Aktuelle Entwicklungen im Straf- und Strafprozessrecht (Januar bis Juli 2020)

von Prof. Dr. Anja Schiemann, Münster

Immer wieder sieht sich der Gesetzgeber veranlasst, Änderungen, Modifizierungen und Erweiterungen im materiellen und prozessualen Strafrecht vorzunehmen. Die wichtigsten 3 Neuerungen im Zeitraum von Januar bis Juli 2020 werden im Beitrag vorgestellt.

1. Versuchsstrafbarkeit des Cybergroomings

Am 13. März 2020 trat das Siebenundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Versuchsstrafbarkeit des Cybergroomings in Kraft (BGBl. I 2020, S. 431 f.). Unter Cybergrooming versteht man das gezielte Ansprechen von Kindern im Internet mit dem Ziel, sexuelle Kontakte anzubahnen. Cybergrooming war bereits vor der Gesetzesnovellierung nach § 176 Abs. 4 Nr. 3 StGB strafbar. Nicht strafbar aber war trotz Erfassung sehr früher Vorbereitungshandlungen die Versuchsstrafbarkeit. Daher sah man auf Seiten des Gesetzgebers Handlungsbedarf, wenn der Täter lediglich glaubt, auf ein Kind einzuwirken, in Wirklichkeit aber mit einer erwachsenen Person kommuniziert.

Der Vorschlag der Bundesregierung ging in der Beratungsphase des Bundesrates dem Innenausschuss nicht weit genug. Hier wurde die Auffassung vertreten, dass eine Versuchsstrafbarkeit generell vom Tatbestand erfasst sein sollte und nicht nur für den Fall, dass der Täter irrig davon ausgeht, er wirke auf ein Kind ein. Der Rechtsausschuss wollte zudem im Sinne einer effektiveren Strafverfolgung Verdeckten Ermittlern die Möglichkeit einräumen, sog. Keuschheitsproben abgeben zu können, die sich auf rein fiktionale Darstellungen von Kinderpornografie beschränken. Insofern wurde der Gesetzentwurf um einen Passus in § 184b Abs. 5 StGB ergänzt (BT-Drs. 19/16543).

Geltendes Recht ist nunmehr zum einen die (begrenzte) Versuchsstrafbarkeit durch die Einfügung von § 176 Abs. 6 StGB:

 Der Versuch ist strafbar; dies gilt nicht für Taten nach Absatz 4 Nummer 4 und Absatz 5. Bei Taten nach Absatz 4 Nummer 3 ist der Versuch nur in den Fällen strafbar, in denen eine Vollendung der Tat allein daran scheitert, dass der Täter irrig annimmt, auf ein Kind einzuwirken.

Daneben findet sich in § 184b Abs. 5 StGB folgende Neuregelung:

Absatz 1 Nummer 1 und 4 gilt nicht für dienstliche Handlungen im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, wenn

  1. Die Handlung sich auf eine kinderpornographische Schrift bezieht, die kein tatsächliches Geschehen wiedergibt und auch nicht unter Verwendung einer Bildaufnahme eines Kindes oder Jugendlichen hergestellt worden ist, und

  2. Die Aufklärung des Sachverhalts auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht betonte zu den erweiterten Ermittlungsbefugnissen, dass Ermittler keine echten Aufnahmen, sondern lediglich computergenerierte Bilder verwenden dürften. Dennoch sei es wichtig, den Ermittlern alle rechtsstaatlich zulässigen Instrumente an die Hand zu geben, um Täter, Hintermänner und Portalbetreiber strafrechtlich effektiv verfolgen zu können. Um Zugang zu den Portalen zu bekommen, sei es häufig unerlässlich, dass die Ermittler selbst Bilder und Videos hochladen.

