Verurteilung wegen Mordversuch nach VU-Flucht
Urteil LG Stuttgart v. 19.07.2018, Az.: 1 Ks 67 Js 123052/17
Von PD Michael Wernthaler, Polizeipräsidium Ludwigsburg
1. Vorwort
Nachdem im „Berliner-Raser-Unfall“ das Urteil wegen Mord in der Revisionsverhandlung durch den Bundesgerichtshof aufgehoben wurde, stellt sich die Frage, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit es zu einer Verurteilung kommt.
Der vorliegende Fall widmet sich intensiv dieser Frage im Zusammenhang mit einer Verkehrsunfallflucht, bei der ein angefahrener und schwerverletzter Fußgänger vom Verursacher an der Unfallstelle zurückgelassen wurde.
2. Sachverhalt
An einem Abend gegen 18:30 Uhr im Dezember 2017, fuhr der Angeklagte als Lenker des ihm überlassenen Lkw, „Sprinter“, Renault Master innerhalb einer geschlossenen Ortschaft ortsauswärts. Die Straße verlief gerade, die asphaltierte Fahrbahn war trocken, es herrschte Dunkelheit und am Straßenrand waren in regelmäßigen Abständen Laternen in Betrieb. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt an der Unfallstelle 30 km/h. Ca. 60 m vor der späteren Kollisionsstelle befindet sich eine Fußgängerfurt mit Lichtzeichenanlage. Die Kollisionsstelle befindet sich in Höhe einer rechterhand befindlichen Bushaltestelle. Vor und hinter der Bushaltestelle befinden sich Parkstreifen.
Die Unfallstrecke befindet sich auf dem Nachhauseweg des Angeklagten, den dieser regelmäßig benutzt, weshalb ihm die Unfallstelle sehr gut bekannt ist.
Im fließenden Verkehr fuhr der Angeklagte hinter einem Pkw, mehrere Pkws kamen ihm entgegen, darunter auch die beiden Unfallzeugen. Der Angeklagte hatte zum Unfallzeitpunkt erheblich Alkohol getrunken, obwohl er wusste, dass er aufgrund der von ihm eingenommenen Psychopharmaka keinen Alkohol trinken durfte. Der Angeklagte fuhr nicht mit der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h, sondern gemäß Sachverständigengutachten mit einer überhöhten Geschwindigkeit von 40 – 50 km/h.
Der geschädigte Fußgänger wollte in Fahrtrichtung des Angeklagten gesehen die Fahrbahn von rechts nach links überqueren. Als er von rechts hinter der Bushaltestelle und vor zwei auf dem beginnenden Parkstreifen geparkten Fahrzeugen die Fahrbahn betrat, bemerkte der Angeklagte den Fußgänger. Der vor ihm fahrende Pkw konnte noch ausweichen, er selbst erfasste den Fußgänger, der bereits etwa die Hälfte der Fahrbahn überschritten hatte mit der linken Front seines Sprinters an der linken Körperseite. Der Fußgänger wurde nach links abgewiesen und kam vor dem entgegenkommenden Fahrzeug zum Liegen.
Der Angeklagte lenkte nach der Kollision sein Fahrzeug nach rechts, wobei er mit dem am rechten Fahrbahnrand geparkten Pkw kollidierte und einen Fremdschaden von ca. 5.000 € verursachte.
Der dem Angeklagten überlassene Transporter wurde ebenfalls erheblich beschädigt, so wurde der linke Abblendlichtlichtscheinwerfer zertrümmert und der linke Kotflügel erheblich deformiert.
Nach Feststellungen des Sachverständigen hätte bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit der Angeklagte rechtzeitig bremsen und beide Kollisionen vermeiden können. Für den Fußgänger war die Kollision, nachdem er die Fahrbahn betreten hatte, unvermeidbar.
Aufgrund der Schwere der Verletzungen und eines Lungenkollapses bestand für den Fußgänger akute Lebensgefahr. Ohne sofortige medizinische Versorgung wäre er innerhalb von höchstens 15 Minuten verstorben. Lediglich aufgrund des Einschreitens der von den Zeugen verständigten Rettungssanitäter und Notarztes konnte der Fußgänger umgehend notoperiert und sein Leben gerettet werden.
Der Angeklagte setzte ohne Anzuhalten seine Fahrt fort, bog nach ca. 200 m nach links auf einen Supermarkt-Parkplatz ab und stellte das ihm überlassene unfallbeschädigte Fahrzeug ab. Anschließend begab er sich nach Hause, wo er auf Wunsch seines Sohnes diesen mit dem Fahrzeug seiner Frau zum Sport fuhr. Bei seiner Rückkehr konnte er von der Polizei festgenommen werden.
Die durchgeführte Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 2,02 bis maximal 2,41 Promille zum Unfallzeitpunkt und die Einnahme von Antidepressiva und Beruhigungsmitteln.
