davon Betroffenen solange nicht auf, solange diese Dokumentationen noch im Netz kursieren. Das wiederum führt zu einer enormen zusätzlichen psychischen Belastung.

Hier fehlt es in Deutschland nicht nur eindeutig an Know-how im Ermittlungsbereich, sondern ebenso an Kapazitäten und Ressourcen. Viel schlimmer allerdings ist, dass es an einer flächendeckenden echten Bereitschaft der verantwortlichen politischen Akteure (Bundes- und Länderebene) fehlt, Kinderschutz wirklich zur Chefsache machen zu wollen. Es ist ein Skandal, dass ein Großteil des Kinderschutzes in Deutschland auf den Schultern des Ehrenamtes lastet und wichtige Maßnahmen wie die Prävention und die Intervention als „ehrenamtliche Freiwilligenarbeit“ angesehen werden. Kinderschutz gehört priorisiert an erster Stelle jeder politischen Agenda – parteiübergreifend und länderübergreifend! Lippenbekenntnisse werden auch in Zukunft nicht ausreichen. Es wurde genug geredet – jetzt müssen auf Worte endlich Taten folgen.

Gewalt hat viele Gesichter

Ich werde immer wieder gefragt, wie kann all das nur passieren?

Und das ist in der Tat eine Frage, die weder einfach noch pauschal beantwortet werden kann. In der Fachwelt spricht man von Viktimisierung (Prozess des Opfer-Werdens) und der Reviktimisierung (Prozess vom Opfer selbst zur Täterperson zu werden).

Bei der Viktimisierung werden drei Stufen unterschieden, die aber nicht zwangsläufig aufeinanderfolgen müssen. [v] Primäre Viktimisierung umfasst die eigentliche Opferwerdung, also die Schädigung einer oder mehrerer Personen durch einen oder mehrere Täter und Täterinnen. Ausgelöst und beeinflusst wird diese Phase durch verschiedene Situationsmerkmale, Opfereigenschaften, Opferverhalten, die Art der Täter-Opfer-Beziehungen und Tätereigenschaften.[vi]

„Welche psychischen Mechanismen ihm zugrunde liegen, ist bislang allerdings nur unzureichend geklärt. Nach Ansicht von Estelle Bockers und Professor Dr. Christine Knaevelsrud liegt, neben verschiedenen weiteren Faktoren, eine mögliche Ursache in Bindungsmustern, die in der Kindheit erlernt wurden. In der Thieme Fachzeitschrift „PiD Psychotherapie im Dialog“ geben die beiden psychologischen Psychotherapeutinnen, die an der Freien Universität Berlin tätig sind, einen Überblick darüber, welche Rolle bindungsbezogene Aspekte bei der Reviktimisierung spielen könnten.“[vii]

Unter Umständen zeigt dieser kurze Auszug bereits, wie komplex das große Thema Gewalt ist, weshalb ich als Trainerin für Gewaltprävention mit Schwerpunkt „Sexualisierte Gewalt an Kindern“ immer darauf achte, mit sehr viel Bedacht darauf hinzuweisen, dass es nicht nur „den einen Grund“ für Gewalt im Allgemeinen, insbesondere gegen Kinder gibt. Gewalt hat viele Gesichter.

Sie entsteht nicht selten, wenn soziale Unterstützung fehlt, sozusagen ein Mangel vorliegt. Ein Mangel an positiver Begleitung, an Liebe, an Geborgenheit, an positiver Bindungserfahrung. So wird im Umkehrschluss der Grundstein für eine gesunde geistige, psychische und emotionale Entwicklung bereits sehr früh in der Kindheit gelegt. Im besten Fall durch eine gewaltfreie Be- und Erziehung von und zwischen den erwachsenen Begleitpersonen (Eltern u. a.), ebenso gegenüber den Kindern. Positive Bindungserfahrungen, Sicherheit und Geborgenheit sind demnach wichtige Voraussetzungen für ein starkes und gesundes Selbst. Alles was wir tun, hat eine Wirkung auf andere Menschen. Jeder Gestik, jede Mimik, jede Haltung. Fühlen wir Liebe – geben wir Liebe. Fühlen wie Schmerz – geben wir Schmerz. Darauf möchte ich allerdings zu gegebener Zeit intensiver in diesem Artikel eingehen.

Klar zu erkennen ist die Tatsache, dass Täterpersonen (w/m) in den meisten Fällen bei verübten Gewalttaten an Kindern eben nicht die großen Unbekannten sind, sondern sehr häufig die eigenen Eltern, Stiefeltern, Großeltern, Geschwister und/oder andere Begleit- und Vertrauenspersonen, und damit überdurchschnittlich häufig aus dem engsten sozialen und familiären Umfeld  der betroffenen Kinder kommen. Das sollte uns als Gesellschaft zu denken geben. Denn die Frage, die sich hieraus ergibt, ist: Wie gut unterstützt dieses Land seine Familien? Und entgegen der häufig verbreiteten und immer wiederkehrenden Annahmen sind die Täterpersonen eben nicht nur männlich, sondern sehr häufig auch weiblich, was die Aufdeckung der Straftaten um ein Vielfaches komplizierter macht. Die Gesellschaft tut sich noch immer schwer bei der Vorstellung weiblicher Gewalttäterinnen. Sexualstraftäterinnen sind nicht selten allerdings die eigenen Mütter. Hier ist übrigens schon die erste gedankliche Hürde zu nehmen. Mütter / Eltern sind doch dafür da, ihre Kinder vor Leid und Gewalt zu schützen? So die Wunschvorstellung. Doch die Realität sieht für viele Kinder in Deutschland besorgniserregend anders aus. Aus der Mitte unserer Gesellschaft heraus, meistens völlig unbemerkt, erleiden Kinder schwerstes körperliches und seelisches Leid und werden damit sehr häufig, meistens sogar ein ganzes Leben lang, allein gelassen.

