Jugendkriminalität – eine Betrachtung (auch) aus soziologischer Perspektive

Polizeidirektor Christoph Keller, HSPV NRW – Abteilung Münster

1. Einleitung

Jugendkriminalität ist in der öffentlichen Diskussion ein Dauerthema. Dabei umfasst der Begriff der Kriminalität diejenigen Formen sozialen Handelns, die im Rahmen von strafrechtlichen Normen als kriminell eingeordnet und mit negativen Sanktionen in Form von Strafen oder Maßregeln belegt werden. Im Zusammenhang mit Jugendlichen wird mithin der Begriff Delinquenz verwendet, der aus dem angloamerikanischen Jugendstrafrecht Ende des 19. Jahrhunderts hervorgeht und Gesetzesverstöße Jugendlicher von kriminellen Handlungen Erwachsener abgrenzen soll. Die sich in den Diskussionen rund um Jugendkriminalität widerspiegelnden Meinungen sind relativ homogen, insofern die Bevölkerung in aller Regel glaubt, dass insbesondere unter Jugendlichen die Häufigkeit und die Brutalität von gewalttätigen Übergriffen immer mehr zunehmen. Das ist eine undifferenzierte Verkürzung und bedarf der einschränkenden Hinweise auf die größere Sichtbarkeit der Delinquenz junger Menschen und der erhöhten Kontrolle, der sie unterliegen. Dies führt u.a. dazu, dass Jugendkulturen oder die Jugend schlechthin dämonisiert, idealisiert oder entwertet wird und entweder Momente des Widerstands, der Devianz oder auch der Angepasstheit überbetont werden.

Allerdings ist die Gesamtentwicklung der Jugendkriminalität in den letzten Jahren rückläufig und nicht, wie so manche Medienberichte vermuten lassen, ansteigend. Eine Erklärung, weshalb Menschen die Kriminalitätsentwicklung so negativ wahrnehmen, liegt in der Tat vor allem in der medialen Verarbeitung von entsprechenden Gewaltvorfällen. Hier wird das Bild geprägt, welches die Bevölkerung von der Jugendgewalt in Deutschland entwickelt. Der Mythos einer steigenden und immer brutaler werdenden Jugendkriminalität steht diametral zu kriminologisch-soziologischen Erkenntnissen; hier ergibt sich ein differenzierteres Bild. Die Tatverdächtigenbelastungszahl (TVBZ) der Kinder (8 bis 14 Jahre), Jugendlichen (14 bis17 Jahre) und Heranwachsenden (18 bis unter 21 Jahre) verdoppelte sich zwar tatsächlich in Deutschland zwischen der Mitte der 1980er Jahre und 2004; nach der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) am massivsten bei den Jugendlichen von ca. 3400 auf ca. 6100 und den Heranwachsenden von ca. 4000 auf ca. 7700.

Seitdem ist aber ein kontinuierlicher Rückgang auf ca. 4500 bzw. 5500 zu verzeichnen. Insbesondere im Bereich der Jugendgewaltkriminalität sind seit 2007 im Hellfeld rückläufige Tendenzen feststellbar. Im Vergleich zu 2017 konnte sowohl bei den deutschen Jugendlichen als auch bei den nichtdeutschen Jugendlichen ein Rückgang bei “Straftaten insgesamt, ohne ausländerrechtliche Verstöße“ festgestellt werden. Ein starker Anstieg bei den deutschen Jugendlichen zeigte sich indes bei „Ladendiebstahl insgesamt“ (4,2 %) und „Rauschgiftdelikte“ (4,7 %), bei nichtdeutschen Jugendlichen hingegen wurde in allen ausgewählten Deliktsbereichen ein Rückgang registriert (BKA 2018, S. 33).

Gleiches gilt mit Blick auf die Brutalisierungsthese, die sich weder bei Betrachtung der Entwicklung schwerer/gefährlicher Körperverletzungen oder Raubdelikten noch durch die Entwicklung von Knochenbrüchen – im Rahmen von Gewaltvorfällen im Schulkontext – bestätigen lässt. Andere Studien weisen darauf hin, dass auch Schulgewalt rückläufig ist. Diese Tendenz ist nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten westlichen Welt festzustellen.