3. Entscheidung und Begründung des LG Stuttgart
Nach Auffassung des Gerichts hatte der Angeklagte nicht nur bemerkt, dass er mit einem Pkw kollidiert war, sondern auch, dass er einen Fußgänger erfasst hatte. Ihm war klar, dass er infolge seiner Alkoholbeeinflussung in Kombination mit den eingenommenen Medikamenten unaufmerksam gewesen war und der damit einhergehenden Geschwindigkeitsüberschreitung einen schweren Unfall verursacht hatte. Er rechnete jedenfalls mit der Möglichkeit, dass der Fußgänger durch den Unfall schwerste Verletzungen erlitten hatte, sich nicht mehr aus eigener Kraft von der Unfallstelle wegbewegen, sondern versterben könnte und eine Rettung seines Lebens nur durch sofortiges Herbeirufen ärztlicher Hilfe möglich war.
Entgegen der ihm bekannten Verpflichtung anzuhalten und Hilfe zu leisten, sah der Angeklagte davon ab, einen Notruf zu tätigen oder selbst dem Verletzten zu helfen. Dabei kam es dem Angeklagten darauf an, sich den Feststellungen zu entziehen und zu vermeiden, dass seine Fahrt unter Alkoholbeeinflussung entdeckt wird. Insbesondere auch da er wusste, dass sich seine Ehefrau nach dieser erneuten Verfehlung von ihm trennen würde, wollte er unentdeckt bleiben und die drohende Trennung damit verhindern. Hierfür nahm er billigend in Kauf, dass der Fußgänger am Unfallort versterben würde.
Bei dem Gedanken, gerade einen schweren Verkehrsunfall verursacht zu haben, bei dem möglicherweise ein Mensch sein Leben verlieren könnte, erfasste den Angeklagten eine gewisse Panik, die aber seine Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht beeinträchtigte. Vielmehr waren diese bei allen Tathandlungen weder erheblich vermindert noch aufgehoben.
Des Weiteren ist die Strafkammer zu der Überzeugung gelangt, dass der Angeklagte, als er sich vom Unfallort entfernte, billigend in Kauf nahm, dass der Nebenkläger schwer verletzt und infolge seiner Verletzungen versterben könnte und er folglich mit bedingtem Tötungsvorsatz handelte. Ihm war klar, dass ein Fußgänger, der mit einer wie von ihm gefahrenen Geschwindigkeit angefahren wird, schwerste Verletzung erleiden kann. Hinzu kommt, dass durch die Kollision des Transporters mit dem geparkten Pkw weitere erhebliche Beschädigungen entstanden. Es widerspricht daher jeglicher Lebenserfahrung zu hoffen, dass bei einer derartigen heftigen Kollision nicht lebensbedrohliche Verletzungen eintreten, ohne dass der Angeklagte sich von dem Zustand des Verletzten ein Bild gemacht hätte.
Der Angeklagte hatte aufgrund des von ihm verschuldeten Unfalls gegenüber dem schwerverletzten Unfallopfer eine Garantenstellung aus Ingerenz Die Strafkammer kam deshalb im Ergebnis zu der Überzeugung, dass der Angeklagte, als er sich vom Unfallort entfernte, billigend in Kauf nahm, dass der Nebenkläger schwer verletzt sei und infolge seiner Verletzungen versterben könnte und er folglich mit bedingtem Tötungsvorsatz handelte.
Die Strafkammer schenkte den Einlassungen des Angeklagten, er habe gehofft, dass die an der Bushaltestelle befindlichen Menschen dem Geschädigten zu Hilfe kommen, keinen Glauben, sondern gelangte zu der Auffassung, dass der Angeklagte im entscheidenden Moment des Wegfahrens hieran überhaupt nicht gedacht habe, sondern sich von völlig anderen Motiven leiten ließ. So hatte er sich selbst dahingehend eingelassen, dass er wegen der vorangegangenen Trunkenheitsfahrt in Angst geraten sei und gewusst habe, dass er eine Strafe zu erwarten habe. Genau das war seine Motivation, sich vom Unfallort zu entfernen, zumal ihm klar war, dass ihn seine Ehefrau nun endgültig verlassen würde.
Nach Überzeugung der Strafkammer war die Einsichts- und Steuerfähigkeit des Angeklagten durch den Alkohol- und Medikamentengenuss weder aufgehoben noch vermindert. Er ließ keinerlei Ausfallerscheinungen erkennen und war zu vollumfänglich zielgerichtetem Handeln in der Lage. Daraus schließt die Strafkammer, dass er nicht daran gehindert war, die auf der Hand liegenden möglichen Konsequenzen seines Handelns zu erkennen.
Der Angeklagte wurde deshalb für den Vorwurf des versuchten Mordes in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort und vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr sowie für den Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung in Tateinheit mit fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier (4!) Jahren verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig.