Kurve kriegen – Kriminalprävention wie sie sein sollte

Jörg K. Unkrig, Leitender Kriminaldirektor und Wolfgang Wendelmann, Erster Kriminalhauptkommissar

Gerade gerät sie wieder akut in den Blickpunkt, die Jugendkriminalität. Nach den bedauernswerten, brutalen und heimtückischen Attacken auf die, die hauptberuflich helfen, flammen nun wieder die üblichen, zumeist nur temporären Diskussionen auf – und zwar solange, bis die nächste „Krise“ gravierender, wichtiger oder einfach nur aktueller ist.

„Alle einsperren!“
„Strafmündigkeit runter!“
„Ausweisen!“
– was auch immer!?

Und selbst wenn man diese ersten Reaktionen in Anbetracht der Bilder und der dadurch hervorgerufenen Betroffenheit nachvollziehen kann, sind und bleiben sie meist reflexartig und bieten kaum Lösungen. Mehr noch, diese spontanen Forderungen halten bei näherer Betrachtung weder juristischen noch wissenschaftlichen Prüfungen Stand – sie alle fallen spätestens dann zusammen wie ein erkaltetes Souffle.

Auch die Politik beteiligt sich; muss sie ja auch, denn wer sonst sollte die erforderlichen Rahmenbedingungen für eine gute Kriminalpolitik schaffen. Allerdings wird aus einem so wichtigen Thema sehr schnell Parteipolitik und entweder wird gepoltert oder die Formulierungen auf diesen Bühnen klingen eher so, als stammten sie aus dem Windkanal von PR-Abteilungen, als dass sie sachorientiert, nicht schuldzuweisend und nachhaltig problemlösend sind. Und oft reicht dann das Erzählte und es zählt nicht das Erreichte.

Und um es bereits an dieser Stelle abzukürzen. Die Gesetzeslage in Deutschland für den Bereich kindlicher und jugendlicher Delinquenz ist gut und ausreichend (z. B. SGB VIII, JGG, BGB) – die Klaviatur muss nur konsequent genutzt und sinnvoll bedient werden. Auch das kategorische Plädoyer für die Repression und gegen die Prävention bzw. umgekehrt, schränkt zu sehr ein. Einzelfallabhängig geht es um das zielführende Zusammenspiel dieser beiden Herangehensweisen.

Aber heben wir mal den Blick und lösen uns von den aktuellen Ereignissen, die vielleicht nur das Präludium dessen sind, was an Herausforderungen noch auf uns zukommt und nehmen wir Abstand von den aktuell aufgeregten Diskussionen. Um Probleme zu lösen ist „Schaum vor’m Mund“ in der Regel nicht nur nicht förderlich, ja er versperrt je nach Ausprägung sogar den Blick.

Daher freuen wir uns, an dieser Stelle die Gelegenheit zu haben, Ihnen die Initiative „Kurve kriegen“ vorzustellen zu können – unaufgeregt, sachlich und selbstbewusst, denn wir sind uns sicher, dass wir damit in Nordrhein-Westfalen seit über elf Jahren ein tolles Instrument in der Hand haben. Ein tolles Instrument zur Vorbeugung vor Jugendkriminalität. Und um gleich allen, die jetzt einhaken und sagen, „Wo ist das Problem? Die Jugendkriminalität geht doch seit Jahren zurück“, den Wind aus den Segeln zu nehmen: Wissen wir.

Uns geht es darum, weder zu dramatisieren oder zu stigmatisieren noch zu bagatellisieren. Es geht darum, zu fokussieren – und zwar auf die, die erhebliche Probleme bereiten und haben. Im Fachjargon heißen sie Mehrfachtatverdächtige oder werden, haben sie erst eine bestimmte Schwelle überschritten und finden sich in speziellen polizeilichen Programmen wieder, „Intensivtäter“ genannt; in der Jugendhilfe bisweilen „Systemsprenger“. Die Entwicklung zu einem Intensivtäter zu vermeiden – und zwar möglichst frühzeitig – das ist das Ziel der Initiative „Kurve kriegen“ und daher lautet der Leitsatz auch „Frühe Hilfe statt späte Härte!“.

