Neue Chancen durch die audiovisuelle Beschuldigtenvernehmung
Von Markus Loichen M.A., Dozent für Kriminalwissenschaften und Prof. Dr. jur. Waltraud Nolden
Die polizeiliche Handlungspraxis bei Beschuldigtenvernehmungen
Die tatsächliche polizeiliche Handlungspraxis im Rahmen von Beschuldigtenvernehmungen wurde durch unabhängige wissenschaftliche Arbeiten bisher wenig erforscht. Erste derartige Untersuchungen (z.B. Malinowski/Brusten 1977; Banscherus 1977) zeigten, dass es den Vernehmenden in erster Linie um die Durchsetzung des eigens geformten Ermittlungsinteresses gegenüber den Beschuldigten geht und ihnen dies in der Regel auch gelingt, da sie über die entsprechende Aushandlungsmacht verfügen. Die Ermittlungsbehörden haben über die selbst erstellten Akten Zugang zu sämtlichen Ermittlungshandlungen und verfügen zusammen mit der Staatsanwaltschaft, die nach §§ 161 I, 152 StPO ‚Herrin des Verfahrens‘ ist, über deren Deutungshoheit. Das polizeiliche Ermittlungsinteresse besteht also in erster Linie in der Herstellung einer nach außen wirkenden hohen Passgenauigkeit zwischen den eigenen kategorialen kriminalistischen Denkmustern und den möglichst zahlreich zu generierenden Aussagen zu Beteiligungen an Straftaten und Tathandlungen durch die Beschuldigten selbst.
Ob diese subsumtionslogische Durchsetzung eines regelmäßig zu Ungunsten von Beschuldigten ausfallenden Dominanzgefälles (vgl. u.a. Schröer 2004) auch zu einer späteren erhöhten Gerichtsfestigkeit führt, soll an dieser Stelle nicht betrachtet werden. Angesichts psychologischer Befunde (vgl. Rasch/Hinz 1980) ergibt sich jedoch der Verdacht, dass mit der kategorial-versionshaften Übertragung des Tatgeschehens auf gesetzeskonforme Sachverhalte eine Realität geschaffen wird, die mit der Erlebniswelt der Beteiligten einer Straftat kaum noch etwas gemein hat (ebd., S. 377). „Die Asymmetrie der Vernehmungssituation, in der ein verstörter Beteiligter einer Straftat einem in beruflicher Routine handelnden Beamten gegenübersteht, biete[t] eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß sich der Beamte mit seinen Deutungsmustern durchsetzt.“ (ebd.). Die eigentliche Krisensituation, nämlich dass die Vernehmenden im Wesentlichen eine von ihrem eigenen Standpunkt aus nicht miterlebte und nur indirekt zugängliche Realität rekonstruieren müssen (Malinowski/Brusten 1977, S. 109), wird nicht anerkannt und offenbart erste Entscheidungsstrukturen, die eine Lösung des Problems im Sinne der Aufrechterhaltung des Dominanzgefälles zugunsten der Ermittlungsbehörden geradezu erzwingen.
Kurz gesagt versuchen die Vernehmenden ihre durch ‚schöpferische Fantasie und Vorstellungskraft‘ gebildeten Versionen (vgl. Ackermann/Clages/Roll 2019, S. 212) zum Ablauf der Tat und der Beteiligungen aus dem Material der Ermittlungsakten heraus für sich auf der Basis praktischer polizeilicher Erfahrungen (ebd., vgl. auch Hahn 2015, S. 95) nachzuzeichnen, um sodann die eigens gebildete Denkstruktur möglichst umfänglich an die Beschuldigten heranzutragen. Im Rahmen einer immer nur zeitlich begrenzt möglichen Versionsbildung (Ackermann/Clages/Roll 2019, S. 194), die aber faktisch den gesamten Untersuchungsverlauf begleiten soll, bis schließlich die Wahrheit festgestellt ist‘ (ebd., S. 193) konstituiert sich die Dominanz der Vernehmenden oftmals durch ein Amalgam aus vermittelter semantischer Überlegenheit und trickreichen Inszenierungen, die es zunehmend erschweren, die ‚kriminalistische List‘ von einer Täuschungshandlung nach § 136a I 1 StPO zu trennen, während den Beschuldigten der Zugang zu dieser (vor-) konstruierten Welt überwiegend verwehrt bleibt.
Die hier skizzierte krisenhafte Entscheidungsstruktur wird jedoch insbesondere von erfahrenen Vernehmenden nur in seltenen Fällen bemerkt, weil in der Regel die Entscheidungen schon immer durch eingespielte Routinen vorweg getroffen wurden (vgl. Oevermann 2002, S. 9). Letztlich ist dies den Ermittelnden auch nicht vorzuwerfen, bezeichnet doch selbst die einschlägige Kriminalistik-Literatur allein die ‚Praxis als höchstes Kriterium der Wahrheit‘ (Ackermann/Clages/Roll 2019, S. 52). Die aktuelle Fachliteratur zum Thema Vernehmungen vermittelt dieses routinehafte Rezeptwissen umfassend in „Beispielen zur Veranschaulichung“ (vgl. u.a. Hermanutz/Litzcke/Kroll 2018) und rückt dabei die stark eingeschränkte Anwendbarkeit auf den jeweils vorliegenden Einzelfall in den Hintergrund.
Diese Vorstrukturierung unterschätzt die Komplexität einer Vernehmungssituation ebenso wie die qualitative Individuiertheit des jeweiligen Falls und suggeriert beispielsweise durch das Zur-Verfügung-Stellen kategorialer Vernehmungskarten (Hermanutz/Adler 2010; Hermanutz/Adler 2012; Hermanutz/Adler 2013; Hermanutz/Schröder 2016) den scheinbar systemisch generierten Ermittlungserfolg für die noch unerfahrenen Vernehmenden (erfahrende Vernehmende dürften ohnehin auf die eher unsicher wirkende Verwendung von Karteikarten in einer Vernehmungssituation verzichten). Ebenso komplex und abstrakt erscheinen die streng vordefinierten und mit Einzelbeispielen aufgeladenen Glaubhaftigkeitsmerkmale (vgl. Hermanutz/Litzcke/Kroll 2018, S. 55 ff.), die eine wirksame Anwendbarkeit in der Vernehmungspraxis ebenso zweifelhaft erscheinen lassen. Insgesamt wird der Eindruck erweckt, der Vernehmungserfolg könne wie bei einer guten Ingenieursleistung durch stricktes Einhalten systemischer Vorgaben erreicht werden.
Das Ergebnis einer erfolgreichen Vernehmung muss sich jedoch vielmehr an der immanenten regelerzeugenden Individuiertheit des jeweiligen Einzelfalles der zu vernehmenden Personen messen lassen, denn nur so konstituiert sich die von vornherein noch ergebnisoffene Autonomie der menschlichen Lebenspraxis (vgl. Oevermann 2002, S. 11). Nur in der Anerkennung des Vorliegens eines jeweils praktischen Grenzfalles durch die Vernehmenden, „wenn Überzeugungen und Routinen überraschend scheitern, oder wenn von vornherein etwas Neues gesucht werden muß, wenn also eine Krise manifest vorliegt, wird uns die Entscheidungssituation und -ungewißheit als solche bewußt“ (ebd., S. 9) und wir sind erst dann in der Lage, unsere Entscheidungen entsprechend anzupassen.
Betrachtet man in der historischen Abfolge weitere Forschungsbemühungen zu dieser Thematik, so waren erhebliche Restriktionen im Feldzugang zu beobachten, konstituierend auf einem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Sozialwissenschaftlern und der Polizei (Schröer 2003, S. 62). Seither wird die vorhandene deutschsprachige Vernehmungsliteratur zumeist von der Autorenschaft ehemaliger oder noch aktiver Polizeibediensteter dominiert. Zwar hat sich das zuvor erwähnte Spannungsverhältnis in den letzten Jahren insbesondere durch eine zunehmend wissenschaftlich eingestellte Hochschullandschaft innerhalb der Polizeien der Länder und des Bundes verbessert, jedoch ist in der Weiterentwicklung der kriminalwissenschaftlichen Literatur, insbesondere zu Vernehmungen, bisher wenig Bezug zu den Humanwissenschaften zu verzeichnen (Ausnahmen bilden erfreulicherweise die Arbeiten von Mohr/Schimpel/Schröer (2006) zur ‚Beziehungsarbeit‘ und von Niegisch/Thielgen (2018) zum ‚Vernehmungsstandard 3K‘).
