Musterklausur Reifenwechsel

von RD’in Pascale Woeste/Prof. Dr. Sascha Kische, LL.M., HSPV NRW

Musterklausur zum Download (PDF).

Es handelt sich um eine Klausur aus dem Grundstudium GS 4.1 und 4.2 im Bachelorstudiengang Polizeivollzugsdienst an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalens (HSPV NRW). Die Bearbeitungszeit ist auf drei Zeitstunden angelegt. Die Schwerpunkte liegen in der Prüfung von Grund- und Qualifikationstatbestand des Diebstahls, den Körperverletzungstatbeständen, Versuch und Rücktritt beim Totschlag sowie der Notwehr. Bei der Wiedergabe der (Standard-)Definitionen wird auf Quellennachweise verzichtet; ergänzende Lehr-, Lern- und Literaturhinweise in den Fußnoten tragen zu einem besseren Verständnis der strafrechtlichen Fallbearbeitung bei.

Sachverhalt

Theo ist Nachbar des Otto, der als Rentner die Wintermonate auf der sonnigen Insel Ibiza zu verbringen pflegt und sich so auch in diesem Jahr Ende September von den Nachbarn verabschiedet hat. Gewöhnlich kehrt er zum Osterfest nach Deutschland zurück.

Als die Temperaturen im Spätherbst frostiger werden und Theo plant, seinem PKW die Winterreifen zu montieren, stellt er fest, dass diese vollkommen abgefahren sind und er neue benötigt. Da Theo weiß, dass der Nachbar Otto den baugleichen Opel fährt und einen Satz neuer Winterreifen in seiner Garage lagert, kommt er auf die Idee, diese Reifen des Otto für die anstehende Wintersaison zu nutzen und vor dessen Rückkehr wieder an Ort und Stelle zu deponieren. Es begeistert ihn, dass er die Reifen des anderen unbemerkt verwenden kann und er seinerseits nun keine neuen Reifen kaufen muss. Sein täglicher Weg zur Arbeit und zurück umfasst insgesamt 100 km und Theo ist in jeder Hinsicht klar, dass das Reifenprofil eine Abnutzung erfahren wird, was ihm jedoch gerade lieb und recht ist, da es ja nicht sein eigenes Portemonnaie ist, das darunter leidet.

In der folgenden Nacht setzt Theo seinen Plan, in Ottos Garage zu gelangen, in die Tat um. Er schiebt das Tor hoch, nachdem er das entsprechende Schloss mittels eines Dietrichs problemlos geöffnet hat. Die Garage, in welcher der Rentner Otto seine Reifen lagert, ist nach einem Umbau unmittelbar durch eine unverschlossene Tür mit dessen Vorratskammer und der sich anschließenden Küche des Otto verbunden, was Theo auch bekannt ist, da der Otto gegenüber den Nachbarn schon mehrfach damit geprahlt hat, dass er seine Einkäufe stets ohne Mühe ins Haus bringen kann.

Theo trägt die Reifen auf sein Grundstück und merkt sich genau, wie diese verpackt und gelagert waren, um sie entsprechend zurücklegen zu können. Am nächsten Morgen montiert Theo die Autoreifen an seinem Opel.

Währenddessen verbringt zur gleichen Zeit der 22jährige Sohn des Theo, der Simon, den Samstagabend in der örtlichen Diskothek. Dort trifft Simon auf seine Exfreundin Franzi, die ihn erst kürzlich verlassen hat. Als Franzi zum Rauchen vor die Tür gehen will, folgt Simon ihr trotz deren Aufforderung, er solle sie in Ruhe lassen. Im Flur schiebt Simon die Franzi an die Wand, presst sich kurz mit seinem Körper gegen die Exfreundin und berührt sie unterhalb der Kleidung aufdringlich in sexueller Weise. Auf Franzis laute Hilferufe hin eilt der Türsteher des Clubs, Benno, mit dem Simons Vater, der Theo, gut befreundet ist, herbei. Trotz der Hilferufe der Franzi und einer „Ansprache“ des Benno, der Simon möge die Franzi loslassen, macht dieser ungeniert weiter. Benno erkennt die Situation und will der jungen Frau helfen. Um zu erreichen, dass Simon von seiner Ex-Freundin Franzi ablässt, ergreift er sehr kräftig den Haarschopf des Simon – was für diesen äußerst schmerzhaft ist – und zieht ihn von Franzi fort. Dabei reißt Benno dem Simon ein Büschel Haare aus. Dass die Maßnahme für Simon unangenehm und schmerzhaft ist, ist Benno klar und egal. Er will in erster Linie die Belästigung unterbinden. Anschließend erteilt Benno in seiner Funktion als Türsteher dem Simon Hausverbot.

Über das Verhalten des „angeblichen“ Freundes seines Vaters ärgert Simon sich maßlos, außerdem schmerzt ihn seine Kopfhaut noch einige Zeit später von der robusten Behandlung des Benno. Er entschließt sich dazu, dem Benno nach Dienstschluss gegen drei Uhr nachts vor dessen Haustür aufzulauern und ihm eine Abreibung zu verpassen. Als Benno tatsächlich kommt, hat Simon sich so in seine Wut hineingesteigert, dass er – für Benno überraschend – aus dem dunklen Hauseingang tritt und diesem die Klinge seines Taschenmessers mit voller Wucht in den Nacken rammt. Dabei begreift er, dass derartige Stiche tödlich sein können, was ihm jedoch in dem Moment egal ist. Als Benno nun blutend und stöhnend zu Boden geht, erschrickt Simon. Er untersucht die Wunde und erkennt zutreffend, dass sie nicht weiter schlimm ist, sondern dass es sich lediglich um eine tiefe Fleischwunde handelt. Benno tut ihm nun leid und Simon lässt von seinem Opfer ab. Um jedoch selbst nicht weiter in Schwierigkeiten zu geraten, klingelt er Sturm bei sämtlichen Nachbarn, in der zutreffenden Annahme, irgendjemand werde Benno helfen. Dann macht er sich auf den Weg nach Hause. Ein aus dem Schlaf geweckter Nachbar findet Benno vor und organisiert ärztliche Hilfe.

Aufgabe

Prüfen Sie die Strafbarkeit von Theo, Benno und Simon im Rahmen eines Gutachtens!

Anmerkungen

§ 123 StGB (Hausfriedensbruch), § 185 StGB (Beleidigung), § 211 (Mord), § 240 StGB (Nötigung), § 303 StGB (Sachbeschädigung), § 248 b StGB (Unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs) und § 323c StGB (Unterlassene Hilfeleistung) sind nicht zu prüfen. Darüber hinaus müssen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (§§ 174-182 StGB) der Franzi nicht berücksichtigt werden.