Die vermeintliche „Gewissheit“, dass die Jugend immer krimineller wird, lässt sich empirisch nicht belegen. Auch eine vermeintliche Zunahme der Brutalität findet keine empirischen Belege. Insofern zeigt sich Jugendkriminalität als „diskursive Konstruktion“ (Dollinger/Schabdach 2013, S. 9), mithin gibt es besondere Voraussetzungen, die darüber bestimmen, ob und wie Jugendkriminalität wahrgenommen bzw. interpretiert wird. Überdies zeigen Ergebnisse einer Vergleichsstudie, dass nicht die Jugendgewalt, sondern deren polizeiliche Registrierung zugenommen hat.

Aggressive Auseinandersetzungen und Gewalttätigkeiten kommen als konkrete und faktische Handlungen von einzelnen Jugendlichen oder Gruppen gleichwohl vor, sowohl im Freizeitbereich als auch in der Schule. Bei Betrachtung jugenddelinquenten Verhaltens ist aber stets zu berücksichtigen, dass Jugenddelinquenz überwiegend ubiquitär und transitorisch, also häufig ein vorübergehendes Phänomen und im Vergleich zu Erwachsenen eher spontan und gruppenbezogen ist. Die Beziehung zwischen Alter und kriminellen Aktivitäten gehört mithin zu den klassischen kriminologischen Befunden: „Kriminelle Aktivitäten nehmen im frühen Jugendalter zu, erreichen den Höhepunkt ihrer Verbreitung und Häufigkeit im mittleren bis späteren Jugendalter und gehen danach rapide zurück. Nur ein kleiner Teil aller Jugendlichen setzt seine kriminellen Aktivitäten bis ins Erwachsenenalter fort“ . Während in der kriminologischen Forschung wiederholte Straffälligkeit im Rahmen des Begriffs der kriminellen Karriere erfasst wird, ist in der Praxis eher der Begriff der Intensivtäter gebräuchlich. Darüber hinaus werden auch Begriffe wie Mehrfachtäter, Vielfachtäter, Serientäter und mehrfach Auffällige verwendet.

Der Begriff der Intensivtäter bezeichnet insbesondere die Untergruppe der (polizeilich bekannten) Tatverdächtigen, die eine gewisse Anzahl polizeilicher Registrierungen aufweisen. Die Polizei definiert Intensivtäter u.a. als Tatverdächtige mit fünf oder mehr polizeilich registrierten Straftaten in einem Kalenderjahr. Von Bedeutung ist der nach kriminologischer Forschung gesicherte Befund, dass nur eine kleine Anzahl von jugendlichen Intensivtätern (JIT) für einen überproportional großen Teil der Straftaten junger Menschen verantwortlich ist. Eine absolute Bezifferung ist aber schwierig, da bundesweit unterschiedliche Definitionen für JIT vorliegen. Zur Gruppe der Intensivtäter dürften etwa 5% bis 10% der jugendlichen Täter gehören (vgl. Meyer 2012, S. 35). Mitunter wird von einer „Erfindung“ des Intensivtäters ausgegangen, da „dieser „kriminologische Typus‘ als in der Realität vorkommend betrachtet wird, obwohl für das Konstrukt des Intensivtäters keine allgemein gültige und eindeutige Operationalisierung existiert“.

Wie junge Menschen in die Jugenddelinquenz hineingeraten sind, so wachsen sie auch wieder aus ihr heraus (Ageing-out-Effekt). Die meisten begehen in der Jugendphase eine oder zwei Straftaten und hören dann auf, so dass das Ganze eine Episode bleibt. Allerdings fällt ein kleiner Teil der Jugendlichen mit schweren und wiederholten Straftaten auf und ist für einen Großteil aller Delikte dieser Altersgruppe verantwortlich. In der kriminologischen Forschung wird davon ausgegangen, dass ca. 5 % der strafrechtlich auffälligen Jugendlichen für ca. 50–60% der von Jugendlichen begangenen Straftaten (und insbesondere für Gewaltstraftaten) verantwortlich sind.
Die Ursachen für den Rückgang der Jugendkriminalität sind aufgrund der Komplexität der Zusammenhänge der Entstehung von Jugenddelinquenz und ihrer qualitativen und quantitativen unterschiedlichen Ausprägungen in den Alterskohorten und Deliktsgruppen, nur schwer bestimmbar. Positive Faktoren könnten gesetzliche Änderungen, wie die Ächtung von Gewalt in der Familie (§ 1631 Abs. 2 BGB) sowie die Einführung des Gewaltschutzgesetzes (2002), gewesen sein. Überdies dürften auch polizeiliche Schwerpunktsetzungen – Einführung einer polizeilichen Schwerpunktsachbearbeitung für jugendliche Mehrfach- und Intensivtäter – eine Rolle spielen.

