Belehrung von Beschuldigten und Zeugen
Carola Oelfke M.A., OStA`in, Dr. Annette Marquardt, EStA`in, Staatsanwaltschaft Verden (Niedersachsen)
I. Einleitung
Keine zweite Vorschrift in der Strafprozessordnung verursacht in der Praxis so viele Schwierigkeiten wie der § 136 StPO. Seit der letzten Reform der Vorschrift im Jahre 2019 hat sich die Verunsicherung unter Polizeibeamt:innen zusätzlich vergrößert. Die Praxis zeigt: Es besteht häufig Unwissenheit darüber, wie sich der Pflichtverteidiger vom Wahlverteidiger unterscheidet, unter welchen Voraussetzungen ein Pflichtverteidiger beigeordnet wird, wer die Voraussetzungen prüft, mithin, wie der Beschuldigte über diese Punkte im Detail zu belehren ist.
Ein Beispiel aus der Hauptverhandlung, das einige der Probleme offenbart:
-Sitzung der Schwurgerichtskammer-
Zunächst wird das verschriftete Notrufprotokoll verlesen. Der Angeklagte hat nach der Tat (versuchter Mord zum Nachteil seiner Mutter durch Schläge mit einem Hammer auf den Kopf) einen Notruf abgesetzt und zu Beginn des Telefonats berichtet, dass er seine Mutter verletzt habe, wohl wegen seiner psychischen Probleme. Der Polizeibeamte hält ca. 15 Minuten das Gespräch, bis Kollegen vor Ort sind und A festnehmen. Er stellt eine Vielzahl von Fragen zum Tatgeschehen- ohne zu irgendeinem Zeitpunkt zu belehren.
Sodann wird PK X vernommen, der zusammen mit der Kollegen Y A vorläufig festgenommen hat. Die Kollegin habe belehrt. Wie? Ob er das nun alles erzählen solle? X hat Probleme, Details zu benennen. Auf Nachfrage, ob Pflichtverteidiger Thema gewesen sei: Man habe ihm gesagt, dass bei Verbrechen ein Anwalt beigeordnet werde, wenn er sich keinen Anwalt leisten könne. Später hat X den A in der Gewahrsamszelle aufgesucht und sich mit ihm über das Tatgeschehen unterhalten. Welche Verletzungen vorgelegen hätten, habe er nicht gewusst. Er habe nicht gewusst, dass wegen eines versuchten Tötungsdelikts ermittelt werde. Eine Belehrung habe er nicht vorgenommen.
II. Die gesetzliche Regelung
§ 136 StPO Erste Vernehmung
(1) Bei Beginn der ersten Vernehmung ist dem Beschuldigten zu eröffnen, welche Tat ihm zur Last gelegt wird und welche Strafvorschriften in Betracht kommen. Er ist darauf hinzuweisen, dass es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen und jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen. Möchte der Beschuldigte vor seiner Vernehmung einen Verteidiger befragen, sind ihm Informationen zur Verfügung zu stellen, die es ihm erleichtern, einen Verteidiger zu kontaktieren. Auf bestehende anwaltliche Notdienste ist dabei hinzuweisen. Er ist ferner darüber zu belehren, dass er zu seiner Entlastung einzelne Beweiserhebungen beantragen und unter den Voraussetzungen des § 140 die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Maßgabe des § 141 Absatz 1 und des § 142 Absatz 1 beantragen kann; zu Letzterem ist er dabei auf die Kostenfolge des § 465 hinzuweisen. In geeigneten Fällen soll der Beschuldigte auch darauf, dass er sich schriftlich äußern kann, sowie auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs hingewiesen werden.
III. Wann ist ein Beschuldigter zu belehren? Mehrfach? Sonderproblem: „Vorgespräche“
Ein Beschuldigter ist grundsätzlich v o r jeder Vernehmung zu belehren, also dann, wenn ihm ein Polizist/ eine Polizistin in amtlicher Funktion gegenüber tritt mit dem Ziel, Informationen zu erlangen. „Vorgespräche“ als solche gibt es nicht mit der Folge, dass der Beschuldigte stets vor eine etwaigen „Vorgespräch“ vollständig und korrekt zu belehren ist- ohne jedes Wenn und Aber! Erfolgt ein „Vorgespräch“ sollte immer dokumentiert werden
-der Beginn des Gesprächs
-der Inhalt des Gesprächs
-das Ende des Gesprächs
-Namen der Anwesenden.
IV. Worüber ist er im Detail zu belehren?
1. Tatvorwurf
Gleich nach der Feststellung der Identität, noch vor der Belehrung hat die Eröffnung des Tatvorwurfs zu erfolgen. Wann soll der Beschuldigte wo konkret was gemacht/ unterlassen haben mit welchen Folgen? Es gehört zum Gebot des fairen Verfahrens, das dem Beschuldigten der Tatvorwurf so genau erklärt wird, dass er weiß, was ihm vorgeworfen wird.
2. Benennung der Strafvorschriften?
§ 163a StPO nimmt lediglich auf § 136 Absatz 1 Satz 2-6 Bezug, nicht auf Satz 1; der Wortlaut besagt also, dass Polizeibeamte nicht über die Strafvorschriften belehren müssen.