Im reduzierten Gegensatz dazu erfreuen sich, nicht zuletzt durch eine starke mediale Inszenierung, die populärwissenschaftlichen Inhalte der Kriminalpsychologie zunehmender Beliebtheit (vgl. z.B. Füllgrabe 2016) und werden für die polizeiliche Vernehmungspraxis als mystisches Vehikel in Form eines falsch verstandenen Positivismus als professionell und erfolgversprechend angepriesen (vgl. z.B. Ackermann/Clages/Roll 2019, S. 607 f.). Die vom Vernehmenden zu leistende Interpretation hat in komplexen Vernehmungssituationen, unter Rückbeziehung auf vorgegebene Typisierungen polizeilichen Wissens im ‚Jetzt und So‘ zu erfolgen (Malinowski/Brusten 1977, S. 109).
So wird in der polizeilichen Vernehmungsliteratur beispielsweise von einer vermeintlich simplen Erkennbarkeit der Pathologie eines Lügners gesprochen (Habschick 2016, S. 406), die sich vor allem bei schnell sprechenden Personen, mit auffallendem Selbstbewusstsein, die Sachverhalte nicht sofort schlüssig oder vom selbst definierten Kern abweichend schildern und darüber hinaus noch im Besitz von Beweismitteln sein könnten, zeigen soll (vgl. ebd.). Die an dieser Stelle durch anschließende Exemplifizierungen vermeintlich bestätigten Lügenmerkmale und die daraus resultierenden Vernehmungstipps sind ebenso fahrlässig wie gefährlich (Niehaus 2009, S. 511). Als bevorzugte Vernehmungsstrategie wird dazu mechanisch die Erhöhung des Befragungsdrucks empfohlen, der in unterschiedlichen Ausformungen die Vernehmenden in die Lage versetzen soll, Täuschungshandlungen bei den Beschuldigten aufgrund körperlicher Reaktion im ‚Jetzt‘ zu erkennen und im ‚So‘ umgehend und folgerichtig zur Erhaltung der Deutungshoheit durch die Ermittlungsbehörden gegen die Beschuldigten einzusetzen. Die vorgeschlagenen Strategien reichen von Alternativvorschlägen zum Lügendetektor in Form der Kontrollfragetechnik (vgl. Lykken 1960) bis hin zu Konzepten wie die der REID-Technik (Inbau/Reid/Buckley/Jayne 2014), welches jeglicher wissenschaftlicher Grundlage entbehrt und zudem die Anzahl falscher geständiger Einlassungen erhöht (Volbert/Böhm 2008).
Die Rechte der Beschuldigten, nämlich dass sie sich nicht selbst belasten, gar nicht erst aussagen müssen und sogar lügen dürfen, sofern sie nicht andere falsch verdächtigen, finden bei der hier angewendeten einflussnehmenden Subsumtionslogik in der Vernehmung aufgrund der massiven Bemühungen zur Aufrechterhaltung des Dominanzgefälles durch die Vernehmenden nur wenig Beachtung. Im Gegensatz dazu ist bei der eher rekonstruktiv geprägten Arbeit mit Zeuginnen und Zeugen in Vernehmungen insbesondere darauf zu achten, dass die Rezeption, die Reproduktion und die Wiedergabe des eigentlichen Aussageaktes berücksichtigt werden. Aber auch andere individuelle, soziale und situative Faktoren sowie die Form und Art der Nachfrage können diese Aussagen ganz entscheidend beeinflussen und auch verfälschen (Zittlau 1992, S. 637). Aus wissenschaftlicher Perspektive wird bei einer Beschuldigtenvernehmung durch den aktiven Befrager bei den Testobjekten eher über kategoriale Merkmale im Sinne eines Kreuzverhörs geprüft, während eine Zeugenvernehmung durch Offenheit, Wertschätzung und der Möglichkeit freier Äußerungen die Konstitution qualitativer Ausprägungen begünstigt, die auf einer gleichwertigen Basis in Form eines Dialogs gewonnen werden (vgl. Kleining 1982, S. 241).