Im Mittelpunkt der soziologisch-kriminologischen Betrachtung stehen vor allem aber auch die Einflüsse sog. Peergroups, also die Einflüsse der gleichaltrigen Freunde, die im Rahmen der Ablösungsprozesse vom Elternhaus mit zunehmenden Alter an Einfluss gewinnen. In solchen Peergroups prägen sich Einstellungen und Wertvorstellungen. Sodann ausgebildete Motivationsstrukturen können vor allem auch sozialabweichendes Verhalten auslösen, verstärken oder verhindern. In diesem Kontext ergibt sich folgende Fragestellung: Inwiefern hat der (möglicherweise nachlassende) Einfluss von Peergroups zur Reduzierung der Jugendkriminalität in den letzten Jahren beigetragen?

2. Jugend als Lebensphase (Adoleszenz)

Die „Jugend“ gab es als gesellschaftliche Lage nicht „schon immer“. Sie ist vielmehr „eine ‚Erfindung‘ der Moderne und wird erst seit weniger als zwei Jahrhunderten als eigenständige Lebensphase begriffen. Jugend ist ein ‚Produkt‘ der Industriegesellschaft, die sich durch Qualifizierung und Arbeitsteiligkeit auszeichnet“. Es ist vor allem die Arbeitswelt mit gestiegenen Qualifikationsansprüchen und eine an Komplexität zunehmende Gesellschaft, die eine stetige Verlängerung der Jugendphase und eine zunehmende Alterssegregation zur Folge hat. Jugend entsteht seit der Industrialisierung als eigenständige Lebensphase in Folge der Trennung zwischen Familie, Schule, beruflicher Ausbildung und Erwerbsarbeit. Die sog. Adoleszenz markiert dabei die Lebensphase des Übergangs, in der die jungen Leute trotz biologischer Reife sozial und kulturell (noch) nicht als Erwachsene angesehen werden.

Das Wort Adoleszenz meint den entwicklungsbedingten Transformationsprozess vom Kind zum Erwachsenen und die „Herausbildung eines erwachsenen, individuierten Lebensentwurfs“. Ablösung und Neubindung stehen synonym für die Übergangsphase der Adoleszenz. Das Leben bietet sich nicht nur viele Möglichkeiten, sondern ist auch reich an Fragen. Die Jugend ist sozusagen die Etablierung einer Übergangsphase, in der Bildungseinrichtungen besucht werden, die Jugendlichen ein bestimmtes Verhalten abverlangen. In diesem Prozess der Institutionalisierung von Jugend vollzieht sich deren Einfügung in ein eigens für diese Gruppe geschaffenes Regelsystem: „Das allgemeinste Merkmal moderner Jugend besteht in der Tatsache ihrer Ausgliederung aus dem Produktionsprozess zum Zweck des Lernens in eigens dafür geschaffenen Institutionen […] und in dafür charakteristisch werdenden Sozialformen, nämlich der Gruppe der Altersgleichen“ .

3. Sozialisation im Jugendalter

Prozesse des Geworden-Seins und Werdens von Individuen „im Schnittpunkt von Institutionen, sozialen Strukturen, sozialen Praktiken, Diskursen und Normierungen werden mit den Begriffen ‚Sozialisation‘, ‚Biografie‘, ‚Identität‘, ‚Habitus‘, ‚Lebenslauf‘ sowie ‚Subjekt-Konstitution’“ beschrieben und erklärt. Damit ist die Vorstellung verbunden, dass Subjekte der Ratio und den Vorstellungen unterworfen sind, „die im und durch den Prozess der Modernisierung konstituiert, hervorgebracht und inhaltlich variabel definiert wurden“ . Konzepte der Persönlichkeit, Individualität, Autonomie und Identität bringen als Zuschreibungen das Subjekt erst hervor. Es handelt sich somit um einen Konstruktions- und Konstitutionsprozess, an dem Personen teilnehmen. Im Zusammenhang mit der Sozialisation steht die „Rollenübernahme“ (role taking), „dem Hineinwachsen in eine Kultur, ihr Normen- und Wertesystem, als grundlegend für die Herausbildung stabiler Verhaltensweisen und personaler Identität“. Aus sozialisationstheoretischer Sicht haben sich Normen, Werte und Regeln des Zusammenlebens bei Jugendlichen noch nicht verfestigt, vielmehr muss konformes Verhalten erst eingeübt werden. Zudem wird der Entwicklungsphase Jugend zugestanden, eine Zeit der Identitätssuche, der Probehandlungen und Rollenexperimente zu sein.

Sozialisation wird erfahren durch Einbindung in Gruppen, die das Leben der Menschen prägen, wobei die Qualität eines Bindungsverhaltens sich eigentlich nur unter Belastung zeigt. In diesen Gruppen werden Handlungsmuster tradiert und neu entwickelt, sie gestalten die Alltäglichkeit und vermitteln den Menschen die Deutungsmuster und Routinen, die die komplexe Umwelt durchschaubarer werden lassen. Wichtig sind Sozialisationsinstanzen, die konkret und nicht abstrakt die gesellschaftlichen Prinzipien, Werte und Normen vermitteln. Eine besonders wichtige Primärgruppe ist zunächst die Familie, in der Kinder die Grundlagen des sozialen Miteinanders erfahren. Die Sozialisationsfunktion betrifft die Chance zum Aufbau eigener Verhaltensweisen, die ein sukzessives Erproben der eigenen Autonomie ermöglichen und ein Abweichen von Erwachsenennormen zulassen, ohne dass direkte Sanktionen und damit Verunsicherung die Folge sind. Was durch die im Prozess der Sozialisation vermittelt wurde, wird und muss nun in Frage gestellt und überprüft werden, um zu einer eigenständigen Persönlichkeit reifen zu können. Das ist bis zur finalen Ablösung mit einer allmählichen Distanzierung verbunden.

Im Jugendalter ist es sodann die so genannte „Peergroup“, die Gruppe der Altersgleichen (und zumeist auch Geschlechtsgleichen), die als besonders wichtige Primärgruppe das Sozialverhalten prägt. Peergroups haben einen wichtigen Einfluss auf die Sozialisation, in einer bestimmten Lebensphase sogar den entscheidenden Einfluss. Den problematischen Übergang von der Familie zur Gesellschaft charakterisierte der israelische Soziologe Samuel N. Eisenstadt (1923-2010) im Jahr 1956 wie folgt: „Dieser Übergang verlangt, dass das Individuum nach universalistischen Kriterien handeln lernt, das heißt die Auswahl seiner Objekte, das Verhalten und Verhaltenserwartungen ihnen gegenüber nach generalisierten, universalistischen Standards auszurichten, ohne Bezug auf seine partikularistischen Eigenheiten“. Es besteht Konsens in der Soziologie, dass der Jugendliche seine soziale Identität ganz wesentlich in der Peergroup findet. Insofern stellen Peers neben Familie und Schule eine bedeutende Sozialisationsinstanz eines Individuums dar. Im Vergleich zur Schule kann sich das Individuum seine Freunde bzw. Peers aber frei wählen und findet innerhalb dieser Peergroup die entsprechenden individuellen Entfaltungsmöglichkeiten vor. In dem Maße, wie der elterliche Einfluss schwindet, gewinnen Gleichaltrigengruppen an Bedeutung für die Normorientierung, aber auch für das Freizeitverhalten, das nun vom Elternhaus weg verlagert wird. Die Zugehörigkeit zu Peergroups ist in fast allen Kulturen eine wichtige Normalität und gehört für Jugendliche – neben der Familie – zur wichtigsten Primärgruppe.

4. Die Peergroup als Sozialisationsinstanz

4.1 Die funktionale Notwendigkeit altershomogener Gruppen

Gemeinschaft und Gruppen sind das, was das Individuum braucht um beruhigt und sicher zu leben. In Mitten einer Identitätsdiffusion, in der der Jugendliche sich während der Adoleszenz befindet, fehlt es nicht selten an Identifiaktionspfeilern. In diese Lücke stoßen Gruppen, die es auch ermöglichen, die eigene Identität zu finden. Die Gruppe nimmt somit einen essentiellen Part in der Lebensgestaltung ein und ist faktisch nicht wegzudenken. Individuen, die keinen Platz in einer Gruppe einnehmen sind eher die Ausnahme. In einer Gruppe etablieren sich eigene Normen- und Wertesysteme, welche auch von solchen, in der Gesellschaft akzeptieren Systemen abweichen können. Aus den Bedürfnisdispositionen heraus ergibt sich die funktionale Notwendigkeit altershomogener Gruppen. Jugendsoziologische und sozialisationstheoretische Auseinandersetzungen mit Jugendlichen in sozialen Arrangements mit Gleichaltrigen präsentieren unterschiedliche Begrifflichkeiten, die oft wenig trennscharf und beliebig verwendet werden: Die Rede ist von Peergroups oder Peers, von Cliquen, von Gleichaltrigen oder von formellen oder informellen Jugendgruppen. Der Fokus liegt indes immer auf den Arrangements, den Kontakten oder den Beziehungen zwischen Jugendlichen, die sich in irgendeiner Hinsicht ähneln. Unabhängig von der Bezeichnung der Gruppe wird Gleichaltrigen vor allem eine „außerordentliche sozialisatorische Bedeutung beigemessen“. Der Stellenwert der sozialen Gruppe für die „Vermittlung“ von Individuum und Sozialstruktur ist unstrittig. Sie sind nicht nur ein „Reflex“ auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen, „sondern auch ein Ansatzpunkt, von der harmonischen Zusammensetzung der Gruppen auf eine harmonische Gesellschaft einzuwirken“.

Diese Gruppen bieten vor allem emotionale Sicherheit und bedeuten eine Ablösung von der Familie. Weil das kindliche Bezugssystem in der Jugendphase aufgegeben wird, müssen sich Jugendliche eine neue Gruppe suchen, in der sie sich zu Hause fühlen. Derlei Gruppen unterstützen indes nicht nur die Ablösung von der Familie, sondern bereiten auch die gesellschaftliche Integration in die Erwachsenenkultur vor. Überdies federn sie die unausweichlichen Reibungen ab, „die sich in den Prozessen der Einfädelung in die Bildungs- und Berufsseme unausweichlich ergeben“. Eine Gruppe Gleichaltriger liefert ihnen ein solches neues Bezugssystem, an dem sie sich orientieren können. Jugendliche orientieren ihr Handeln nur bedingt an übergreifenden normativen Ordnungen. Insofern begünstigen Peerkontakte die eigene Entwicklung über geteilte Auffassungen. Peer Groups stellen gelten somit auch als „zweite Familie“.

Die Emanzipation von der der Familie bzw. den Erwachsenen kann zu einer Herausbildung einer jugendlichen Subkultur mit eigenen Werthaltungen, Zielsetzungen und Verhaltensmustern führen. Aufgrund ihrer funktionalen Notwendigkeit für das soziale Systeme können diese Gruppen die Jugend nicht zum Problem werden lassen, sondern vielmehr Probleme bzw. Folgeprobleme, die aus der sozialen Differenzierung resultieren, lösen. Es handelt sich mithin um eine „sozialstrukturell bedeutsame ‚Vermittlungsinstanz‘ zwischen Familie und Gesellschaft“ . Die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und eigener Identität wird von den Peergroups erheblich unterstützt. Die Peergroup begleitet sozial die Ablösung vom Elternhaus, so dass die Werte und Normen der Gruppe mitunter die im Verlauf der familialen und schulischen Sozialisation erworbenen Einstellungen überformen. In der Gruppe wird auch das Austesten von Normen möglich, durch die Primärgruppe Familie vermittelte Werte können in Frage gestellt werden. Die Gruppe der Peers ist als bedeutungsvolle (Sozialisations-)Instanz im Jugendalter ein Ort der Unterstützung und Orientierung, zudem eine Ressource und überdies ein Risiko von Selbstbildungs- und Selbstkonstruktionsprozessen.

4.2 Der nachlassende Einfluss von Peergroups

In der Soziologie wird seit Jahren eine Schwächung von Bindungen diskutiert Im nationalen wie auch internationalen Diskurs gilt Individualismus gemeinhin als entscheidende Ursache für den Anstieg des Gewaltniveaus. Dieses Argument wird vielfach in Zusammenhang mit der „Individualisierungstheorie“ ins Feld geführt. Wenig Beachtung hat indes nicht nur die Tatsache gefunden, „dass der sakuläre Prozess der Individualisierung mit einem Rückgang des Gewaltniveaus zusammenfiel, sondern auch Durkheims Theorie, dass dieser Prozess das Ausmaß von Gewalt in modernen Gesellschaften reduziert“ .

Tiefgreifende Entwicklungen und Verwerfungen in den letzten Jahren (z.B. durch Pluralisierung der Lebenslagen und Individualisierung der Lebensgestaltung) lassen sich unter dem Titel einer zweiten Moderne fassen: „Angesichts der neuen Räume der Verunsicherung und Exklusion, der Entstrukturierung der Sozialräume und der individuellen, unübersichtlichen und riskanten Bewältigungsaufgaben verlieren traditionelle Bindungen ihre Kraft, wachsen Überforderungen und verbinden sich mit psychisch-psychiatrischen Belastungen“ . Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass auch Peer Groups hier betroffen sind.

Im Hinblick auf jugendliche Lebenswelten spielt überdies die Oberflächlichkeit von Freundschaftsbeziehungen in der virtuellen Welt eine Rolle. Kinder und Jugendliche wachsen in Sozialisationskontexten auf, die heute als mediatisiert bezeichnet werden. Das Ausmaß und die Omnipräsenz an kommunikativen Praktiken und medial bestimmten bzw. vermittelten Settings in der Lebenswelt von Jugendlichen haben sich im Vergleich zu früheren Gesellschaften deutlich potenziert. Auch die Shell-Studie belegt, dass Geselligkeit zwar weiterhin vorrangig auf andere Jugendliche abzielt (Peers), je nach Familienorientierung stärker oder schwächer. Mehr als zwei Drittel der Befragten (70 %) bezeichnen indes die internetbezogenen Aktivitäten als eine der für sie wichtigsten Formen der Freizeitgestaltung. Jugendkulturelle Vergemeinschaftungsformen sind zwar immer auch posttraditionalen Entwicklungen unterworfen, sie sind heute aber „fluider und flüchtiger geworden“ . Wer sich etwa sozialen Netzwerke konsequent verweigert, ist ggf. marginalisiert, weil ein Beziehungs- und Informationsmanagement als peergruppentypischer Austausch nicht entsprechend stattfindet.

5. Die Peergroup als Risiko- und Schutzfaktor

5.1 Schutzfaktor

Die soziale Umwelt des Menschen, sei es konform oder abweichend, ist von zentraler Bedeutung. Im Rahmen der entwicklungsorientierten Kriminologie hat sich parallel zur Analyse der Entstehung nichtnormativen Verhaltens in den letzten Jahrzehnten ein Fokus auf eine normative Entwicklung unter nicht-normativen Bedingungen entwickelt. Mit dem Stichwort Resilienz wird das Phänomen bzw. der Prozess einer positiven Anpassung unter widrigen Lebensbedingungen bezeichnet. Dabei gewinnt aus entwicklungspsychologischer Sicht die Peer-Group mit zunehmendem Alter eine wachsende Bedeutung für die Herausbildung und Festigung von Normen, Einstellungen und Verhaltenstendenzen. Vieles, was Jugendliche denken, fühlen und tun, ist abhängig davon, was die Freunde denken, fühlen und tun. Die hohe Relevanz der sozialen Beziehungen speist sich aus mehreren Gründen. Einerseits, weil positive soziale Beziehungen für die Entwicklung sozialer Kompetenzen förderlich, mitunter wegweisend sind. Andererseits, weil derlei (positive) Beziehungen im Hinblick auf die Bewältigung von Problemen eine bedeutsame Ressource darstellen. Peergroups können im Sinne eines unterstützenden Netzwerks positiv sein, werden insofern in der Jugendforschung positiv konnotiert. Vor diesem Hintergrund liegt dem Konstrukt „Resilienz“ die Annahme zugrunde, „dass die Wirkung der auf das Individuum wirkenden Risikofaktoren durch Schutzfaktoren aufgehoben oder reduziert werden kann“ . Schutzfaktoren finden sich mithin in allen bio-psycho-sozialen Lebensbereichen, natürlich auch im sozialen Kontext wie Familie, Schule oder eben auch in Peergroups.

Nichtsdestotrotz entpuppt sich die Adoleszenzphase als instabile und risikoreiche lebensaltersbezogene Entwicklungsphase, da weder eindeutige Rituale noch gesellschaftlich orientierende Rollenmuster existieren. So bieten Peergroups auch die Möglichkeit der Herausbildung eines delinquenzbegünstigenden Umfelds. Beziehungen zu Freunden im Jugendalter sind aber nicht allein für die Genese von Delinquenz und anderen Problemverhaltens von Bedeutung.

5.2 Risikofaktor

Weil die Identität in der Peergroup von nichts anderem abhängig ist als von der unmittelbaren Interaktion zwischen den Jugendlichen, ist sie sehr unsicher und instabil. Insofern besteht die Gefahr, dass Jugendliche sich an Peer Groups orientieren und deren Werte als wichtiger erachteten als die gesellschaftlichen. Überträgt man die von Adorno beschriebene F-Skala auf Gruppen, so könnte man daraus schließen, dass Werte, die eben jene Verhaltenstendenzen, wie Konventionalismus oder aggressive Autorität und Unterwürfigkeit fördern, dazu führen, dass eine Gruppe eher dazu neigt, Gewalt auszuüben. Das Erleben in Gruppen gleichaltriger Jugendlicher wird mithin als wesentlicher Faktor angesehen, der delinquentes Verhalten bei Jugendlichen fördert. So widmen sich zahlreiche Studien dem Einfluss von Freundschaftsbeziehungen auf delinquentes Verhalten. Ein vielfach replizierter Befund ist, dass der Kontakt zu gewalttätigen Freunden das Risiko erhöht, selbst zum Gewalttäter zu werden. Allerdings geht es nicht nur um die Übernahme delinquenter Verhaltensweisen, auch andere Problemverhaltensweisen werden mit höherer Wahrscheinlichkeit ausgeübt, wenn Kontakte zu sich abweichend verhaltenden Freunden existieren. Der Kontakt mit delinquenten Freunden stellt mithin einen der wichtigsten Einflussfaktoren des delinquenten Verhaltens dar: „No characteristic of individuals known to criminologists is a better predictor of criminal behavior than the number of delinquent friends an individual has“ .

6. Strafmündigkeit

Sobald es zu spektakulären Taten von Kindern kommt wird die Forderung nach Strafen für Kinder laut. So tagte vom 6. bis 8. Januar 2020 die CSU-Landesgruppe in Bayern. Hinzuweisen ist auf Spiegelstrich Nr. 9 des CSU-Beschlusses: „Wir wollen schwere Straftaten altersunabhängig sanktionieren“. Dies gibt Anlass, abschließend ein paar Bemerkungen zur Strafmündigkeit von Kindern „loszuwerden“.

Immer wenn sich herausstellt, dass bei schweren Gewaltverbrechen auch Kinder unter 14 Jahren beteiligt waren, findet in Deutschland ein Ritual statt. Zumeist konservative Juristen fordern dann die Absenkung des aktuellen Strafmündigkeitsalters. So war es im Jahr 2010, als eine 83-jährige Rentnerin in München von zwei 13-Jährigen stundenlang misshandelt wurde. Und so war es auch im Sommer 2019, als eine junge Frau mutmaßlich auch von Kindern unter 14 in Mülheim vergewaltigt wurde.

