Seelische Eigensicherung – die verschwiegene Arbeit der Polizeiseelsorge in NRW

Von Folkhard Werth, Landespfarrer für Polizeiseelsorge

„Ein Kollege hat mit mir Ihre Erreichbarkeit gegeben und gemeint, mit Ihnen könnte ich mal über meine momentane Situation sprechen“. In dieser oder ähnlicher Weise werden Gespräche mit Polizeiseelsorger*innen angebahnt. Treffpunkt und Uhrzeit werden ausgemacht, und es kommt zu einem Gespräch über belastende dienstliche oder private Situationen mit dem Ziel, im gemeinsamen Austausch neue Perspektiven für den Dienst bzw. das Leben zu finden. Damit wird bereits die erste und wichtigste der vier Säulen der Arbeit der Polizeiseelsorge beschrieben:

1. Seelsorge und Beratung

In den 60iger Jahren der noch jungen BRD wurde in NRW – ähnlich auch in den anderen Bundesländern – die Aufgabe der Vermittlung polizeilicher Berufsethik und der Seelsorge an die evangelischen Kirchen und die katholischen Bistümer kraft Vereinbarungen übertragen. Die Kirchen stellen dem Land dafür „geeignete“ Pfarrer*innen, Pastor*innen, Priester, Diakone, Pastoral- und Gemeindereferent*innen zur Verfügung. Für jede Behörde ist ein*e evangelische*r und ein*e katholische*r Seelsorger*in zuständig. Ihre Adressaten und deren Angehörige sind alle bei der Polizei Beschäftigte. Sie sind nicht beim Staat angestellt, sondern bleiben weiterhin auf den Gehaltslisten ihrer Kirchen. Damit ist die Unabhängigkeit und Weisungsungebundenheit in dem hierarchischen System “Polizei“ gewahrt, denn das Alleinstellungsmerkmal der Polizeiseelsorge ist auf jeden Fall die absolute Verschwiegenheitspflicht bis hin zum Beichtgeheimnis. Sie arbeitet in diesem Bereich vollständig im Verschwiegenen. Das bezieht sich übrigens nicht nur auf Gesprächsinhalte, sondern auch auf die Verschwiegenheit, ob und wer Kontakt zu dem*der Seelsorger*in aufgenommen haben könnte. Fragt z. B. eine Führungskraft im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht, ob der Kollege NN aus seiner Dienststelle ein Gespräch mit der Polizeiseelsorge hatte, so lautet die Antwort: „Fragen Sie ihn bitte selbst!“.

Das Themenspektrum der Gespräche ist weit und umfasst alle Dienst- und Lebensthemen: Tod, Trauer, Partnerschaft, Kinder, Eltern, Belastungen, Konflikte, Funktionswechsel, Beratung in persönlichen Entscheidungssituationen, Einsätze, die einem nahe gehen. Bei Letzterem ist es schön zu sehen, dass die neue Generation von Polizeibeamt*innen nach Einsätzen, die Fragezeichen im Kopf hinterlassen, frühzeitig das Gespräch sucht. In der Regel ist es dann auch mit einem, maximal drei Gesprächen getan. Viele altgediente Polizeibeamte der „alten Schule“ tragen viel zu lange an ihrem Ballast, und Vieles lässt sich dann im Gespräch auch nicht mehr lösen.

Gesprächsziel ist nicht nur der Erhalt der Arbeitskraft, sondern die psychische Stärkung und eine bessere emotionale Lebensqualität allgemein. Die Seele will gut gesichert sein bei vielem, was Polizeibeamt*innen im Dienst begegnet und nicht zu nahe kommen sollte („seelische Eigensicherung“). Die Seele muss sich auch entlasten können von Negativem, das sich im Laufe der Einsätze dort ansammelt. Ausdrücklich sei erwähnt, dass die Polizeiseelsorge überkonfessionell arbeitet, d.h. Religion und Weltanschauung der Gesprächspartner*innen spielen keine Rolle.

Neben den Gesprächsanfragen per Mail oder Telefon versuchen Polizeiseelsorger*innen, präsent zu sein im Polizeialltag in Form von Wach- und Dienststellenbesuchen, Einsatzbegleitungen z. B. mit der Hundertschaft, mit dem Wach- und Wechseldienst oder der K-Wache. Dort kommt es immer wieder zu kurzen Gesprächen zwischen Tür und Angel, mitunter auch zu längeren Vier-Augen-Gesprächen („Wenn du schon mal da bist … hast du einen Augenblick Zeit für mich?“) oder einer Terminvereinbarung. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Beobachtung bei der Weitergabe der Visitenkarte, dass allein das Wissen, dass jemand im Notfall erreichbar ist, hilft und stärkt.

Alle Polizeiseelsorger*innen haben Zusatzausbildungen. Verpflichtend ist die Ausbildung in Krisenintervention (SbE/CISM). Darüber hinaus haben fast alle Polizeiseelsorger*innen Ausbildungen in Coaching, Beratung, Supervision, Therapie. Unterschiedliche Supervisions- und Beratungsformate (einzeln oder in Gruppen) bieten sich insbesondere für Dienststellen an mit einem Aufgabenbereich, der spezielle seelische Eigensicherung erfordert, z. B. Kinderpornografie- oder Todesermittler*innen. Darüber hinaus kann Supervision natürlich auch von allen angefragt werden, die für sich oder eine Gruppe eine Situation, einen Sachverhalt klären wollen. Mitunter sind die Grenzen zwischen den einzelnen Gesprächsformaten auch schwimmend. Eine Kooperation besteht z. T. mit den Sozialen Ansprechpartner*innen SAP der Polizei, insbesondere aber mit dem PSU-Team der Polizei NRW im Bereich der Betreuung nach belastenden Einsätzen (PDV 100 LT –D-).

Interessant ist, inwieweit gesellschaftliche Entwicklungen seelsorgliche (und z. T. auch berufsethische) Inhalte verändern. Immer noch genießt die Polizei ein hohes Vertrauen in der Bevölkerung. Allerdings wird der Ton tendenziell ruppiger gegenüber Einsatzkräften. Die (eigentlich gute) Erziehung zum Selbstbewusstsein gegenüber staatlichen Organen und das Wissen um seine Rechte im Bildungsbürgertum seit den 70er Jahren ist inzwischen – inhaltlich völlig entstellt – in Kreisen mit geringer Bildung bzw. mit medialem Halbwissen angekommen. Das Hinterfragen von Autoritäten hat sich verselbstständigt in einen sofortigen Widerstand gegen grundsätzlich alle Formen des Einschreitens oder überhaupt erst der Präsenz von Polizeibeamt*innen, ohne Einsicht in rechtliche Positionen und Notwendigkeiten. Zusätzlich findet eine gesellschaftliche Abwendung von eigener Verantwortlichkeit gegenüber dem Funktionieren des Gesellschaftsgefüges statt (z.B. fehlende Zivilcourage, Egoismus, alles an „den Staat“ abschieben – bei gleichzeitigem Widerstand gegen seine Organe, wenn es staatliche Entscheidungen gibt). Und schließlich gibt es – regional sehr unterschiedlich – in einigen Sozialgefügen mit Migrationshintergrund eine Inkompatibilität mit unserem Rechtsdenken und unserer Rechtskultur, die sich u.a. auch in Widerständen gegen polizeiliches Einschreiten äußert. Für seelsorgliche Gespräche ergeben sich daraus unterschiedliche Fragestellungen: Wie gehe ich als Polizeibeamt*in mit Frustration um, wenn eine freundliche Ansprache des Bürgers durch Polizeibeamt*innen sofort ruppig entgegnet wird? Wie gehe ich als Polizeibeamt*in mit Frustration um durch Rechtsprechung (als milde empfundene Urteile, gerade gegenüber Menschen, die Einsatzkräfte tätlich angreifen – obwohl sich das zum Glück gerade langsam ändert!)?

Innerer Konfliktstoff ist auch bei folgenden Fragen gegeben: Wie gehe ich als Polizeibeamt*in mit politischen Entscheidungen um, die ich durchsetzen muss, die gesellschaftlich, politisch und rechtlich umstritten sind, die belasten und an den polizeilichen Ressourcen zehren (z. B. „Hambacher Forst“)? Wie gehe ich als Polizeibeamt*in mit Vorurteilen um gegenüber der Polizei, z. B. mit dem Generalverdacht (gerade aus politisch sehr weit links stehenden Lagern) einer generell exzessiv gewalttätigen, faschistoiden Polizei? Wie gehe ich als Polizeibeamt*in mit meinen eigenen Gefühlen um, wenn ich wider meiner eigenen freiheitlich-grundrechtliche Einstellung rechtsextreme Demonstrationen mit undemokratischen Sprüchen schützen muss? Oder wenn ich umgekehrt bei Demonstrationen mit politischen Themen, die meinem eigenen politischen Verständnis entsprechen, Maßnahmen gegenüber Gleichgesinnten durchsetzen muss? Durch eine zunehmende, nicht mehr differenzierende Spaltung unserer Gesellschaft in grundsätzlich „rechts“ oder „links“, in grundsätzlich „ausländerfeindlich“ oder „ausländerfreundlich“ erlebe ich viele Beamt*innen auf der verzweifelten Suche nach Sprachmöglichkeiten, um die realen Erfahrungen mit verhaltensauffälligen Migrant*innen zu kommunizieren, ohne direkt in die rechte Ecke gestellt zu werden. Hier spielt auch der Umgang mit ignorantem Verhalten von Männern aus einem streng patriarchalischen Kultursystem gegenüber Polizeibeamtinnen eine Rolle. Wie kommuniziere ich das, ohne „ausländerfeindlich“ zu sein? Wie sehr komme ich kulturellen Eigenheiten entgegen und stelle eine Maßnahme ggf. um?