Das klingt so verblüffend einfach und einleuchtend, dass man in vielen Erörterungen, Vorstellungen und Diskussionen Äußerungen wie „Das ist doch nichts Neues“ oder „Das ist doch logisch, man kann doch nicht warten, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist“ hört. Richtig – man muss es nur anpacken! Und genau das haben wir getan.

„Kurve kriegen“ fokussiert deshalb nicht auf die typische, passagere, von Ubiquität und Bagatellhaftigkeit bestimmte Form der Kriminalität, sondern auf die Verhinderung ihrer außergewöhnlichen und beileibe nicht gesellschaftsverträglichen Ausprägungen. Als junger Mensch gegen seine seltsam peinlichen Eltern zu rebellieren und einen Ladendiebstahl zu begehen, ist so gewöhnlich wie Pickel in der Pubertät. Vergessen wir das, darum geht es nicht. Uns geht es um hochgradig kriminalitätsgefährdete Kinder und junge Jugendliche, die drohen in eine „kriminelle Karriere“ abzudriften. Intensivtäter zu sein, das bedeutet – ganz gleich, welche der deutschlandweit unterschiedlichen Definitionen angewandt werden – viele Straftaten, viele Opfer und wenig Perspektive für die Täter.

Und dabei ist es, um noch einmal auf den Aufhänger am Anfang dieses Artikels zurückzukommen, im Grunde zunächst einmal völlig egal, ob die Ursachen dafür in der mangelnden Integration oder anderen Sozialisationsdefiziten und Lebensumständen liegen. Risikofaktoren dafür, kriminell zu werden (und zu bleiben), gibt es viele. Die müssen in den Blick genommen und bewertet werden. Minimieren wir diese Risiken oder stellen sie bestenfalls ganz ab, erledigt sich das Thema Kriminalität in der Regel im Nachgang, denn Kriminalität ist lediglich ein Symptom. Es geht also im Kern um Risikofaktoren.

Diese sehr genau in den Blick zu nehmen und individuell darauf zu reagieren, das ist daher unser Ansatz – und zwar so frühzeitig wie möglich! Denn: Wer das Rennen gegen diese Auswüchse der Jugendkriminalität gewinnen möchte, der kann – um in diesem Bild zu bleiben – nicht erst damit beginnen, den Rennwagen zu bauen, wenn das Rennen gestartet ist.

Und wie wir das machen, das erklären wir Ihnen in den folgenden Zeilen. Kurz und knapp, keine Schräubchenkunde, denn wenn Sie weiterblättern, dann haben Sie die Möglichkeit tiefere und auch sehr persönliche Einblicke in die Arbeit der Initiative zu gewinnen. Markus Witalinski und Klaus Fröse, zwei unserer pädagogischen Fachkräfte haben nämlich Ihre Sicht auf die Dinge beschrieben. Freuen Sie sich drauf. Darüber hinaus haben Sie, sollten wir Ihr Interesse nachhaltig geweckt, Sie an- oder aufgeregt haben, die Gelegenheit, sich auf unserer Homepage umzusehen (www.kurvekriegen.nrw.de).

Wir, die Autoren dieses „Appetithappens“ in Sachen „Kurve kriegen“ sind übrigens Jörg Unkrig und Wolfgang Wendelmann; beide Geburtshelfer der Initiative, seit nunmehr fast zwölf Jahren in dieser Sache oder besser Herzensangelegenheit „am Start“ und aus dem Innenministerium Nordrhein-Westfalen heraus verantwortlich für die Umsetzung und Weiterentwicklung der Initiative.