In Form von Handbüchern, Karteikarten, Leitfäden, Beispielkatalogen und Checklisten werden zu Beschuldigtenvernehmungen vor allem erfolgreiche (aber empirisch nur unzureichend belegte) Einzelfälle der Vergangenheit in den Mittelpunkt der Darstellungen gerückt, die bei lediglich lückenhafter, subsumtionslogischer Anwendung und damit stets ungenügender Passgenauigkeit zum jeweils vorliegenden Einzelfall, den Vernehmenden die ersehnten Ermittlungserfolge bescheren sollen. Selbst die einschlägige Literatur zur Kriminaltaktik (vgl. bspw. Ackermann/Clages/Roll 2019, S. 640 ff.) nennt einflussnehmende ‚Grundstrategien‘, die dem Vernehmenden die Dominanz durch Sondieren, Abtasten, Überrumpeln und Zermürben des Beschuldigten ermöglichen sollen, obwohl an gleicher Stelle die dafür erforderlichen Taktiken als aus „Erfahrungen abgeleitet, theoretisch und vernehmungspsychologisch nicht genügend fundiert“ (ebd., S. 641) in ihrer Empfehlung für deren Anwendung eigentlich als obsolet behandelt werden sollten (Loichen 2019, S. 49). Diese Strategien finden weder eine konsequente Fortsetzung in der Vernehmungstaktik, noch werden die dafür erforderlichen Theorien aus den Humanwissenschaften im Studium und der Ausbildung von Polizeibediensteten ausführlich gehört, besprochen oder kritisch reflektiert und somit auch nicht in der Praxis angewandt (Hahn 2015, S. 95).
Folgt man den Hinweisen aus der kriminalistischen Anleitungsliteratur, meist entstanden unter der Mitwirkung von Vernehmungspraktikern (Artkämper/Schilling 2018; Bindig/Seul 2013; Habschick 2016; Hermanutz/Litzcke/Kroll 2018; Meyer/Wolf 1990), kann man davon ausgehen, dass Beschuldigte kaum eine Chance haben, der Deutungshoheit eines Vernehmungsbeamten etwas entgegenzusetzen (vgl. Schröer 1992).
Da Beschuldigte nach §§ 163a III 1, 133 II StPO nur vor der Staatsanwaltschaft oder dem Ermittlungsrichter erscheinen müssen, raten deshalb auch Strafverteidiger, wie auch die Verfasserin, ihren Mandanten, an einer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung erst gar nicht oder nicht ohne Rechtsbeistand (§ 163a IV S. 2, 168c I, V StPO) teilzunehmen. Mögliche Einlassungen des Mandanten erfolgen hier grundsätzlich schriftlich.
Insbesondere das Verhalten der Polizei, das sich außerhalb eines strafprozessual, rechtlichen Rahmens von Beschuldigtenvernehmungen bewegt, zeitlich oftmals großzügig ausgedehnt und die zumeist lückenhaft dokumentierten ‚vorbereitenden Gespräche‘ (Meyer/Wolf 1990, S. 232) oder in der aktuellen Literatur auch als ‚vorausgehende Kontaktgespräche‘ (Habschick 2016, S. 164 f.) oder ‚Erkundungsgespräche‘ (Ackermann/Clages/Roll 2019, S. 603) bezeichneten Handlungsempfehlungen sollten für jeden ermittlungspraktischen Einzelfall kritisch hinterfragt werden.
Zwar besteht in der wissenschaftlichen Vernehmungsforschung (noch) weitgehend Einhelligkeit darüber, dass die Aushandlungs- oder Definitionsmacht in polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen in der Regel auch den Vernehmenden zugeschrieben und anerkannt werden sollte, zumindest innerhalb der Vernehmungspraxis für die kleinere und mittlere Kriminalität (Schröer 2003, S. 64; zur Problematik der ‚schweren Kriminalität‘, hier: Vernehmungssituationen bei Mordermittlungen, vgl. Rasch/Hinz 1980). Jedoch gehören so manche ‚Vernehmungsgrundsätze‘ (vgl. u.a. Meyer/Wolf 1990, S. 236 ff.) für eine nahezu bedingungslose Konstituierung des Aushandlungsgefälles zugunsten der Vernehmenden auf den Prüfstand. Die Obsoleszenz solcher bisher vermittelter Vernehmungsstrategien und -taktiken (Loichen 2019, S. 49) wird bereits in der basalen Sinnstruktur so mancher Anleitung für die Vernehmungspraxis deutlich: „…es muß angestrebt werden, schon bei der ersten Vernehmung ein Geständnis zu erreichen … nicht die Nerven verlieren, auf alles gefaßt sein … gleiche Fragen stellen, vielleicht Reihenfolge ändern … ‚kein Baum fällt beim ersten Hieb‘ … nicht die Trümpfe aus der Hand geben, Beweismittel sammeln und ‚massiven Angriff‘ fahren“ (Meyer/Wolf 1990, S. 237, Hervorhebungen im Original).