Eine Zahl und viele Betroffene

Wie viele Kinder sind in Deutschland tatsächlich von sexuellem Missbrauch betroffen?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichte im Jahr 2013 einen Bericht zum Thema „Misshandlung von 18 Mio. Kindern“. Sie schreibt in diesem Bericht, dass 18 Mio. Kinder unter 18 Jahren in Europa von Misshandlungen betroffen sind. Allerdings mit dem Vermerk, dass diese Form der Kindesmisshandlung als physischer, sexueller oder emotionaler Missbrauch bzw. Vernachlässigung und Verelendung definiert ist.[viii]

In diesem Bericht geht es demnach vordergründig um „Misshandlungen“ und nicht ausschließlich um sexuelle Gewalt. Das ist ein großer Unterschied.

Des Weiteren ist zu beachten, dass rechtlich in Deutschland als „Kinder“ ausschließlich jene Personen bezeichnet werden, die zwischen 0 und 14 Jahre alt sind. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezieht sich in ihrem Bericht allerdings auf alle Menschen unter 18 Jahren. Damit sprechen wir, zumindest für Deutschland, eben nicht nur von Kindern, sondern von minderjährigen Kindern und Jugendlichen.

Bedauerlicherweise habe ich in den letzten Jahren immer wieder den Eindruck gewinnen müssen, dass die Inhalte aus genau diesem Bericht sehr häufig, auch von exponierten Stellen, nicht richtig interpretiert wurden und nach wie vor nicht richtig interpretiert werden. In einer im Jahr 2016 erschienen Interviewstudie mit Männern und Frauen, die als Kind sexuelle Gewalt erlebt haben, haben sich die Verfasser im Vorwort auf den oben angesprochenen Bericht bezogen, und daraus gefolgert, dass 18 Millionen Kinder in Europa von sexuellem Missbrauch betroffen seien. [ix]  Hierbei beziehen sich die Verfasser auf den bereits oben angesprochen WHO-Bericht. Das ist allerdings falsch interpretiert. In diesem Bericht steht geschrieben, dass 18 Millionen Kinder in der Europäischen Region betroffen sind von „Gewalt“. Hierzu wird mit einem Querverweis auf die Definition von Gewalt hingewiesen. Selbstverständlich geht es auch um sexuelle Gewalt an Kindern, aber nicht ausschließlich. Daraus ergibt sich eine völlig andere Realität, was die Sache für die von Gewalt betroffen Kinder und Jugendlichen weder in der Europäischen Region noch in Deutschland besser macht.

Auf der Seite des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs findet man diesen Bericht sozusagen als Grundlage für die Hochrechnung des sexuellen Missbrauchs an Kindern in Deutschland aus dem Jahr 2017. Dort heißt es, dass man für Deutschland von einer Million betroffener Mädchen und Jungen ausgeht, die sexuelle Gewalt erlebt haben oder zu diesem Zeitpunkt erlebten. Das waren pro Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder. Diese Zahl ergab sich, wenn man von 13 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland ausgeht, von denen rund zwei Drittel – gut 8 Millionen Kinder und Jugendliche – eine allgemeinbildende Schule besuchten. Damit wurde von rund zwei Drittel Schülerinnen und Schülern unter den betroffenen Mädchen und Jungen in Deutschland ausgegangen. Folglich waren ca. 600.000 Schülerinnen und Schüler betroffen, die sich – bei einer angenommenen durchschnittlichen Schülerzahl von 20 – auf ca. 400.000 Klassen verteilten. Damit wurde pro Schulklasse von ein bis zwei betroffene Kinder ausgegangen.[x]

So ging man in der Berechnungsgrundlage des Unabhängigen Beauftragten für die Jahre 2016 und 2017 von 13 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland aus. Nach Angaben des statistischen Bundesamtes gab es im Jahr 2016 jedoch 10,3 Millionen Kinder (0-14 Jahren) und 3,2 Millionen Jugendliche (14-18 Jahren). Das ergibt für diesen Zeitraum genau genommen einen Anteil von 13,47 Millionen Kinder und Jugendlicher unter 18 Jahren in Deutschland. [xi] Das sind 470.000 Menschen unter 18 Jahren mehr als in der angeführten Berechnungsgrundlage der Stelle des Unabhängigen Beauftragten (UBSKM) angegeben.