Los geht’s – zu den Zutaten der Initiative:

Polizei, Soziale Arbeit, Geld

Klingt nicht nach Raketenwissenschaft sondern ziemlich simpel – oder? Ist es auch. Alles was wir seinerzeit benötigten, war schon da. Manchmal an anderen Stellen, manchmal nicht in dem Ausmaß, manchmal nicht in der Kombination wie es optimal ist. Und ganz so wie beim Backen oder Kochen, können sie mit identischen Zutaten völlig unterschiedliche Ergebnisse produzieren. So ähnlich können Sie sich das auch bei der Konzeptionierung von „Kurve kriegen“. Alle Zutaten waren vorhanden, wir haben neu sortiert und ein anderes Produkt geschaffen.

Wie war es bislang?

Stehen bei Polizeibeamten in Anbetracht eines jungen Strategen „die bösen Vorahnungen Schlange“ und bedarf es ihrer Ansicht nach der Intervention im Bereich der Jugendhilfe, dann schreiben sie in der Regel einen Jugendamtsbericht. Das wird überall, landauf, landab gemacht. Das Jugendamt wägt ab oder besser muss in Anbetracht der Aufgabenfülle und unter Einbeziehung von Gefährdungsaspekten nun priorisieren. Ist es Leistungs-, Grau- oder Gefährdungsbereich. Muss – und wenn ja – sofort gehandelt werden? Häufig – und das ist in keinster Weise ein Vorwurf in diese Richtung – fallen polizeiliche Interessen oder Prognosen dabei „hinten über“. Ganz einfach deshalb, weil andere Fälle mit „extrem kurzer Zündschnur“ die ganze Aufmerksamkeit fordern, weil akute Gefährdungen abgestellt werden müssen. Manchmal geht es dabei um Leben und Tod. Die Jugendämter stehen in hoher Verantwortung.

Polizeiliche Sorge und Prognosen spielen dann oft – wie gesagt, kein Vorwurf – eine untergeordnete Rolle. Also war die Überlegung, die „Karten neu zu mischen“, um dem polizeilichen Anliegen, der Kriminalprävention gerecht zu werden.

Was haben wir gemacht?

Wir haben die Träger der freien Jugendhilfe ins Boot geholt, als Dienstleister für die Polizei. Die Träger stellen der Polizei pädagogische Fachkräfte zur Verfügung und diese arbeiten dann mit denen, die als hochgradig kriminalitätsgefährdet eingestuft werden.

Vom Prinzip her also nichts anderes, als das was das Jugendamt häufig macht, denn im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips werden die Träger der freien Jugendhilfe regelmäßig vom Jugendamt eingesetzt, um die Aufgaben der Jugendhilfe zu erfüllen. Wie holt man nun diese Träger ins Boot?

Das Ganze funktioniert über Ausschreibungsverfahren. Eine Leistungsbeschreibung wird veröffentlicht, Träger bewerben sich und der beste erhält den Zuschlag. Zigfach durchgeführt – unproblematisch. Am Ende stoßen die pädagogischen Fachkräfte dann zu den erfahrenen Kriminalbeamten vor Ort und werden Teil des „Kurve kriegen“-Fachkräfteteams. Sie haben ihr Arbeitsplätze in den Kreispolizeibehörden Aachen, Bielefeld, Essen, in Steinfurt…mittlerweile in 40 der 47 Kreispolizeibehörden Nordrhein-Westfalens. Insgesamt fast 100 pädagogische Fachkräfte arbeiten mittlerweile für uns. Für alle, die jetzt befürchten, Polizeibeamte mutieren in diesen Teams zu Sozialarbeitern: Keine Sorge, jeder bleibt bei seinen Aufgaben und in seiner Rolle. Das zeigen uns die zwölf Jahre intensivster Zusammenarbeit.

Als die NRW-Initiative im Sommer 2011 startete, war die neue Herangehensweise also naturgemäß nicht unumstritten. Es gab von vielen Seiten Bedenken und Vorbehalte und bisweilen ordentlich Gegenwind. Es wäre blauäugig wesen, das nicht vorherzusehen. Wenn man so will, waren wir vorbereitet, missverstanden zu werden.

In erster Linie ging es dabei um Kompetenzen, Zuständigkeiten und Aufgaben sowie deren vermeintlicher Vermischung. Es waren zumeist sachliche, bisweilen aber auch ideologisch geführte Diskussionen, die wir führen mussten und wollten und zurückblickend kann zu Recht behauptet werden, dass jedes einzelne dieser Gespräche uns alle immer ein Stück weitergebracht hat. So wurden einerseits die Grenzen, Beschränkungen und Problemfelder klar, andererseits aber auch die vielfältigen Möglichkeiten dieses neuen Ansatzes und die große Flexibilität der Initiative.

Heute funktioniert die Zusammenarbeit zwischen den pädagogischen Fachkräften der Initiative, der Polizei und den Jugendämtern nahezu reibungslos. Sie ist trennscharf, wo sie es sein muss, verzahnt, wo es notwendig ist und sein darf und in allen Fällen an der Sache orientiert. Es geht eben ganz und gar nicht darum, mit dem Finger auf andere zu zeigen und festzustellen, dass die einen es besser können als die anderen. Es geht einzig und allein darum, Verantwortungsträger mit ihren spezifischen Expertisen und ihren Möglichkeiten bestmöglich und wirkungsvoll zu verknüpfen, um sich der unbestritten schwierigen Zielgruppe der stark kriminalitätsgefährdeten Kinder und deren Familien optimal zu widmen.

Ohne die geht es nicht – eine gesicherte Finanzierung

Das Geld für die Initiative stellt das Land Nordrhein-Westfalen zur Verfügung. Es kommt aus einem Topf für Kriminalprävention, nicht aus dem Polizeihaushalt. Verwaltet wird es im Innenministerium und hier sorgen wir dafür, dass jeder Cent auch wirklich für die Belange der Initiative aufgewandt wird. Übrigens sieht das auch der Landesrechnungshof Nordrhein-Westfalen so, der die Initiative in den Jahren 2018 – 2020 auf Herz und Nieren geprüft hat. Für uns ein tolles Testat.

Wo wir gerade bei den Finanzen sind. Etwa 11.000 € Euro kostet ein Teilnehmer pro Jahr und durchschnittlich 2 1/2 Jahre dauert die Betreuungsphase. Im Ergebnis also etwa rund 30.000 € für das Abwenden einer „Intensivtäterkarriere“. Nicht wenig Geld, aber verglichen mit den sozialen Folgekosten, die eine solche Karriere allein bis zum 25. Lebensjahr verursacht, ein Bruchteil.

1,7 Mio € hat die PROGNOS AG, übrigens eines der ältesten deutschen Wirtschaftsforschungsunternehmen, für uns im Rahmen einer aufwendigen Kosten-Nutze-Analyse errechnet, sind es am Ende des Tages. Eine beeindruckende Summe und in Relation zum Invest, eine ordentliche (Präventions-)Rendite oder anders ausgedrückt: Wäre „Kurve kriegen“ börsennotiert, dann hätten wir vermutlich einen ziemlichen „Run“ der Investoren auf uns zu verzeichnen.

Und tatsächlich ist man auf uns aufmerksam geworden. Allerdings waren es keine renditeorientierten Aktionäre, sondern ein sozialer Förderer ohne wirtschaftliche Interessen.  Die Stüllenberg Stiftung aus Münster war es, die im Jahr 2020 den Kontakt zu uns aufnahm und mittlerweile fördert sie die Initiative. Wir haben gemeinsam ein völlig neues Modell, dass sich „wirkungsorientierte Co-Förderung“ nennt, entwickelt. Ein Modell, dass hoffentlich Schule macht – auch daran arbeiten wir.

Und das ist es schon, das Grundrezept der Initiative

Die Deutungshoheit über kriminalitätsgefährdete junge Menschen dem Problembesitzer übertragen und die Möglichkeit des unmittelbaren Zugriffs auf die Jugendhilfe für diesen schaffen.

Die „Zutaten“ dafür sind bundesweit vorhanden. Zugegeben, unsere Ausführungen in diesem Artikel sind etwas grob und holzschnittartig, aber das soll unseres Erachtens an dieser Stelle reichen, denn in den nachfolgenden Aufsätzen können Sie viel mehr über Einzelheiten wie z. B.