An dieser Stelle mag die Fachwelt vielleicht anmerken, dass dieses Werk als „Kriminalistisches Lehrbuch der Polizei“ mittlerweile nicht mehr verlegt wird, jedoch finden sich ähnliche Formulierungen auch in der aktuellen Kriminalistikliteratur. Die Beschuldigtenvernehmung soll, wenn der Täter sich nicht geständig zeigt, das Ziel haben, seine Geständnisbereitschaft zu erzeugen (Ackermann/Clages/Roll 2019, S. 600). Die kognitive Belastung der Befragungsperson zu erhöhen und Ereignisse in unterschiedlichen Reihenfolgen berichten zu lassen oder diese umzukehren empfehlen Hermanutz/Litzcke/Kroll (2018), S. 36, obwohl an gleicher Stelle angemerkt wird, dass manche Aussagepersonen gar nicht in der Lage sind, einen Sachverhalt in umgekehrter Reihenfolge zu erzählen. Das Dominanzgefälle zugunsten der Vernehmenden in Beschuldigtenvernehmungen wird treffend als „besonderes und einseitig geführtes Gespräch in einem Kommunikationsprozess“ mit dem Ziel „den Täter zu einer wahren Aussage […] zu veranlassen.“ (Ackermann/Clages/Roll 2019, S. 602) beschrieben.
Vertritt man die Ansicht, der Sinn einer Beschuldigtenvernehmung sei ausschließlich (Groß/Geerds 1978, S. 140) oder zumindest auch (KK-StPO/Diemer 2019, § 136 Rn. 1) die Erforschung der Wahrheit (zur Ansicht, die den Sinn der Beschuldigtenbefragung allein in der Gewährung rechtlichen Gehörs sieht: Degener 1992, S. 462), dann kann dies auf dem fehlerhaften Verständnis beruhen, die Wahrheit zu erfahren verlange unweigerlich, den Beschuldigten zur Rede zu bringen (so auch die Kritik von Lindner 1988, S. 56., 67f. an Sydow).
Abgesehen von der Empfehlung, diese Art der Erhebungsmethoden zu hinterfragen, zeigen sich bei der handlungsentlasteten Feinanalyse technisch aufgezeichneter und anschließend transkribierter Aussagen bereits erste Zweifel am tatsächlichen Vorhandensein einer unterstellten Aushandlungsdominanz der Vernehmenden (Schröer 2003, S. 64). In einem hierzu erforschten Fall wurde die schleichende und vom Vernehmenden unbemerkte Demontage und sogar die Umkehrung des Dominanzgefälles zugunsten des Beschuldigten offenbar, indem es diesem scheinbar mühelos gelang, den Vernehmer aus dem Rhythmus zu bringen, die Interaktion zur Ausforschung des Ermittlungsstandes zu instrumentalisieren sowie überdies implizit die Bedingungen für die weitere Vernehmungsführung zu diktieren, auf die sich der Beamte auch noch sofort einließ (ebd., S. 65-66). Aufgrund der den Beschuldigten zustehenden umfassenden Rechte stellt sich hier ohnehin die Frage, warum dieser Personenkreis überhaupt bei der Polizei erscheinen bzw. sich auf eine Vernehmungssituation einlassen sollte, wenn nicht vordergründig auf der Grundlage opportunistischer Verhaltensmuster. Unterstellt man den Beschuldigten, dass sie dabei rational handeln, so tun sie dies ausschließlich, weil ihnen ihre Handlungen im Hinblick auf ihre Ziele als sinnvoll erscheinen und weil diese als ein gutes Mittel gelten können, diese Ziele auch zu erreichen (Nida-Rümelin 1994, S. 3).
Bereits das Erfordernis eines Vorhalts impliziert die Preisgabe zumindest eines Teils der Ermittlungsergebnisse. Somit wird für die Beschuldigten vordergründig von Interesse sein zu erfahren, wie weit die Ermittlungen vorangeschritten sind, wie der Wert des Nachweises von Tat und Täterschaft für sie selbst zu beurteilen ist und wer diejenigen Personen sind, die belastende Indizien und Beweise gegen die Beschuldigten vorbringen können.
Ein weiteres Problem sind die Filterungsprozesse bei der Umsetzung der Vernehmung in ein schriftliches Protokoll (Banscherus 1977, S. 215 ff.). Eine wissenschaftliche Untersuchung dieser Filterungsprozesse, z.B. mit Hilfe eines Vergleichs transkribierter Tonaufzeichnungen oder audiovisueller Aufzeichnungen von Vernehmungen und den dazu gefertigten schriftlichen Vernehmungsprotokollen könnte dabei ein erster Schritt sein, Protokollierungsfehler zu identifizieren, also auf Mängel bei der Umsetzung hinzuweisen (ebd.).
Ein weiteres Problemfeld, welches das Dominanzgefälle zugunsten der Vernehmenden fördern dürfte, ist der Einsatz von Dolmetschern. Forschungsergebnisse zum Prozess einer Rollenüberformung belegen „die Neigungen der Dolmetscher, die polizeilichen Ziele der Vernehmungsgestaltung emotionsgeleitet zu unterstützen, und zeigen gleichfalls auf, dass die Vernehmungsbeamten die Rollenerweiterung nicht nur akzeptieren, sondern sogar bereit sind, sie zu fördern (Schumann 2018, S. 53).
Die Bedeutung einer objektiven Hermeneutik für die Erzeugung qualitativer Daten und die Fallrekonstruktion aus dem Datenmaterial von Beschuldigtenvernehmungen
Die erwähnten Arbeiten von Schröer (1992, 2003) enthalten bereits hermeneutische Ansätze der Fallanalyse bei polizeilichen Beschuldigtenvernehmungen und stellen die Beziehungsarbeit als Lösungsansatz in den Mittelpunkt (Mohr/Schimpel/Schröer 2006, S. 15 ff.). Da für eine sich anschließende Analyse im Einzelfall zunächst die Dokumentation von Beschuldigtenvernehmungen konstitutiv ist, soll hier vordergründig die Erzeugung des qualitativen Datenmaterials näher betrachtet werden.
Niegisch und Thielgen (2018) benennen bei der Frage, welche Faktoren den Erfolg einer Vernehmung als polizeiliche Kernaufgabe sicherstellen und fördern können, neben der rechtlichen Fehlerfreiheit und Effizienz die Objektivität, Zuverlässigkeit und die Inhaltsvalidität als wichtige Attribute einer erfolgreichen Vernehmung (vgl. ebd., S. 727). Dies entspricht den in der empirischen Sozialforschung geforderten Gütekriterien (für die Gültigkeit der qualitativen, in Abgrenzung zu den quantitativen Gütekriterien vgl. u.a. Kleining 1982, S. 245 ff.). Der qualitative Ansatz eignet sich schon deswegen für die Vernehmungsproblematik, weil die Rekonstruktion von Wahrheiten als standortgebundene und in Bezugssystemen verankerte subjektive Theorien gerade ihr Gegenstand ist (vgl. Helfferich 2009, S. 76). Diese Betrachtungsweise erlaubt erste Annäherungen an die Methodologie der objektiven Hermeneutik (Oevermann 2002; Oevermann 2000), aus der sich nicht nur zahlreiche Ansätze zur Auswertung der im protokollierten Vernehmungsmaterial verborgenen latenten Sinnstrukturen und objektiven Bedeutungsstrukturen (Oevermann 2002, S. 1) ergeben, sondern bei der auch die anderen Elemente des Verstehens menschlicher Lebenspraxis, wie die der Datenerhebung (und darin enthalten auch die Gütekriterien) sowie die Transkription wichtige praktische Hinweise liefern können (Garz/Raven 2015, S. 141).
Im Sinne der objektiven Hermeneutik werden technische Aufzeichnungen stets den gestalteten Protokollen vorgezogen (Oevermann 2000, S. 84). Auf die kriminalistische Vernehmungspraxis bezogen, rückt damit die verstärkte Nutzung technischer Möglichkeiten, insbesondere der audiovisuellen Aufzeichnung von Vernehmungen, in den Fokus. Die Aufzeichnungen bilden einerseits authentisch die so dokumentierten Vernehmungssituationen nahezu idealtypisch ab und schaffen anderseits die Möglichkeiten für weiterführende handlungsentlastete Analysen.
Durch das „Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens“ vom 17.08.2017 (BGBl I, S. 3202) wurde im August 2017 mit Wirkung zum 01.01.2020 der § 136 IV StPO in das Gesetz eingefügt. Durch den Verweis in § 163 a IV 2 StPO auf diese Bestimmung entstand seither eine Verpflichtung zur audiovisuellen Aufzeichnung in bestimmten Verfahren oder besonderen Konstellationen für polizeiliche Vernehmungen des Beschuldigten. Gesetzgeberisches Ziel war auch hier die Wahrheitsfindung zu verbessern, da eine Videoaufzeichnung den Verlauf einer Vernehmung authentisch wiedergibt und dem herkömmlichen schriftlichen Inhaltsprotokoll überlegen ist. So formuliert der Gesetzgeber ausdrücklich: „Die in kommunikativen Prozessen naturgemäß auftretenden Wahrnehmungsmängel können auf einer Videoaufnahme leichter aufgespürt und nachvollzogen werden als in einem schriftlichen Protokoll, dessen Inhalt durch die Wahrnehmung des mitschreibenden Vernehmungsbeamten gefiltert und damit grundsätzlich fehleranfällig ist…Daneben dient die Dokumentation dem Schutz des Beschuldigten vor unsachgemäßen und – im Sinne des § 136aStPO – rechtswidrigen Vernehmungsmethoden“ (BT-Drs. 18/11277, S. 24). Für Strafverteidiger stellt sich darüber hinaus die interessante und nun audiovisuell dokumentierte Antwort auf die Frage, ob zum Beweisverwertungsverbot führende Fehler der vernehmenden Polizeibeamten in der Beschuldigtenbelehrung gemacht wurden, so dass er der Verwertung der Aussage des Beschuldigten erfolgreich widersprechen kann (hierzu KK-StPO/Griesbaum, § 163a Rn. 35).
Auch in der Soziologie ist anerkannt, dass gestaltete Protokolle immer „durch eine subjektive Wahrnehmung der protokollierten Wirklichkeit … in einer bestimmten Ausdrucksmaterialität hindurch [beeinflusst wird]… weil sie in sich schon mehrfach gestuft diese Wirklichkeit umgeformt und in eine Wirklichkeit des Protokollierenden verwandelt haben.“ (Oevermann 2000, S. 84). „Insofern sind ‚technisch kalt‘ erzeugt [sic] Protokolle vorteilhaft und den ‚gestalteten‘ Protokollen vorzuziehen, was dann auch für die Methodik der Beobachtung sowie des Interviews in Verbindung mit deren Aufzeichnungen spricht.“ (Garz/Raven 2015, S. 142, Hervorhebungen im Original).
Die Bedeutungsstruktur bleibt somit bei technischen Aufzeichnungen erhalten und wird unverzerrt wiedergegeben, „so daß Protokollierungshandlung und protokollierte Wirklichkeit nicht miteinander vermengt sind.“ (Oevermann 2000, S. 85). Die subjektive Sinnschicht (z.B. Motive, Ziele, Absichten) wird durch die Aufzeichnung der Vernehmung authentisch konserviert und kann handlungsentlastet im Nachgang durch die Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen und objektiver Bedeutungsstrukturen überprüfbar nachvollzogen werden. Dies wird möglich, in dem man im Sinne der objektiven Hermeneutik davon ausgeht, „daß die sprachlich erzeugten objektiven Bedeutungen den subjektiven Intentionen konstitutionslogisch vorausliegen und nicht umgekehrt der je subjektiv gemeinte bzw. intendierte Sinn die objektive Bedeutung von Ausdrücken erzeugt.“ (Oevermann 2002, S. 1). Dadurch kann die objektive Hermeneutik für sich zu Recht in Anspruch nehmen, dass „sie in demselben Maße Objektivität ihrer Erkenntnis bzw. ihrer Geltungsüberprüfung beanspruchen“ kann, wie man es von den Naturwissenschaften gewöhnt ist (ebd., S. 5).
Ein weiterer Aspekt im Hinblick auf eine Datenerhebung, wie hier im Rahmen von Ermittlungsvorgängen, ist die Frage, ob es sich um Daten handelt, die bereits in den Ermittlungsakten vorliegen (z.B. Protokolle, Berichte) und auf die im Rahmen einer Vernehmung ggf. zurückgegriffen wird oder um neue Daten, die im Rahmen des Interviews (der Vernehmung selbst) erzeugt werden sollen (vgl. Garz/Raven 2015, S. 142). Die Interviewsituation darf also keiner Inszenierung durch die Vernehmenden gleichen, die ausschließlich zu diesem Zweck erfolgen soll, sondern sollte die naturwüchsige Konstitution der Handlungspraxis der zu Vernehmenden in den Mittelpunkt stellen (vgl. Oevermann 2000, S. 87-88).
Professionelle Vernehmungspraxis heißt in dem Fall, sich als Vernehmerin oder Vernehmer zurückzuhalten und so wenig wie möglich an das Protokoll heranzutragen, um dem Gegenüber möglichst viel Raum für seine eigenen naturwüchsigen Schilderungen einzuräumen, um damit „eine von der zu protokollierenden Praxis selbst herbeigeführte Koinzidenz von Eröffnung und Beschließung zwischen Protokoll und protokollierter Wirklichkeit“ (ebd., S. 88) zu erreichen. Ansätze für eine solche Vernehmungspraxis bietet beispielsweise das narrative Interview (Hermanutz/Litzcke 2009, S. 125 ff.). Allerdings verkennt die dort stark verkürzte Abhandlung, dass es nicht um ein ‚Verunsichern‘ oder Ablenken der Beschuldigten geht, indem man das Gegenüber zunächst auffordert, über persönliche biografische Details der eigenen Lebenspraxis zu sprechen (ebd., S. 125), um dann listigerweise unmerklich den eigentlichen Vorhalt einzuführen.