Es gibt Verbrechen, die machen sprachlos. Und es gibt Verbrechen, die lösen Reflexe aus. Auf die Tat, die sich in Mülheim an der Ruhr 2019 zugetragen haben soll, trifft beides zu. Drei 14-Jährige und zwei Zwölfjährige stehen im Verdacht, eine 18-Jährige in einem Waldstück vergewaltigt zu haben. Die Debatte über die Strafmündigkeit flammt jedoch regelmäßig wieder auf, vor allem nach besonders grausamen Taten von Kindern und Jugendlichen. So dauerte es nicht lange, bis der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, anlässlich der Ermittlungen in Mülheim eine Absenkung des Alters für Strafmündigkeit auf zwölf Jahre forderte. Experten aus Justiz, Kriminologie, Psychologie und Jugendrecht halten die Diskussion für nicht zielführend. Die polizeilich registrierte Kriminalität von Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden ist im vergangenen Jahrzehnt gesunken. Am deutlichsten ist der Rückgang bei Kindern. Die Forderung nach einer Strafmündigkeit ab zwölf Jahren ist nicht zielführend. Denn sie würde ausgerechnet jene Gruppe treffen, bei der die Kriminalität im vergangenen Jahrzehnt am stärksten zurückgegangen ist.
Setzte man das Alter der Strafmündigkeit herab, würden auch in allen minder schweren Fällen von Jugenddelinquenz Ermittlungsverfahren geführt. Ein Strafrecht, das nur die schweren Taten im Blick hat, führt zu enormen Problemen. Wenn Zehn- oder Zwölfjährige vor Gericht stünden, würde zudem ein weiteres Problem auftauchen: In etlichen Verfahren müssten Sachverständige prüfen, ob die jungen Angeklagten überhaupt schon schuldfähig seien. Die Kosten dafür wären enorm.

Eine Senkung der Strafmündigkeitsgrenze kann letztlich nichts zur Senkung der Kriminalität beitragen. Die Gleichung „Mehr Strafrecht“ gleich weniger Kriminalität geht bei den Jugendlichen nicht auf. Das Jugendstrafrecht habe sich im Grundsatz bewährt: Es hat durch den darin niedergelegten Erziehungsauftrag zu einem deutlichen Rückgang der Jugendkriminalität geführt.
Das Jugendstrafrecht könnte sogar noch länger angewendet werden. Im Alter zwischen 12 und 16 Jahren durchlaufen Kinder eine wichtige Entwicklungsphase, in der sich noch einmal grundlegende Dinge verändern. Der Körper sieht zunehmend aus wie der eines Erwachsenen, das Gehirn wird noch einmal anders verdrahtet. Auch wenn Kinder schon in jüngeren Jahren zwischen Recht und Unrecht unterscheiden können – erst mit Beginn der Pubertät steigt ihre Fähigkeit, moralische Urteile zu fällen und die Folgen ihres Handelns abzuschätzen. Dazu zählt auch die Fähigkeit, die Perspektive anderer einzunehmen. Heranwachsende können in dem Alter bereits abschätzen, was ihr Verhalten für andere bedeutet. Es gibt allerdings immer noch Einschränkungen im Vergleich zu Erwachsenen. Diese erklären auch, warum Jugendliche dazu neigen, sich riskant zu verhalten.

Neurowissenschaftliche Untersuchungen haben etwa gezeigt, dass bei Heranwachsenden ein Ungleichgewicht im Gehirn entsteht, weil sich Hirnbereiche unterschiedlich schnell entwickeln. So fand die Psychobiologin B.J. Casey von der Cornell University heraus, dass junge Leute ihre Entscheidungen häufig auf der Basis von Signalen aus dem limbischen System treffen. Dieses ist für emotionale Bedürfnisse zuständig. Die Kontrollinstanz des Gehirns, der präfrontale Kortex, hinkt derweil in seiner Entwicklung noch hinterher. Sexualhormone verstärken die Neigung zu emotionalen Entscheidungen. Das alles führt dazu, dass Jugendliche höhere Risiken eingehen und die Vernunft unterliegt, obwohl das Gehirn grundsätzlich schon zu rationalem Denken fähig ist. Die Diskussion im Strafrecht gehe deshalb eigentlich eher dahin, das Jugendstrafrecht länger anzuwenden. Erst ab einem Alter von 25 Jahren gleichen sich die Hirnbereiche an.