Im Jahr 2017 gab es 10,4 Mio. Kinder (0-14 Jahren) und 3,1 Mio. Jugendliche (14-18 Jahren). Das ergibt für Deutschland einen Bevölkerungsanteil der unter 18-jährigen von 13,5 Mio. Doch auch hier fehlen erneut 500.000 junge Menschen in der Berechnungsgrundlage der Stelle des Unabhängigen Beauftragten. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, doch in den zwei Jahren, die für die Berechnungsgrundlage von großer Relevanz waren, wurden schlicht und ergreifend einfach mal knapp 1 Millionen junge Menschen in der Berechnung vergessen. Es sollte an sich jedem klar sein, dass Annahmen nur dann annähernd realistisch sein können, wenn die zu Grunde gelegten Zahlen auch richtig erfasst und vor allem inhaltlich korrekt interpretiert werden.

Konkret heißt das, dass nicht nur der Inhalt des ursprünglich angeführten WHO-Berichtes aus dem Jahr 2013 immer wieder falsch interpretiert wurde, sondern auch, dass die hieraus erfolgten Rückschlüsse und Annahmen fehlerhaft und damit unzureichend sind.

In einem neuen Bericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 13. Januar 2020 heißt es nun: „Jahr für Jahr erleiden mindestens 55 Millionen Kinder in der Europäischen Region der WHO in irgendeiner Form körperliche, sexuelle, emotionale oder physische Gewalt. Trotz dieser Größenordnung gilt als sicher, dass die Dunkelziffer für zwischenmenschliche Gewalt deutlich höher liegt.“ Desweitern heißt es: „Hinsichtlich der Dunkelziffer für Kindesmissbrauch gehen Experten davon aus, dass von den 204 Mio. Kindern unter 18 Jahren in der Europäischen Region 9,6% sexuellen Missbrauch, 22,9% körperliche Misshandlung und 29,1% emotionale Misshandlung erleben. Darüber hinaus fallen in der europäischen Region jedes Jahr 700 Kinder Tötungsdelikten zum Opfer.[xii]

Aus dieser Darstellung ergibt sich, dass man davon ausgehen muss, dass 19,6 Millionen Kinder und Jugendliche in der europäischen Region von sexuellem Missbrauch betroffen sind. Das klingt dramatisch, doch was heißt das nun konkret für Deutschland?

Lassen Sie uns hierzu einmal auf die aktuellen Zahlen aus der polizeilichen Kriminalstatistik schauen:

Am 11. Mai fand hierzu die einmal jährliche stattfindende Bundespressekonferenz der Deutschen Kinderhilfe  – die ständige Kindervertretung e. V. –  zum Thema „Vorstellung der Zahlen kindlicher Gewaltopfer“ statt. Es wurden die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) zu Grunde gelegt, die Zahlen des sogenannten Hellfeldes. Was bedeutet, dass es sich hierbei nur um die Zahlen der bei der Polizei angezeigten und damit registrierten Fälle handelt. Dem Grunde nach konnte man in den letzten Jahren bis 2015 ein Gleichbleiben auf hohem Niveau feststellen.

Seit 2016 allerdings zeigt sich ein besorgniserregender Trend im Bereich der sexuellen Gewalt an Kindern, vor allem in dem Zusammenhang mit der Herstellung, dem Besitz und der Verbreitung von sogenanntem „kinderpornografischen Material“. Hier gibt es eine bemerkenswerte Steigerung um 64,61% (von 7.449 auf 12.262 Fälle). Die Zahl beim sogenannten sexuellen Missbrauch stieg gegenüber dem Vorjahr um 8,96% an (14.606 auf 15.936 Fälle), und die der Vergewaltigungen sogar um 19,9% (von 179 auf 218 Fälle).[xiii]

Aus diesen Zahlen ergibt sich der Hinweis, dass in Deutschland im Durchschnitt täglich 44 Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern angezeigt werden. Hier werden allerdings nicht selten bereits Opferzahlen und Fallzahlen miteinander verwechselt, was häufig zu Missverständnissen, gerade mit Medienvertretern, führt. Interessanter Weise hält sich die Stelle des Unabhängigen Beauftragten Rörig in ihrem Bericht „ Fakten und Zahlen zu sexueller Gewalt an Mädchen und Jungen“ eher bedeckt und verweist sehr vorsichtig auf über 13.000 bei den Ermittlungsbehörden bekannt gewordene Straftaten des sexuellen Kindesmissbrauchs (§§ 176, 176a, 176b StGB). [xiv] Das führt nachweislich auch in der Öffentlichkeit zu unglücklichen Missverständnissen, denn die saloppe Formulierung: „über 13.000 bei den Ermittlungsbehörden bekannt gewordenen Straftaten“, lässt viel Raum für Fehlinterpretationen. So wurde unlängst in einem TV-Bericht ein Beitrag zu diesem Thema gezeigt, mit dem Hinweis, es hätte im Jahr 2019 13.000 bei den Ermittlungsbehörden bekannt gewordenen Straftaten des sexuellen Kindesmissbrauchs gegeben. Das ist eindeutig falsch interpretiert. Es waren nicht „nur“ 13.000 angezeigte Fälle des sogenannten sexuellen Missbrauchs an Kindern, sondern 15.936 Fälle. So jedenfalls die Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Warum also bezieht sich die Stelle des Unabhängigen Beauftragten nicht konkret auf die in der Bundespressekonferenz am 11. Mai 2020 vorgestellten und veröffentlichten Zahlen?