2. Strafrechtlicher Schutz bei Verunglimpfung der Europäischen Union und ihrer Symbole

Am 24. Juni 2020 trat das Achtundfünfzigste Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafrechtlicher Schutz bei Verunglimpfung der Europäischen Union und ihrer Symbole in Kraft (BGBl. I 2020, 1247). Vorausgegangen war der Gesetzesnovellierung ein Antrag des Freistaats Sachsen (BR-Drs. 284/19), der in den Bundesrat aufgrund des Handlungsbedarfs mit Blick auf die besondere Bedeutung der Europäischen Union eingebracht wurde. Hintergrund waren die Geschehnisse anlässlich der Europa-Wahlen im Mai 2019, die zu rechten Aufmärschen und dem Zerstören und Verunglimpfen der EU-Flaggen führten. Symbole und Flaggen der Europäischen Union waren weder von § 104 noch von § 90a StGB erfasst, so dass die Taten nicht strafbar waren. Daher schlug Sachsen die Einführung eines § 90c StGB vor, der die Verunglimpfung der Flagge und Hymne der Europäischen Union unter Strafe stellt und sich am Strafrahmen des § 90a StGB orientiert. Der Gesetzentwurf wurde schließlich im Bundestag in der Fassung des Rechtsausschusses (BT-Dr. 19/19201) angenommen und abschließend vom Bundesrat gebilligt.

Daher begründet seit dem 24. Juni 2020 § 90c StGB eine Strafbarkeit wegen Verunglimpfung von Symbolen der Europäischen Union:

(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Absatz 3) die Flagge oder die Hymne der Europäischen Union verunglimpft, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer eine öffentlich gezeigte Flagge der Europäischen Union entfernt, zerstört, beschädigt, unbrauchbar oder unkenntlich macht oder beschimpfenden Unfug daran verübt. Der Versuch ist strafbar.

3. Europäische-Staatsanwaltschaft-Gesetz (EuStAG)

Bereits Ende 2017 ist die Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12.10.2017 zur Durchführung einer verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EUStA) in Kraft getreten (ABl. EU L 283/1). Während die Zuständigkeit in Bezug auf alle in die Zuständigkeit der EUStA fallenden Straftaten bereits ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens ausgeübt werden kann, musste doch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die organisatorischen Strukturen einer EuStA erst umgesetzt werden müssen. Daher legt Art. 120 der Verordnung fest, dass die EUStA die ihr durch die Verordnung übertragenen Ermittlungs- und Strafverfolgungsaufgaben zu einem Zeitpunkt übernimmt, der durch einen Beschluss der Kommission auf Vorschlag des Europäischen Generalstaatsanwalts nach Errichtung der EUStA festzulegen ist und der wiederum im Amtsblatt der Europäischen Union veröffent­licht werden muss.

Neben der organisatorischen Umsetzung auf EU-Ebene ist darüber hinaus jedes EU-Land, das sich zur verstärkten Zusammenarbeit bereiterklärt hat, verpflichtet, die Durchführung der Verordnung auch in dem eigenen strafprozessualen Alltag zu gewährleisten. Diesem Umstand trägt das Gesetz zur Durchführung der Verordnung (EU) 2017/1939 des Rates vom 12. Oktober 2017 zur Durchführung einer Verstärkten Zusammenarbeit zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft und zur Änderung weiterer Vorschriften Rechnung, das am 17. Juli 2020 in Kraft getreten ist (BGBl I 2020, S. 1648 ff.).

Herzstück des Gesetzes ist das Europäische-Staatsanwaltschaft-Gesetz, ein eigenständiges Stammgesetz mit diversen Regelungen zur Anwendbarkeit von Vorschriften und der Festlegung von Mitteilungspflichten. Darüber hinaus werden mit dem Gesetz zur Durchführung der EU-Verordnung marginale Anpassungen in der StPO, dem StGB, dem Bundeszentralregistergesetz und dem Bundesstatistikgesetz vorgenommen.

Der Anwendungsbereich des Stammgesetzes wird eingangs in § 1 EUStAG definiert. Nach Abs. 2 gilt das Gesetz für Strafverfahren, in welchen das Amt der Staatsanwaltschaft gem. § 142b Abs. 1 GVG von den deutschen Delegierten Europäischen Staatsanwälten oder dem deutschen Europäischen Staatsanwalt ausgeübt wird.

Primär verweist § 3 EuStAG auf die Anwendbarkeit von Vorschriften der Strafprozessordnung über das Ermittlungsverfahren, woraus folgt, dass prinzipiell die nationalen Vorschriften für den Verfahrensgang gelten. Ausnahmen werden explizit normiert, so bspw. §§ 153c, 160 Abs. 1 und § 170 Abs. 2 S. 1 StPO, die nicht anwendbar sind.