„Kurve kriegen ist ein ständiger Prozess“ – Interview

Nachfolgend ein Interview mit den Autoren des Artikels zum Thema „Kurve kriegen“, geführt durch Jörg Bialon.

 

Herr Unkrig, die Initiative „Kurve kriegen“ ist im Bereich der Kriminalprävention zum „benchmark“ geworden. Was machen sie anders als andere Programme?

In unserem kurzen Aufsatz hier in Ihrem Magazin lesen Sie, dass es – holzschnittartig betrachtet – überhaupt nicht viel ist, was wir anders machen. Vielleicht ein bisschen so, wie bei der Deutschen Bahn, wenn der ICE in umgekehrter Wagenreihung einfährt.

Im Grunde verpflichten wir, die Polizei, für unsere Themen (Kriminalität, Kriminalprävention) die Träger der freien Jugendhilfe unmittelbar. Das erlaubt der Polizei, den sofortigen und direkten Rückgriff auf „soziale Arbeit“, um eigene, virulente und absehbare Problemlagen schnellstmöglich anzugehen und nachhaltig zu lösen.

Das aber nicht in Konkurrenz zum Jugendamt, sondern in einer Symbiose. Durch das Lösen des Problems „Kriminalität“ lösen sich auch viele Aufgaben der Jugendämter. Wir arbeiten hervorragend mit ihnen zusammen.

Wenn man so möchte, eine „win-win“-Situation. Oder besser: „win (Polizei) – win (Jugendamt) – win (Gesellschaft) – win (Betroffener und seine gesellschaftliche Perspektive)“-Situation.

Kurve kriegen gibt es seit nunmehr fast 12 Jahren – Ihr Fazit?

Das kann ich kurz machen. Es ist eine echte Erfolgsgeschichte. Gestartet mit durchaus ordentlich „Gegenwind“, aber am Ende dort angekommen wo wir hinwollten und nahezu überall bestens etabliert und professionsübergreifend anerkannt.

Und als Tipp für alle „Konstrukteure“ der Zukunft, die „Gegenwind“ bekommen, wenn sie etwas Neues anpacken oder Dinge verändern möchten. Gegenwind kann essentiell wichtig sein – für Flugzeuge zum Beispiel, denn nur damit können sie abheben. Will sagen, Gegenwind war auch für uns enorm wichtig, um zu reflektieren. So haben wir uns mit den Argumenten und Vorbehalten der Kritiker auseinandersetzen müssen. Wir haben erklärt, verteidigt, argumentiert, diskutiert und da wo erforderlich auch verändert. Ein Reifungsprozess der erforderlich und wichtig war.

Apropos „Gegenwind“. Herr Wendelmann:  Die Kritik ging doch oft in die Richtung „Jetzt macht die Polizei Soziale Arbeit“ bzw. zweifelte man die Methode an sich an.

Die zwischenzeitliche Erkenntnis der allermeisten, die seinerzeit unsere Methode und die Rolle der pädagogischen Fachkräfte anzweifelten:

Jede Fachkraft, ob Polizeibeamte oder pädagogische Fachkräfte, bleibt in seiner Rolle.

Das man, wenn man so eng miteinander arbeitet, die Betrachtungsweisen der jeweils anderen Profession kennenlernt und in seine Gedanken und Bewertungen miteinbezieht, ist doch ein selbstverständlicher und für die gemeinsame Aufgabe am Ende unglaublich wichtiger Prozess.

Aber es bleibt dabei: Kein Polizeibeamter übernimmt Aufgaben der Jugendhilfe und umgekehrt gilt das natürlich genauso.

Wir wären ja – mit Verlaub – „mit dem Klammerbeutel gepudert“, wenn wir uns sozialarbeiterische Expertise einkaufen würden, um dann den Job selber zu machen oder zu bestimmen wie er zu tun ist.

Und zur Kritik an der Methode: Die Methode in der Initiative ist „Soziale Arbeit“ und unterscheidet sich nicht von der landläufigen. Für uns arbeiten pädagogische Fachkräfte, die vorher bei Jugendämtern oder für Träger der freien Jugendhilfe beschäftigt waren. Sie haben Ihre Qualifikationen und Erfahrungen und bringen sie nun für die Aufgabe bei uns ein. Unsere pädagogischen Fachkräfte bedienen sich der Elemente, die auch Jugendämter einsetzen. Wer uns da kritisiert, der stellt am Ende die gesamte Arbeit der Jugendhilfe in Frage, denn nichts Anderes machen wir. Allerdings fokussiert auf eine ganz bestimmte Zielgruppe, nämlich die mit akuter und absehbarer polizeilicher Relevanz und im engen Zusammenspiel mit der Polizei sowie mit deutlich mehr Möglichkeiten der pädagogischen Fachkräfte, sehr individuell und passend auf die Problemlagen zu reagieren. In diesem Zusammenhang sind die Aufsätze unsere pädagogischen Fachkräfte hier im Heft außerordentlich aufschlussreich.

Und heute ist „Kurve kriegen“ fertig?

Auch wenn wir ordentlich „durchevaluiert“ sind. Fertig werden wir nie. Wir haben in den letzten 12 Jahren viel verändert und angepasst, haben alle Handlungsempfehlungen unserer Evaluationen umgesetzt. Von der Teilnahmedauer über die Altersgrenze bis hin zum systematischen Einsatz von Sprach- und Integrationsmittlern.

„Kurve kriegen 2023“ unterscheidet sich deutlich – und zwar nicht nur in der Anzahl der teilnehmenden Kreispolizeibehörden – von „Kurve kriegen 2011“.

Und so wird es weitergehen. Wir werden notwendige Veränderungen vornehmen. „Kurve kriegen“ ist ein „atmendes System“ oder, um es mit dem Volksmund zu sagen: „Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit“

„Kurve kriegen“ ist, wie Sie sagen, durchevaluiert.  Das Thema Evaluation wird aber gerade in der Polizei und auch in der sozialen Arbeit nicht immer begrüßt; als Kontrolle empfunden. Hatten Sie Schwierigkeiten dabei?

Wir haben drei Evaluationen, eine Kosten-Nutzen-Analyse und die Prüfung des Landesrechnungshofes erfolgreich hinter uns gebracht. Damit sind wir, verglichen mit anderen kriminalpräventiven Programmen, in einem anderen Universum. Trotzdem ist das nicht das Ende. „Kurve kriegen“ ist ein ständiger Prozess, und im Laufe der Zeit entstehen Veränderungs-notwendigkeiten. Die muss man erkennen und darauf reagieren. Und dazu sind Evaluationen ein tolles Instrument.  Im Augenblick planen wir mit den in 2021 und 2022 neu hinzugetretenen 17 Standorten eine weitere Prozessevaluation. Wir wollen wissen, ob alle Prozesse, die für das Funktionieren von „Kurve kriegen“ erforderlich sind, richtig aufgesetzt wurden oder ob es lokal Umsetzungshindernisse gibt.

Und nun zu Ihrer Frage nach der Akzeptanz:

Wenn Sie so etwas vorhaben, dann müssen sie es transparent machen, die beteiligten Personen mitnehmen. Es muss jedem klar sein, was passieren wird, was auf sie zukommt und wie man mit den Ergebnissen umgeht. Natürlich geht es im Kern immer darum, besser zu werden – aber besser heißt eben nicht, dass es vorher nicht gut war. Es ist auch nie die Suche nach Schuldigen, sondern nach Optimierungsmöglichkeiten im Prozess.  So handhaben und kommunizieren wir das und das funktioniert prima.

Eine kurze Anekdote dazu: Wir waren vor einiger Zeit in einem anderen Bundesland um „Kurve kriegen“ vorzustellen. Als wir im Vorgespräch mit einem Sozialarbeiter auf das Thema Evaluation kamen, schaltete der direkt die „Firewall“ ein und sagte: “Meine Arbeit kann man nicht messen“.

Im Grunde doch sehr erstaunlich, dass jemand einem Beruf nachgeht und der Ansicht ist, dass das, was man darin tut oder damit bewirkt, nicht messbar sei. Mich würde das nicht zufrieden stellen. Sicherlich kann man nicht immer 1:1-Kausalitäten herstellen. Dass wäre im Bereich der Evaluationen der Goldstandard, indem man mit Kontroll- und Vergleichsgruppen arbeitet. Allerdings sehr aufwendig und trotzdem immer noch mit vielen Unschärfen verbunden. Aber, „der Griff ins Hochregal“ ist ja gar nicht nötig. Meines Erachtens kann es schon ausreichend sein, sich die aufgabenrelevanten Prozesse anzusehen und hier zu gucken, ob alles so läuft, wie gedacht.

Und dazu muss man sich von dem Gedanken trennen, dass Evaluationen dazu da sind, den eigenen Erfolg oder Misserfolg zu konstatieren. Es geht doch um die Auslotung von Optimierungspotenzial. Es geht darum die Dinger noch besser zu machen.

Herr Unkrig: Kriminalprävention in der Zukunft, wie und wo sehen Sie sie?

Wir müssen uns darüber im Klaren werden, dass sie eine größer werdende Rolle einnehmen muss. Repression ist ein wichtiger und essenzieller Bestandteil unseres Rechtsstaates, hat aber einen immanenten Nachteil. Repression kommt grundsätzlich zu spät – nach der Tat. Und gerade im Bereich der Jugendkriminalität spielt die Generalprävention keine so bedeutende Rolle.

Also mehr spezifische Kriminalprävention. Und die kostet Geld und Personal. Aber wenn sie gut gemacht ist, ist sie wirkungsvoll und wirtschaftlich.

Dazu muss aber auch der Blick auf die Prävention sich verändern.

Sowohl bei denen, die operativ tätig sind, als auch bei denen, die politisch entscheiden.

Wie meinen Sie das?

Bei denen die operativ tätig sind: Weg von – zugegeben etwas polemisch – Neigungsgruppen, die Mitternachtsbasketball spielen.

So haben wir es doch früher gemacht. Nehmen wir dieses Beispiel: Mitternachtsbasketball. Hatte sich danach an der Kriminalität (wie auch immer gemessen) etwas verändert, verbuchten wir es als Erfolg und haben es zur Strategie erklärt; hatte sich nichts verändert, beriefen wir uns auf das Präventionsparadoxon und haben weitergemacht.

Sie merken, ich hadere ein wenig mit dem Präventionsparadoxon, das ich aber gar nicht grundsätzlich in Frage stellen möchte. Ich möchte nur, dass es keine Universalantwort auf Fragen der Prävention/Evaluation ist.  Misst man nach dem Tun nichts, behauptet man einfach, wenn man nichts getan hätte, wäre es noch viel schlimmer gekommen. Kann man machen, ist aber nicht professionell. Also in Zukunft hin zu problemorientierten, maßgeschneiderten und evaluierten bzw. evaluierbar angelegten Projekten und Programmen. Genau das ist gut gemachte Kriminalprävention, heute und auch zukünftig.

Und bei denen, die politisch entscheiden: Kriminalprävention benötigt Zeit, sie bietet wenig Möglichkeiten für „Quick wins“, auf die es heute ja häufig ankommt. Das muss man auf dem Schirm haben. Wir pflanzen, wenn man so mag, einen Samen ein. Die Ernte erfolgt manchmal erst Jahre später.