Zwar stellt auch eine kriminelle Tathandlung einen festen Bestandteil der Lebensgeschichte dar, jedoch sollte aus mikrosoziologischer Perspektive hinsichtlich der Verwendung des narrativen Interviews klar werden, dass man „die Menschen nicht nach irgendwelchen ausgebufften, abstrakten Konzepten fragen sollte, sondern sie zum Erzählen bringen müsse, damit die Zugzwänge der Darstellung wirken…“ (Schütze 2019, S. 151). Angewendet auf die Sprache polizeilicher Vernehmungsliteratur könnte die erfolgreichste Taktik gegen geäußerte Unwahrheiten bei Beschuldigtenvernehmungen wohl darin bestehen, die Personen einfach lügen zu lassen (Bender/Wartemann 1992; Habschick 2016, S. 408), deren Aussage audiovisuell zu dokumentieren und sie im Anschluss einer handlungsentlasteten Auswertung zugänglich zu machen.
Angesichts der Umstände, dass zukünftig trotz der neu geschaffenen Möglichkeiten nicht alle Vernehmungen technisch aufgezeichnet werden können, somit auch immer beschreibende bzw. gestaltete Protokolle vorliegen werden, muss weiterhin berücksichtigt werden, ob der Prozess der Verschriftlichung „des Protokolls von der protokollierten Praxis oder einem integralen Bestandteil in ihr selbst durchgeführt wurde oder von einer externen Instanz…“ (Oevermann 2000, S. 88, Hervorhebungen im Original). Dies ist deswegen von zentraler Bedeutung, weil das vorliegende Protokoll „zuerst auf seine latente Sinnstruktur einer protokollierenden (Ermittlungs-)Handlung hin ausgelegt werden muß, bevor an die Entzifferung der in diesem Bericht protokollierten Strafhandlung selbst gedacht werden kann.“ (Oevermann/Leidinger/Tykwer 1996, S. 305). Insbesondere bei „fremd“ durchgeführten audiovisuellen Vernehmung, z.B. bei Auslandszeugen (vgl. Norouzi 2010) spielt es eine entscheidende Rolle, von welchen Ermittelnden die Vernehmungssituation gestaltet und/oder protokolliert wurde.
Der letzte Punkt der Betrachtungsweise einer Datenerzeugung im Sinne der objektiven Hermeneutik ist die „Außeralltäglichkeit vs. Alltäglichkeit der Protokollierung“ (Oevermann 2000, S. 88), also die Unterscheidung nach einer entweder eher krisenhaft geprägten Ermittlungssituation (z.B. bei schwerer Kriminalität, Terrorismus-Straftaten, aber auch bei Cold-Case-Fällen, der Befragung von Kindern oder bei der Vernehmung von Personen mit psychischen Besonderheiten) oder einer eher routinehaft gestalteten Vernehmungssituationen (wie z.B. bei der Bearbeitung der einfachen und mittleren (Alltags-)Kriminalität).
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Neuregelung des § 136 IV StPO (ab 01.01.2020) über die nunmehr verpflichtende Aufzeichnung von Beschuldigtenvernehmungen im Ermittlungsverfahren in bestimmten Fällen nicht nur aus juristischer Sicht, sondern insbesondere auch für die Auswertungsmöglichkeiten mittels qualitativer Analyse auf der Grundlage empirischer Wissenschaften, neue Impulse und erweiterte Möglichkeiten für die polizeiliche Ermittlungspraxis bieten können. Dies sollte jedoch eine Abkehr vom standardisiert vermittelten Dominanzgefälle durch die Vernehmenden einschließen und sich stärker an einem Vorbereitungsprozess weiterer Professionalität, z.B. durch die Strafverteidigung, orientieren. Die einflussnehmenden, subsumtions- und überprüfungslogischen Vernehmungstaktiken, die derzeitig in der Mehrzahl der Kriminalistikliteratur postuliert werden, stehen diesem Ansinnen unvereinbar gegenüber.
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