Ich bin mir sehr wohl darüber bewusst, dass jedes einzelne betroffene Kind ein betroffenes Kind zu viel ist, und selbstverständlich sollten Zahlen auch nicht in den Mittelpunkt dieser Ausführungen gerückt werden. Doch ich habe mich sehr bewusst für diesen Einstieg entschieden, um die grundsätzliche Frage erneut aufzuwerfen: Wie wichtig ist diesem Land das Thema „Sexueller Missbrauch an Kindern“ wirklich? Wie wichtig ist dieses Thema vor allem den verantwortlichen politischen Akteuren, und was ist diese Gesellschaft bereit, in die Betrachtung, Untersuchung und Nachforschung dieses Gewaltbereiches investieren zu wollen? Fakt ist, dass es in Deutschland keine aktuellen Dunkelfeldstudien zu allen wichtigen Themen, die mit dieser schwerwiegenden sexuell motivierten Gewaltform einhergehen, gibt. Parameter, die Aufschluss darüber geben könnten, welche Zahlen tatsächlich realistisch anzusetzen sind, fehlen flächendeckend. Dies wurde mir von unterschiedlichen Stellen bestätigt. Durchgängige und solide Forschungen auf diesem Gebiet fehlen derzeit gänzlich, würden diesem hochkomplexen und sensiblen Bereich jedoch sicher helfen, einheitliche und „realitätsnahe“ Annahmen treffen zu können, um Spekulationen und Fehlinterpretationen entgegenzuwirken. Denn eines sollte ohne jeden Zweifel klar sein: die Fälle des sexuellen Missbrauchs an Kindern in Deutschland sind um ein Vielfaches höher einzuschätzen als die Zahl der tatsächlich angezeigten und registrierten Fälle bei der Polizei.

Eine Schlacht kann nur dann erfolgreich gewonnen werden, wenn das Schlachtfeld und der  Gegner genaustens im Vorfeld beobachtet und studiert wurden.

Kurzum: Es fehlen valide Zahlen, die eine genaue Annahme darüber zulassen, wie viele Kinder und Jugendliche tatsächlich von dieser Gewaltform jährlich in Deutschland betroffen sind (Hellfeld) bzw. sein könnten (Dunkelfeld). Es ist ein offenes Geheimnis, dass bei weitem nicht alle sexualisierte Gewalttaten an Kinder und Jugendlichen in Deutschland erfasst werden.

Schon gewusst?

Man ist sich mittlerweile einig darüber, dass Deutschland mit einem chronischen und ernstzunehmenden Massengewaltproblem zu tun hat. „Sexueller Missbrauch an Kindern“, auch hier noch die aktuell juristisch korrekte Bezeichnung, sind sexuell orientierte Gewalttaten, häufig ausgeübt von erwachsenen Täterpersonen (w/m) gegenüber Kindern und Jugendlichen. Doch was wissen wir über Kinder und Jugendliche, die selbst sexuell übergriffig sind bzw. werden? Aus der polizeilichen Kriminalstatistik ist zu entnehmen, dass der Anteil dieser „Tätergruppe“ mit insgesamt 30% alles andere als unerheblich ist. So hatten wir im Jahr 2019 einen Anteil tatverdächtiger Kinder (0-14 Jahren) von 10,2%. Der Anteil der tatverdächtigen Jugendlichen (14-18 Jahren) liegt sogar bei 20,2%. Auch wenn die Fachwelt sich darauf verständigt hat, diesbezüglich nicht von Tätern (w/m) zu sprechen, macht es die Sache für davon Betroffenen keinesfalls besser. Was also wissen wir konkret über die Motive und Gründe dieser Kinder und Jugendlichen? Hier spricht die Fachwelt nicht selten von einer Reviktimisierung. Betroffene Kinder, die selbst als Kinder oder Jugendliche sexuell übergriffig werden, oder dann im weiteren Verlauf im erwachsenen Alter zu Täterpersonen (w/m) werden. Doch wie bereits zu Beginn dieses Artikels dargelegt, sind die psychischen Mechanismen, die diesen Prozess zugrundeliegende, nur unzureichend abgeklärt. Forschungsarbeiten hierüber fehlen.

Irrglaube!

In Deutschland braucht es dringend die Bereitschaft, in die Sexualforschung investieren zu wollen, vor allem in Bezug auf das Dunkelfeld weiblicher Täterpersonen. Es muss darüber gesprochen werden, dass Frauen, auch wenn sie nicht selbst die körperlichen Grenzverletzungen und Gewalttaten an ihren eigenen und oder auch an fremden Kindern verüben, häufig mindestens Mittäterinnen sind, weil sie bewusst wegschauen. Zudem agieren Frauen nicht selten als „Schlepperinnen“, indem sie die eigenen Kinder für den sexuellen Missbrauch anbieten und damit einem bestimmten Täterkreis zuführen. Dem Grunde nach überhaupt erst die Voraussetzungen für den sexuellen Missbrauch schaffen, um im weiteren Verlauf das Verbrechen und die Täterpersonen zu schützen, weil sie „deren Verbrechen“ decken.

Auch diesbezüglich sind die Motive vielfältiger Natur, und gehören daher ebenso intensiv beforscht.

Ein weiterer Irrglaube besteht im Allgemeinen über den Begriff Pädophilie. Ich möchte mir nicht anmaßen, dieses Themengebiet bis in die Tiefe zu erläutern, weshalb ich es nur zum allgemeinen Verständnis kurz aufgreifen möchte. Pädophilie oder auch Pädosexuelle Ansprechbarkeit bezeichnet die Neigung von erwachsenen Menschen (w/m), sich zu Kindern sexuell hingezogen zu fühlen, die noch nicht die Pubertät erreicht haben. Von Seiten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wird Pädophilie als Störung der Sexualpräferenz bezeichnet.[xv]

Auch hier gibt es viele unterschiedliche Strömungen, weshalb mit Bedacht über diese Störung zu sprechen ist. In regelmäßigen Abständen jedoch stelle ich fest, dass Menschen grundsätzlich annehmen, dass Täterpersonen (w/m) pädophil seien. Das ist schlicht und ergreifend falsch. Nicht jeder pädophile Mensch (w/m) wird zum Täter und nicht jede Täterperson (w/m) ist pädophil.

Es heißt, etwa 1% der männlichen Bevölkerung gilt als pädophil im klinischen Sinn. In Deutschland sind das rund 250.000 Männer.

Und doch hat eine im Jahr 2019 durchgeführte Befragung ergeben, dass etwa 3-6% der befragten erwachsenen Männer in Deutschland gelegentlich sexuelle Fantasien, bezogen auf Kinder vor der Pubertät, haben. Das bedeutet, dass die pädosexuelle Ansprechbarkeit erwachsener Menschen (w/m) auf einen kindlichen Körper offensichtlich häufiger vorkommt, als unter Umständen angenommen wird. Pädophilie kann erst diagnostiziert werden, wenn die eigene Präverenzstruktur sicher ausgebildet ist, demnach nicht vor dem 16. Lebensjahr.

Was wissen wir über junge Erwachsene, die pädophile Neigungen verspüren? Welche Anlaufstellen/Beratungsstellen gibt es hierzu bundesweit und flächendeckend?  Wie klären wir in Deutschland zu diesem Thema auf? Die Antwort ist überschaubar: Gar nicht!

Das ist insofern fahrlässig, denn diese Menschen sind auf der Suche nach Antworten, sind im Netz unterwegs, suchen nach etwas, wovon sie selbst unter Umständen noch keine genauen Vorstellungen haben und treffen dort nicht selten auf Täterpersonen (w/m) die ganz konkret anbieten, wonach der Suchende sich sehnt. Sie werden mir sicher Recht geben, wenn ich unterstelle, dass es dann unter Umständen nur noch ein winzig kleiner Schritt sein kann, dann seinem inneren krankhaften Bedürfnis nachzugeben.

Dem Grunde nach weiß man, dass eine frühe therapeutische Maßnahme eine gute Prognose erzielen – und zu einer enormen Entlastung der davon betroffenen Personen führen kann. Warum also gibt es keine flächendeckenden Angebote?

Zudem sollte klar sein, dass wenn die Gesellschaft von Pädophilie spricht, es eben nicht nur den männlichen Pädophilen gibt. Vielmehr müssen wir uns erlauben, auch über Frauen zu sprechen, die ebenso eine abweichende Sexualpräferenz aufweisen können. Demnach gibt es pädophile Männer und Frauen – und es gibt Hilfeangebote. Zu wenige, aber es gibt sie.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang eine möglichst niedrigschwellige Zugangsmöglichkeit zu einer Therapie zu schaffen und das Anliegen des Opferschutzes nicht an bürokratischen Hürden scheitern zu lassen. Potenzielle Täter/innen sollten bei dem schweren Schritt, sich Hilfe zu suchen, vielmehr bestärkt werden.   Um das zu gewährleisten, hat die Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) e.V. eine Krisentelefonnummer eingerichtet, welche kostenlos und anonym angewählt werden kann. Anrufer werden hier unterstützt, keine Straftat zu begehen. Auf eine Vermittlung an die ambulante Therapie bei BIOS-BW e.V. ist auf diesem Weg möglich.

Die Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW) e.V. bietet für Menschen, die befürchten, eine Straftat zu begehen, Therapien an – anonym und kostenlos. Bevor was passiert![xvi]

Pädophilie wird in unserer Gesellschaft tabuisiert, was die Gesamtsituation, für die davon Betroffenen, nicht besser macht. Es braucht ein Umdenken in unserer Gesellschaft. Es sollte, bei allen persönlichen Vorbehalten ein Bewusstsein dafür aufgebaut werden, dass gestörte Menschen Hilfe benötigen und dass die Gesellschaft diese Menschen nicht allein lassen darf. Das Thema Pädophile sollte zudem intensiv epidemiologisch beforscht werden, um die Hilfemaßnahmen so auszurichten und anzupassen, dass die davon möglich ausgehende Gefährdung so gut es geht eingedämmt werden kann.

Es fehlen gesicherte Auskünfte darüber, wie erfolgreich diese Hilfe- bzw. Therapieangebote tatsächlich sind und vor allem wie hoch die Rückfallquote derer ist, die bereits zu Tätern (w/m) wurden.

Viel verantwortungsvoller ist es allerdings, schon sehr viel früher entsprechende Aufklärungs- und Präventionsangebote (primäre Prävention) für Eltern, pädagogische Fachkräfte (w/m), Lehrer (w/m), dem Grunde nach für alle Menschen die regelmäßig mit Kindern zu tun haben, zu installieren. Vor allem aber sollte Prävention gegen sexualisierte Gewalt dort angeboten und umgesetzt werden, wo sie wirklich gebraucht wird: In Kinderaugen und Kinderohren. Am 20. November 1989 wurden von der Generalversammlung der Vereinten Nationen die weltweiten Rechte für Kinder und Jugendliche festgeschrieben und verabschiedet Dieser Beschluss war das Ergebnis eines jahrzehntelangen Prozesses nach dem zweiten Weltkrieg, an dessen Anfang die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Jahr 1948 stand. Darüber hinaus hat auch das Haager Minderjährigenschutzabkommen Bedeutung. Dort heißt es in dem Abschnitt Schutzrechte (Protection): „Rechte auf Schutz der Identität, der Privatsphäre, Schutz vor Trennung von den Eltern gegen den Willen des Kindes (insofern dies nicht dem Schutz des kindlichen Wohlbefindens entgegensteht), Schutz vor Schädigung durch Medien, vor Gewaltanwendung, Misshandlung oder Vernachlässigung, vor wirtschaftlicher Ausbeutung, vor Suchtstoffen, vor sexuellem Missbrauch, vor Entführung, Schutz von Kinderflüchtlingen und Minderheiten, Schutz bei bewaffneten Konflikten, Schutz in Strafverfahren und Verbot der lebenslangen Freiheitsstrafe.“[xvii]

31 Jahre nach der UN-Kinderrechtskommission ist es ein offenes Geheimnis, dass so gut wir keine Aufklärungsarbeit in den frühkindlichen Bildungseinrichtungen, sowie in den Grundschulen in Deutschland umgesetzt werden. Genauso wenig gibt es flächendeckende Präventions- und Schutzkonzepte, selbst nicht in den Bundesländern, die sich der Initiative des Unabhängigen Beauftragten Rörig „Schule gegen sexuelle Gewalt“ angeschlossen haben. Es gibt klare Handlungsaufforderungen des Unabhängigen Beauftragten Rörig, die mit der Umsetzung dieser Initiative einhergehen, und die von den Ländern fast einheitlich ignoriert werden. Auch hier wurde viel von den politischen Verantwortlichen der Länder geredet und nur wenig bis gar nichts eingehalten oder gar umgesetzt.  Kinder haben Rechte. Auch das Recht auf Aufklärung gegen sexuelle Ausbeutung. Doch wie sollen sie zu ihrem Recht kommen, wenn am Ende des Tages das enorm ausgeprägte Elternrecht darüber entscheidet, ob Kindern diese Angebote zu Teil kommen dürfen? Täterpersonen (w/m), die vor allem aus dem familiären Umfeld der Kinder kommen, werden selbstverständlich alles daran setzen, dass ihre Kinder nicht aufgeklärt werden. Deshalb braucht es zeitnah die Unterstützung zur Umsetzung von kindgerechten Aufklärungsangeboten von übergeordneter politischer Instanz, so dass Kinder verstehen können, dass das, was ihnen unter Umständen angetan wird, Unrecht ist und nicht sein darf. Es braucht eine gesamtgesellschaftliche Bereitschaft zur Prävention und Intervention und eine Bereitschaft, betroffenen Menschen mit Respekt und Achtsamkeit zu begegnen.

„Wenn unsere Gesellschaft all diese vielen betroffenen Menschen bereits im Vorfeld nicht vor dieser perfiden Gewaltform schützen konnte, liegt es dann nicht in ihrer Verantwortung, alles dafür zu tun, dass diese Menschen im Nachgang all das bekommen, was ihnen hilft, um schnelle Heilung zu erfahren und im weiteren Verlauf abgesichert und stabil weiterleben zu können?“

Warum also müssen betroffene Menschen in Deutschland um Opferentschädigungen und Therapiemaßnahmen „kämpfen“?

Sie sehen, es bleibt noch viel zu tun!

Prävention ist eine Frage der eigenen inneren Haltung

Aktuell wird viel über das Thema Prävention, hinsichtlich „Sexueller Missbrauch an Kindern“ gesprochen, doch was bedeutet Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Kindern konkret? Die Gewaltprävention wird in drei unterschiedliche Bereiche unterteilt. Die primäre Gewaltprävention, die sekundäre und die tertiäre Gewaltprävention.

Die primäre Gewaltprävention beschäftigt sich mit der Stärkung der sozialen Kompetenzen, ohne vorangegangenes Ereignis. Das heißt, über eine gute eindrückliche und nachhaltige Aufklärung wird im besten Fall dafür gesorgt, dass erst keine Möglichkeiten für Gewalt, welcher Form auch immer, entstehen können. Sozusagen der erste wichtige Schritt. Sexuelle Gewalt an Kindern wird in Deutschland noch immer stark tabuisiert. Das heißt, Menschen können oder wollen nicht darüber sprechen. Das hat unterschiedliche Gründe. Ein möglicher Grund kann sein, dass es emotional schwer aushaltbar ist und damit nicht ins Bewusstsein gerückt werden soll. Oder dass Menschen möglicherweise selbst betroffen waren oder sind. Und weil noch immer, trotz dieser immer wiederkehrenden schlimmen Fälle, nicht die Notwendigkeit des Themas verstanden und erfasst wird. Nicht selten gehen noch immer viele Menschen in Deutschland davon aus, dass sexuelle Gewalt an Kindern nur sehr selten vorkommt.

Deshalb ist es wichtig, dass darüber gesprochen wird, und zwar offen.

Mein Schwerpunktthema ist die Qualifizierung im Bereich der primären Prävention zum Thema sexualisierte Gewalt an Kindern.  Wenn Eltern mich fragen, was sie tun können, um ihre Kinder zu schützen, dann sage ich nicht selten: „Lieben sie ihr Kind, bestätigen sie ihr Kind, begleiten sie ihr Kind, verbindlich und positiv, stärken sie ihr Kind.“ In der Einleitung bin ich bereits auf positive Bindungserfahrungen eingegangen.

Gewalt entsteht immer dann, wenn soziale Unterstützung fehlt. Sozusagen ein Mangel vorliegt. Ein Mangel an positiver Begleitung, an Liebe, an Geborgenheit, an positiver Bindungserfahrung. So wird im Umkehrschluss der Grundstein für eine gesunde geistige, psychische, und emotionale Entwicklung bereits sehr früh in der Kindheit gelegt. Der Mensch als solches ist ein Wesen der Bezogenheit – er braucht positive Bestätigung und Anerkennung, um sich seiner selbst gewahr zu werden.

Wenn Kinder im Elternhaus viel Ablehnung erfahren, dann wird ihnen ein Gefühl von Wertlosigkeit vermittelt. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass dies ein sehr destruktives Gefühl ist, das ausgeglichen werden möchte. Täterpersonen (w/m) erkennen Kinder, die unter einem emotionalen Mangel leiden und haben so ein leichtes Spiel, sich diesen Kindern annähern zu können. Diese Anbahnung kann in der realen, wie auch in der virtuellen Welt erfolgen. Denn diese Kinder werden „falsche Zuneigung“ nicht von „aufrichtiger Zuneigung“ unterscheiden können und aus ihrer emotionalen Not heraus nehmen, was sie bekommen können.

Wenn Kinder im Elternhaus viel Gewalt erfahren, physische und psychische Gewalt, dann traumatisiert sie das nicht nur nachhaltig auf eine enorm zerstörerische Art und Weise, sondern es wird sie nie zwischen „guten Gefühlen“ und „schlechten Gefühlen“ unterscheiden lassen können. Das ist fatal – denn diese Kinder werden durch ihre enorme Unsicherheit leichter zum Opfer.

Daher setzt die primäre Prävention in der Achtsamkeit an. Ein positives Selbstbewusstsein entsteht durch eine sichere, offene, verbindliche und liebende Begleitung. Wohl gemerkt, Begleitung und nicht Kontrolle. Kontrolle führt immer nur zur Abschottung und Konspiration und hat vor allen Dingen nichts mit Vertrauen zu tun. Es bedeutet, sich darüber gewahr zu sein, was man kann und wer man ist, um im weiteren Verlauf zu lernen, wie man sich von anderen Menschen abgrenzen kann – weil man das auch darf.

Weshalb für mich Präventionsarbeit auch immer Elternarbeit ist. Eltern müssen verstehen, dass sie ihren Kindern gegenüber eine Verantwortung von herausragend großer Bedeutung haben. Darum ist Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Kindern auch immer eine Frage der eigenen inneren Haltung. Eine Frage von Würde und Handlungsbereitschaft, die offensichtlich zum großen Thema Kinderschutz in Deutschland noch nicht besonders ausgeprägt scheint.

Dr. med. Susanne Wolf ist Fachärztin für Allgemeinmedizin, arbeitet in Münster und ist Mutter von drei Kindern. Sie ist interkulturell aufgewachsen und verbrachte den größten Teil ihrer Kindheit in Kanada.

Es gibt in jedem Land Vor- und Nachteile und wir können viel voneinander lernen. In Bezug auf Erziehung schätze ich Kanada sehr. Das Thema Selbstvertrauen und Sexualerziehung ist viel präsenter als in Deutschland.  Auch schätze ich, dass die Gesamtbevölkerung sich mitverantwortlich fühlt.

Prävention und selbstbewusste Erziehung ist nicht die Aufgabe von Einzelpersonen oder einer bestimmten Gruppe. Ganz gleich, ob wir Eltern, Nachbarn, Pädagogen oder im Gesundheitswesen tätig sind, jeder kann und muss dazu beitragen, Kinder in diesem Sinne zu erziehen und zu fördern.

 

Wenn Bezugs- Elternpersonen selbst stark verunsichert sind, eigenes Erlebtes nicht gut verarbeiten konnten, von Wut und Schmerz angetrieben werden, sich selbst nicht spüren und regulieren können, wie wollen solche erwachsene Menschen Kinder darin unterstützen und begleiten, ein eigenes gesundes Selbst aufbauen zu können? Man weiß, dass gestresste, überlastete, und unter Umständen selbst traumatisierte Menschen, Eltern und Bezugspersonen, sehr mit sich selbst „zu kämpfen“ haben und darüber hinaus die Bedürfnisse ihrer Kinder aus den Augen verlieren. Daher braucht es Entlastung! Nicht nur für Familien, sondern dem Grunde nach für alle Menschen, die mit Kindern arbeiten.