Die Frage des legalen und legitimen konsequenten Durchführens einer polizeilichen Maßnahme mit Eskalationspotenzial kommt damit ins Gespräch: Wie weit durfte ich gehen, wie weit musste ich gehen, wann hätte ich eine Maßnahme abbrechen müssen zum eigenen Schutz? Habe ich eine Maßnahme unberechtigt abgebrochen, weil die Erfahrung fehlt? Wann war unmittelbarer Zwang angezeigt, wann war eine Maßnahme überzogen? Wie sieht die Rückendeckung durch die Behörde aus, durch die Justiz, die Politik, der Gesellschaft, die Medien? Wie „robust“ muss eine Polizei sein, und was heißt das in der Praxis?

Letztendlich geht es auch bei all diesen verschwiegenen Gesprächen um Stärkung der seelischen Eigensicherung, denn innere Konflikte können das „seelische Schutzschild“ schwächen.

2. Berufsethik

Die zweite Säule der Polizeiseelsorge ist die Berufsethik für Polizeibeamt*innen. So ist Polizeiseelsorge präsent an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW, Fachbereich Polizeivollzugsdienst, mit unterschiedlichen Formaten. In den Vorlesungen im Grundstudium geht es um grundlegende Werte unserer Gesellschaft und unseres Rechtssystems, die sich gründen auf Artikel 1 GG, und deren Reflexion auf dem Hintergrund der jeweils eigenen, persönlichen Wertesysteme. Was ändert sich dort, wenn ich Polizist*in bin? Wie und auf welcher Grundlage entscheide ich später im Rahmen der Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit? Wie sieht es aus mit dem Verhältnis von Legalität (Recht) und Legitimität (Ethik)? Im Hauptstudium geht es dann um die menschlich existenziellen Fragen wie Tod und Sterben, Angst, Amok- und Terrorlagen und deren ethischer Reflexion im Wissen darum, dass es Lagen geben kann, die sich nie kohärent klären lassen, weder ethisch noch rechtlich. Die Seminare beschäftigen sich mit der Vertiefung der unterschiedlichen ethischen Themen. Im Training soziale Kompetenz (TSK) trainieren die Anwärter*innen in der Regel unterschiedlich komplexe Situationen im Umgang mit dem Bürger und der Bürgerin, z. B. die Überbringung einer Todesnachricht.

Polizeiseelsorge wirkt mit bei der Berufsrollenreflexion (BRR) als Nacharbeit zu den Praktika in vier Teilmodulen. Dort werden in Kleingruppen mit Hilfe strukturierter Gesprächsmodelle die Erfahrungen der Praktika in den verschiedenen Dienststellen reflektiert unter der Perspektive: Welche Polizist*innen-Persönlichkeit möchte ich für mich später entwickeln? Wie gehe ich mit Belastungen um? Wie können wir uns mit Hilfe der kollegialen Fallberatung selber helfen? Gerade der letzte Punkt gewinnt zunehmend an Bedeutung in einer Polizei, die sich gerade rasant verjüngt – mit allem Erfahrungsabbruch! In vielen, jungen Dienstgruppen sind die Kolleg*innen vor die Aufgabe gestellt, Polizei neu zu „erfinden“. Die alten „Bärenführer“ gibt es nicht mehr, die Tutor*innen haben z. T. selber erst wenige Dienstjahre Erfahrung. Der kollegiale Austausch von eigenen Erfahrungen kann wertvolle Hilfestellung leisten, sie gemeinsam mit anderen zu reflektieren, um sicherer zu werden im polizeilichen Handeln. Einen weiteren wichtigen Aspekt gibt es im zweiten Teilmodul nach dem ersten Praktikum. Viele Anwärter*innen sind behütet aufgewachsen, wechseln nach dem (Fach-)Abi direkt ein Jahr lang auf die „Schulbank“ der Fachhochschule, unterbrochen von den Praxisanteilen in den Ausbildungsstätten des LAFP. Dort lernen sie – und das ist ja auch richtig so – die „reine Lehre“. Sie gehen dann hochmotiviert in das erste Praktikum und sind dann konfrontiert mit dem Polizeialltag, der sich nicht immer nach der „reinen Lehre“ richtet, mit den unterschiedlichsten Kolleg*innen, mit dem real existierenden polizeilichen Gegenüber, mit Leichen, mit dem Vollzug von Zwangsmaßnahmen und Gewalterfahrung. Gerade das Thema „Gewalt“ (s.u.) hat in der Berufsrollenreflexion nach dem ersten Praktikum einen hohen Stellenwert. Die Berufsrollenreflexion kann hier helfen, das Erlebte einzuordnen in den Gesamtzusammenhang des Systems „Polizei“ und in die eigene Persönlichkeitsfindung. Wie will ich später als Polizist*in sein? Was konnte ich mir von den „fertigen“ Kolleg*innen aneignen, wie möchte ich später nicht agieren? Gerade hier, aber auch in den anderen berufsethischen Formaten, kommt den Polizeiseelsorger*innen ihre Feldkompetenz zugute, die sie sich in zahlreichen Gesprächen und Einsatzbegleitungen (s.o.) aneignen, ohne selber Polizist*innen sein zu müssen. Es ist für mich ungeheuer spannend mit Menschen zu arbeiten, die als Vertreter des staatlichen Gewaltmonopols den Bürger*innen gegenübertreten und die legale und legitime Macht haben, Grundrechte der Bürger*innen erheblich einzuschränken.

Berufsethische Räume in Standorten des LAFP, z. B. der „Grenzgang“ mit dem neu angegliederten „Kraftraum“ in Selm-Bork, beschäftigen sich multimedial mit berufsethischen Inhalten. Verantwortlich dafür zeichnet das ZeBuS, das „Zentrum für ethische Bildung und Seelsorge“ im LAFP, in dem evangelische und katholische Polizeiseelsorger*innen, Berufsethiker*innen und Polizeibeamt*innen zusammenarbeiten.

Berufsethik findet auch statt in ganz individuellen Formaten, Zeitrastern und Themen z. B. in Dienstgruppen, Dienststellen, als Führungsfortbildung, als Entlastungstag und als Seminar an verschiedenen Lernorten (Behörden, Tagungshäuser). Was an Themen genau benötigt wird, kann im Vorgespräch ganz individuell geklärt und auf die Zielgruppe zugeschnitten werden. Ausrichter berufsethischer Fortbildungen können sowohl Behörden und Institutionen als auch die Kirchen sein. Viele Veranstaltungen finden inzwischen in ökumenischer Kooperation statt.

Das Thema „Gewalt“ bedarf in Zusammenhang mit Seelsorge und Berufsethik und einer „jungen Polizei“ noch einer genaueren Betrachtung. Wir leben zurzeit in einer spannenden Zeit des Generationenumbruchs in der Polizei. Am Start stehen junge, hochmotivierte Menschen, die i.d.R. gewaltfern erzogen wurden und für die Gewaltverzicht ein hoher internalisierter Wert ist. Die Heranführung an legales und legitimes Einschreiten und Anwendung unmittelbaren Zwanges zum Schutz der Gesellschaft berührt viele Facetten, die sich auch in der seelsorglichen Begleitung abbilden. Da geht es um das Aushalten des grundsätzlichen existenziellen ethischen Dilemmas polizeilicher Arbeit: Polizist*innen müssen im Grunde genommen Übles tun, um Übles zu verhindern; sie müssen Zwang anwenden, um Gewalt zu verhindern; im schlimmsten Falle müssen sie töten, um Leben zu schützen. Das ist ein inneres Paradoxon, das nicht spurlos an einem Menschen vorbeigehen kann. Denn die Polizist*innen müssen – legal und legitim – gegen den eigenen Wertecodex  verstoßen, um den gesamtgesellschaftlichen Wertecodex zu schützen.

Daneben steht der Umgang mit körperlicher Gewalt. Wer nie körperliche Gewalt erfahren hat und nicht gerade eine kampfbetonte Sportart (Handball, Football, Kampfsport, Eishockey usw.) ausübt, lernt erst in den Praktika und in den ersten Dienstjahren kennen, wie sich – z. B. bei Widerständen – Schmerz anfühlt, und wie der*die Anwärter*in ihn für sich bewertet, weil es noch keine innere Schmerzskala gibt (nur „aua“ oder lebensbedrohlich?). Andersherum fehlt die Einschätzung der eigenen körperlichen Kräfte: Wie weit kann ich einen Hebel „durchziehen“, ohne dass die Schulter des polizeilichen Gegenübers geschädigt wird? Die Ausbildung in Eingriffstechniken kann nur punktuell die „Wirklichkeit der Straße“ abbilden, weil man dem*der Kolleg*in beim Üben auf der Matte nicht wirklich weh tut. In der Konsequenz heißt das, dass erste Einsätze mit Gewalterfahrung und Zwangsanwendung irritierend sein können. Folgen können u. U. sein, dass entweder auf konsequentes Einschreiten verzichtet wird (wo erfahrene Beamt*innen eine Maßnahme konsequent vollzogen hätten) oder durch den plötzlichen extrem hohen Stresslevel überreagiert wird (wo erfahrene Beamt*innen die Verhältnismäßigkeit im Blick hätten). Daneben steht die Erfahrung von Anfeindung, von verbaler und psychischer Gewalt in eigentlich harmlosen und nach weitgehender gesellschaftlicher Übereinkunft berechtigten Einsatzanlässen (wie es z. B. auch Rettungskräfte erleben). Hier gibt es Beratungs- und Gesprächsbedarf sowohl für die jungen Beamt*innen nach Gewalteinsätzen (bzw. auch bei Einsätzen, die konsequentes Durchgreifen erfordert hätten, dies aber nicht geschah), als auch für die Führungskräfte der mittleren Ebene (Dienstgruppenleiter, Wachdienstführer), die in punkto offener Kommunikation und effektiver Fehlerkultur nochmal neu in der Verantwortung stehen. Neue Polizist*innen benötigen neue Führungsstile.

Bei erfahrenen Beamt*innen kommen Gewaltsituationen dann ins Gespräch, wenn sie extrem lebensbedrohlich waren (z. B. Schusswaffengebrauch) bzw. zu schweren Verletzungen geführt haben. Ein besonderes Thema ist die Unterstützung bei Abschiebungen von Familien, die bereits im Integrations- und Arbeitsprozess waren und – weil sie einen festen Wohnsitz haben – eher abgeschoben werden können als Asylsuchende, die bewusst ihren Aufenthaltsort verschleiern.

Der*die Polizeiseelsorger*in ist aber auch eigenen spezifischen Belastungen ausgesetzt. So kann es durchaus zwischen dem Berufsethiker und dem Polizeiseelsorger in mir zu inneren Rollenkonflikten kommen. Seelsorge ist für mich die Einladung in einen (Gesprächs-) Raum jenseits von gut und böse, von richtig und falsch (frei nach Rumi). Etwas zu verstehen heißt noch lange nicht, es gutzuheißen. In der Ethik dagegen geht es darum, gerade diese Trennlinien von gut und böse, richtig und falsch herauszuarbeiten. Wie verhalte ich mich nun in einer Einsatzbegleitung, wenn ich erlebe, dass sich ein Polizeibeamter dem Bürger gegenüber völlig „unethisch“ verhält? Den Besserwisser spielen? Das wäre dank dem polizeilichen „Flurfunk“ schnell in der Behörde herum, und ich kann gucken, welcher Streifenwagen mich noch mitnimmt. Und vielleicht verstehe ich ja auch aus den vorhergehenden Einsätzen oder seiner persönlichen Situation, warum der Beamte so handelt. Wie gesagt, ohne es gutzuheißen! Ein ziemlicher Balanceakt, der mit zunehmender Erfahrung eine gut zu bewältigende Aufgabe ist, aber auch immer wieder Thema wird in unserer eigenen Team-Supervision.