  • Gemeinsames Screening der Teilnehmer durch Polizei und Jugendhilfe
  • Aufnahme nur, wenn die Fachkräfte sich über die Kriminalitätsgefährdung einig sind
  • Freiwilligkeit der Teilnahme
  • Intensive Clearingphase, um den Ursachen der Kriminalität auf den Grund zu gehen
  • Betreuung des jungen Menschen sowie seiner Familie und da wo nötig auch die Einbeziehung der Peer oder ganzer Schulklassen
  • Hochindividuelle Hilfen für hochindividuelle Problemlagen
  • Teilnahmedauer grundsätzlich nicht begrenzt – sie dauert solange, bis die Fachkräfte sich einig sind, dass die Kriminalitätsgefährdungen nicht mehr vorhanden sind
  • Zielvereinbarungsverfahren, landesweite Standards (Leitfaden) und ein detailliertes Controlling
  • Übergangsmanagement für die Zeit danach

erfahren.

Und zu guter Letzt ein paar „Messages to go“:

Basisdaten:

  • Durchschnittsalter bei Aufnahme: 12,9 Jahre
  • Anteil Mädchen: 16 %
  • Anteil Personen mit Migrationshintergrund: 50 %
  • Durchschnittliche Teilnahmedauer: 2 ½ Jahre
  • Aktuelle Teilnehmerzahl: 634
  • Erfolgreiche Absolventen: 1036
  • nur 2 % unserer Absolventen werden wieder so auffällig, dass sie in ein Intensivtäterprogramm aufgenommen werden müssen. 98 % haben ihren Weg korrigiert.

Wir sind kein Solitär, sondern Teil des Netzwerks

„Kurve kriegen“ findet natürlich in dem dazu erforderlichen Netzwerk statt. Wir kooperieren erfolgreich mit Jugendämtern, weiteren Trägern der freien Jugendhilfe, Schulen und der Justiz.

Evaluation

Wir setzen auf Transparenz und lassen uns überprüfen. Bislang in zwei Prozessevaluationen, einer Wirkungsevaluation und einer Kosten-Nutzen-Analyse (alles nachzulesen auf unserer Homepage).

Geben und nehmen

Quid pro quo, „Dies für das“ ist einer der Leitsätze von „Kurve kriegen“. Die Programmteilnahme ist kein Wohlfühlpaket. Die Teilnehmer und auch die Eltern werden gefördert, sind aber auch stark gefordert. Bei uns gibt man sein Kind nicht ab und bekommt es dann „repariert“ zurück. Erfolg ist immer das Ergebnis harter Arbeit oder – um es mit dem Theologen und Philosophen Thomas von Aquin zu sagen:“ Für Wunder muss man beten, für Veränderungen aber hart arbeiten“. Die harte Arbeit wird allseits in „Kurve kriegen“ geleistet. Bei der Polizei, den pädagogischen Fachkräften und insbesondere natürlich bei den Teilnehmern und deren Eltern, denn die müssen ihr Verhalten, ihre Erziehungsmethoden, ihren Umgang in der Regel stark verändern.

Da ist nichts mit „Rechtsklick und löschen“. Das sind eingebrannte Verhaltensweisen/Problemlösungsstrategien, jahrelange Sozialisierungsdefizite- und Lernprozesse, die aufgearbeitet werden (müssen).

Und wer sich schon einmal zur Jahreswende gute Vorsätze gemacht hat, der weiß, wie schwer Veränderung fällt. Die allermeisten von uns halten diese Vorsätze nicht lange aufrecht. Von unseren Teilnehmern erwarten wir das, langfristig und nachhaltig – und es funktioniert.

Universell

Es gibt keine Tabus bei der Zielgruppe. Auch Kinder aus z. B. kriminellen „Clan-Strukturen“ haben den Weg in die Initiative gefunden.  Aktuell sind es 37 Familien, mit denen wir erfolgreich arbeiten.

Migrationshintergrund – wenn da das Problem liegt, kann man auch damit umgehen

Etwa 50 % der „Kurve kriegen“-Teilnehmer haben einen Migrationshintergrund. Manchmal einen noch sehr frischen, manchmal sind sie hier geboren. Einige von Ihnen waren für unsere Fachkräfte, trotz guter interkultureller Kompetenzen, nicht erreichbar. Soziokulturelle Missverständnisse und in der Folge mangelndes Vertrauen waren die offensichtlichen Ursachen für die Verweigerungshaltungen und es war uns klar, dass wir in diesen Fällen mit unserem „Instrumentenkoffer Kurve kriegen“ definitiv nicht weiterkommen würden – trotz des offensichtlich hohen Bedarfs an kriminalpräventiver Intervention. Die Lösung war der Einsatz von „Sprach- und Integrationsmittlern“ (SIM).

Ein Berufsbild, dass sich gerade in der Etablierungsphase befindet, obschon sie, die SIM, bereits seit einigen Jahren in Krankenhäusern, Schulen, Ämtern etc. erfolgreich eingesetzt werden. Die systemische Zusammenarbeit von SIM mit einer Sicherheitsbehörde ist ein absolutes Novum in Deutschland und wurde im Rahmen der Initiative „Kurve kriegen“ im Jahr 2018 erstmals implementiert. Der Initiative steht seither ein landesweiter Pool sehr gut qualifizierter SIM zur Verfügung. Und diese Fachleute arbeiten überaus erfolgreich. Mit bisher fast 3000 Einsatzstunden leisten sie einen großartigen Beitrag, öffnen Türen, schaffen Vertrauen und ermöglichen die wirkungsvolle Arbeit der Initiative.

Die Passung macht es

Die pädagogischen Fachkräfte haben völlig freie Hand. Gut ist, was hilft. Kurve kriegen ist so etwas wie ein ziemlich dickes Schweizer Offiziersmesser. Mal braucht man den Schraubendreher, mal den Korkenzieher, die Lupe oder die Pinzette. Und auch wenn sich in Anbetracht dieser Metapher die allseits bekannte Frage aus der Werbung – „Wer hat’s erfunden?“ aufdrängt, so ist die Antwort darauf, auch wenn zu unserem Team im Innenministerium ein Schweizer Erziehungswissenschaftler gehört, nicht „die Schweizer“, sondern „Wir“, die nordrhein-westfälische Polizei. Und darauf sind wir stolz.

Ohne Controlling und Steuerung geht es nicht

Und für alle die, die nun mit dem Gedanken spielen, Schritte in diese Richtung zu gehen und es wie wir – oder so ähnlich – zu machen, ein kleiner Wermutstropfen. Wer denkt, einmal gemacht und eingeführt ist erledigt, „Haken dran“, der irrt. So eine Initiative ist kein Perpetuum Mobile. Es bedarf der ständigen Energiezufuhr. Von innen und von außen. Wir müssen uns ständig überprüfen, Veränderungsnotwendigkeiten erkennen und Anpassungen vornehmen. Darauf zu achten, das ist unser Job im Innenministerium.

Und ganz am Ende und mit etwas Demut: Wir sind uns bewusst darüber, das Kurve kriegen nicht die Welt verändert, aber die Lebenswelten vieler Einzelner ganz erheblich.

Und das lenkt mittlerweile internationale Aufmerksamkeit auf uns. Die schwedische Polizei hat sich informiert und dazu entschlossen, ein sehr ähnliches Programm eng orientiert am Original, an drei Standorten in Schweden umzusetzen. Darüber hinaus – und das Empfinden wir tatsächlich als eine Art „Ritterschlag“ – hat uns das Direktorium der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) kontaktiert und dargelegt, dass man „Kurve kriegen“ als „Best Practice“ einstuft und die Initiative durch uns auf einer ihrer nächsten Sitzungen den 57 Mitgliedsstaaten vorstellen lassen möchte.