An dieser Stelle möchte ich gerne auf die Publikationen von Frau Gundula Göbel (Herzensbindung), Manuela Hubert (Frühes Trauma – späte Folgen) und Herrn Thomas Harms (Bindungsintervention für Eltern) verweisen:[xviii]

Der Grundstein für eine gelungene Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Kindern wird demnach im eigenen Elternhaus gelegt. Eltern sollten allerdings hierzu angeleitet werden und sollten zudem ausreichend Unterstützung von den zuständigen Stellen bekommen. Hier wäre sicherlich eine Überlegung zur „Elternschule“ sinnhaft.

Daher müssen Eltern als Bezugspersonen ihrer Kinder zu diesem wichtigen Thema – frei von Hysterie – geschult werden, damit sie sexuelle Gewalt an den eigenen Kindern auch als solche erkennen können. Hier braucht es zukünftig viel mehr Angebote für die Eltern.

Die Zahlen der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) haben einmal mehr gezeigt, dass der gefährlichste Ort für Kinder in Deutschland bedauerlicherweise das soziale und familiäre Nahfeld ist, weshalb es intensive und nachhaltige Präventionsmaßnahmen in den frühkindlichen Bildungseinrichtungen sowie auch in den Schulen und Vereinen braucht -außerhalb vom möglichen Tatort. Es braucht genügend Personal in den Einrichtungen (Entlastung) und zum anderen langfristige Präventionsprojekte, die mit Leben gefüllt werden müssen. Es braucht sinnhafte und gelebte Schutzkonzepte in den Einrichtungen, einhergehend mit einem entsprechenden Leitbild. Wofür steht die Einrichtung? Was sind ihre Werte? Sozusagen ein nach außen getragenem Selbstverständnis der erarbeiteten Grundprinzipien gegen Gewalt, insbesondere gegen sexualisierte Gewalt an Kindern.

Klingt einfach – doch die Umsetzung ist sehr umfangreich und zeitaufwendig und keiner will es bezahlen!

Prävention gegen sexualisierte Gewalt an Kindern ist bisher noch immer keine gesetzliche Pflichtaufgabe der Länder und Kommunen, sondern vielmehr eine “ freiwillige “ Aufgabe, die damit immer unter einem Haushaltsvorbehalt steht.

Bereits vor der Covid-19 Krise war die Bereitschaft der verantwortlichen kommunalen Akteure so gut wie nicht vorhanden. Weshalb nun, durch die zu erwartenden Gewerbesteuerausfälle aufgrund der Pandemie, auch nicht mit mehr Bereitschaft zu rechnen sein wird.

Eines sollte jedenfalls klar sein: Prävention ist Kinderschutz und Kinderschutz kostet nun einmal Geld!

 


[i] Josefine Barbaric, geb. 1975, ist Trainerin für Gewaltprävention, Buchautorin und Referentin

[ii] Aerzteblatt.de Archiv, Stockholmer Weltkongress 1996, „Sexuelle Ausbeutung von Kindern: Weltweite Empörung – und dann?“

[iii] Europäische Kommission, Vertretung Deutschland, Vertragsverletzungsverfahren: Kommission leitet in 17 Fällen rechtliche Schritte gegen Deutschland ein 25. Juli 2029

[iv] „Neuen Osnabrücker Zeitung“ – Samstagsausgabe vom 04. Juli 2020

[v] Kiefl & Lamnek, 1986, S. 167

[vi] Kiefl & Lamnek, 1986, S. 170

[vii] Thieme Fachzeitschrift „PiD Psychotherapie im Dialog“

[viii] Weltgesundheitsorganisation, WHO Bericht „Misshandlung von 18 Millionen Kindern“ vom 17. September 2013

[ix] Erinnern, Schweigen und Sprechen nach sexueller Gewalt in der Kindheit, Springer Fachmedien Wiesbaden 2016

[x] Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Übersicht sexueller Missbrauch, Zahlen u. Fakten

[xi] DSTATIS Statistisches Bundesamt 2016/2017

[xii] Weltgesundheitsorganisation, WHO Bericht „Gewalt gegen Kinder: Bekämpfung versteckten Kindesmissbrauchs“ vom 13. Januar 2020

[xiii] Die Deutsche Kinderhilfe – Die ständige Kindervertretung e. V. – Bundespressekonferenz aus Pressemappe zum Thema Vorstellung der Zahlen kindlicher Gewaltopfer – Auswertung der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) 2019

[xiv] Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs – Fakten und Zahlen zu sexueller Gewalt an Mädchen und Jungen, Stand Mai 2020

[xv] International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems 10th Revision (ICD-10) Version for 2010

[xvi] Stellungnahme gesamtgesellschaftliche Präventionsaufgabe des Kinderschutzes 03. Juli 2020, Lisa Bux – Justiziarin BIOS-BW e. V.

[xvii] UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) 20. November 1989

[xviii] Gundula Göbel, Kinder und Jugendlichen Psychotherapeutin „Schrei nach Geborgenheit“ u. „Emotionale Hungersnot“ 2014