In der Einsatzbegleitung, in Gesprächen sind wir immer wieder konfrontiert mit Gewalt in allen Formen, mit Leid, Sterben und Tod. Nach zehn Jahren als Notfallseelsorger und weiteren zehn Jahren als Polizeiseelsorger merke ich, dass ich beim Anhören der vielfältigen Belastungen und Einsätze dünnhäutiger werde. Dazu gehört durchaus auch hilflos mitzuerleben, wie Polizeibeamt*innen und Regierungsbeschäftigte durch das aktuell immer stärkere Wegbrechen von Personal und den steigenden Vorgangsdruck weit über ihre Belastungsgrenzen gehen, um ihrer Aufgabe der Gesellschaft zuliebe zu genügen. Und daran leiden und krank werden. Das System Polizei als politisch gesteuertes System führt an einigen Stellen zu systemgenerierten Reibungsverlusten (z. B. jahrelang absehbarer Personalmangel, politisch motivierte Einsatzvorgaben und Projekte, Beurteilungsverfahren, Beförderungskriterien und –verfahren). Dazu gehört auch das Dilemma einer effektiven Fehlerkultur, weil Polizei als zentrale politische und gesellschaftliche Sicherheitsorganisation keine Fehler machen darf. Aber Menschen machen nun mal Fehler … Manchmal ist es schwierig auszuhalten, wie Menschen durch strukturelle Sachzwänge belastet oder gar gekränkt werden (in jedweder Bedeutung dieses Wortes).

Hier kann man nur hoffen, dass die positiven Ansätze (deutliche gestiegene Wertschätzung für die notwendige Betreuung und Beratung von Polizeibeamt*innen, klare Einsicht in die Notwendigkeit „ethischer Führung“) auch in der Praxis der Polizeiarbeit Auswirkung zeigen.

3. Spiritualität

Sie ist als dritte Säule das zusätzliche „Plus“ unserer Arbeit, weil Polizeiseelsorge kirchlich angebunden ist. Religion ist für viele Menschen eine Stärkung ihrer Seele und eine Möglichkeit der Entlastung und Erdung. Auf Wunsch gestaltet die Polizeiseelsorge Wallfahrten (z. B. mit Fahrrad oder Motorrad), Andachten und gottesdienstliche Feiern, z. B. in einigen Behörden das jährliche Gedenken an die Verstorbenen, kurze Besinnungszeiten zu Advent und Fastenzeit. Anlässlich der Graduierung der neuen Kommissaranwärter*innen wird zu einem ökumenischen Gottesdienst im Vorfeld der Graduierungsfeier eingeladen. Meditations- und Stilleseminare an dafür geeigneten Lokalitäten (z. B. Klöster, Häuser der Stille) dienen dem „Atemholen für die Seele“. Einige Präsidien haben mit Unterstützung der STIFTUNG POLIZEISEELSORGE „Räume der Stille“ eingerichtet, sehr individuell gestaltet, die dazu einladen, sich abseits von Tastaturgeklapper und Stimmengewirr einen Augenblick zurückzuziehen und die Seele atmen zu lassen. Und last but not least: Das Durchführen von Taufen, Trauungen, Beerdigungen und sakramentalen Handlungen steht natürlich auch im polizeiseelsorglichen Portfolio.

4. Friedensstiftende Maßnahmen

Die vierte und letzte Säule der Arbeit der Polizeiseelsorge. Die Polizeiseelsorge engagiert sich in gesellschaftlichen und politischen Konfliktthemen, um Verständnis füreinander zu wecken durch Information und Diskurs, z. B. in der Beschäftigung mit der politischen bzw. gesellschaftlichen und polizeilichen Seite der Flüchtlingsproblematik, in der Auseinandersetzung mit Polizeigewalt und Gewalt gegen Polizei. So fand mit einem erheblichen Organisationsaufwand vor vier Jahren in Wuppertal unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein gemeinsamer Tag von Demonstrant*innen aus dem Hambacher Forst  und Polizeibeamt*innen aus einer Hundertschaft statt. In moderierten Gesprächsrunden wurden einander die jeweils eigenen Gefühle, Motivationen und Gedanken beschrieben, die in den Konfrontationssituationen wahrgenommen wurden. Beide Seiten verstanden sich besser, und trotz des beidseitigen Wunsches einer Fortsetzung dieser Begegnung ist es nicht mehr dazu gekommen. Die Hambacher Demonstranten waren nach der Tagung nicht mehr bereit zu einem weiteren Treffen. Waren sie ihrem „Gegner“ zu nahe gekommen? Abschließend zu nennen ist für die vierte Säule die Unterstützung des polizeilichen Opferschutzes in vielfältiger Weise.

Im Fazit ist die Arbeit in der Polizeiseelsorge überaus vielfältig und facettenreich, findet oft im Verborgenen statt und erfüllt voll und ganz den Werbespruch der Polizei: „Kein Tag wie der andere!“ Sie ist verschwiegen, sollte aber nicht verschwiegen werden.