Unseres Erachtens gehört es aber zum Gebot des fairen Verfahrens, den Beschuldigten darüber aufzuklären, wegen was ermittelt wird. So macht es doch einen erheblichen Unterschied aus, ob gegen ihn wegen Totschlags oder Mordes ermittelt wird, bei Letzterem ist eine Strafmilderung aufgrund eines Geständnisses ausgeschlossen oder ob wegen einfachen Diebstahls oder eines Bandendiebstahls ermittelt wird, bei dem im Bereich der Telekommunikation tiefgreifende Grundrechtseingriffe möglich wären, um nur zwei Beispiele zu nennen.
3. Schweigerecht
Das A und O einer korrekten Beschuldigtenbelehrung ist mitzuteilen, dass der Beschuldigte keine Angaben machen muss, er muss sich nicht selber belasten und ein Schweigen darf nicht zu seinem Nachteil gewertet werden.
Demzufolge ist das, was man leider immer wieder in den Akten liest, grob falsch: Als Beschuldigter sind Sie verpflichtet, die Wahrheit zu sagen.
Formulierungsvorschlag:
Sie haben das Recht zu schweigen oder sich gegen den Tatvorwurf zu verteidigen. Wenn sie schweigen, darf das nicht gegen Sie verwendet werden, also nicht zu Ihrem Nachteil ausgelegt werden.
4. Recht auf Konsultation eines Wahlverteidigers
Jeder Beschuldigte hat das Recht, zu jeder Zeit einen Wahlverteidiger, also einen Anwalt, den er sich selber aussucht und auch selber bezahlt, zuzuziehen.
5. Recht, einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers zu stellen
Dieser Punkt ist in der Praxis fehlerträchtig. Vielen Beamt:innen ist unklar, was ein Pflichtverteidiger ist.
Daher zunächst eine Erklärung zum Unterschied Wahlverteidiger/ Pflichtverteidiger:
Der Beschuldigte kann in den Fällen der notwendigen Verteidigung (§ 140 StPO) einen Rechtsanwalt frei wählen (wie Wahlverteidiger), muss den aber zunächst nicht bezahlen, sondern die Kosten übernimmt bis zur rechtskräftigen Verurteilung der Staat.
Dabei gilt der Grundsatz der freien Anwaltswahl. Jeder in Deutschland zugelassene Anwalt kann als Pflichtverteidiger arbeiten. Die finanziellen Verhältnisse des Beschuldigten sind völlig irrelevant.
Das Gesetz spricht ausdrücklich davon, dass der Beschuldigte einen Antrag stellen kann. Die Formulierung „Sie können beanspruchen“, die wir häufig in den Belehrungen finden (und die leider auch immer noch in alten, weiter verwendeten Formularen zu finden sind), trifft deshalb die Gesetzeslage nicht und ist falsch. (dazu im Detail Marquardt/ Oelfke, Basiswissen Strafprozess für Polizeibeamte).
Wichtig ist: Jeder! Beschuldigte ist über das Antragsrecht zu belehren. Die Polizei prüft nicht die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung.
Stellt der Beschuldigte den Antrag ausdrücklich, ist die Vernehmung abzubrechen und der Staatsanwalt zu informieren. Der Beschuldigte ist zu fragen, welcher Anwalt ihm beigeordnet werden soll.
Sodann wird der Staatsanwalt die Akten mit einer Stellungnahme an das Gericht weiterleiten, das die Beiordnung prüft und über den Antrag entscheidet.
Stellt der Beschuldigte keinen Antrag und ist aussagebereit, kann er grundsätzlich (Ausnahmen siehe unten) vernommen werden- auch bei einem Verbrechen!
6. Kostenfolge Pflichtverteidiger
Wird ein Pflichtverteidiger beigeordnet, übernimmt zunächst der Staat alle anfallenden Kosten. Wird das Verfahren eingestellt oder wird der Tatverdächtige freigesprochen, trägt die Landeskasse die Kosten. Im Falle der Verurteilung hat der Beschuldigte grundsätzlich die Kosten zu tragen, allerdings werden nicht immer die Kosten festgesetzt und auch beigetrieben.
Die korrekte Formulierung lautet deshalb: „Sie haben im Falle einer Verurteilung grundsätzlich die Kosten der Pflichtverteidigung zu tragen.“
7. Beweisantragsrecht
Der Beschuldigte ist darüber zu belehren, dass er jederzeit Beweiserhebungen beantragen kann.
Formulierungsvorschlag: Sie können jederzeit Beweiserhebungen beantragen, etwa: Wenn Sie für die Tatzeit etwa ein Alibi haben, sich an einem anderen Ort aufgehalten und dafür Zeugen haben, dann können Sie beantragen, dass diese Zeugen vernommen werden.
8. Kostenfolge für Beweiserhebungen
Der Beschuldigte ist darüber zu belehren, dass er grundsätzlich für Beweiserhebungen, die auf seine Anregung erfolgen, im Falle einer Verurteilung die dafür entstandenen Kosten zu tragen hat.
9. Hinweis auf die Möglichkeit schriftlicher Angaben
Der Vernehmungsbeamte kann diesen Hinweis erteilen bei Fällen, die er für eine etwaige schriftliche Einlassung geeignet hält.
10. Hinweis auf die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs
Auch dieser Hinweis wird nur in geeigneten Fällen erteilt, nicht bei schweren Straftaten, bei fehlendem Geständnis oder wenn das Opfer dazu nicht bereit ist.
11. Anwaltlicher Notdienst
Hierüber ist nicht zu belehren, wenn der Beschuldigte nicht die Hinzuziehung eines Anwalts wünscht, sondern nur, wenn
-der Beschuldigte den von ihm gewünschte Anwalt nicht erreichen kann
-er einen Anwalt wünscht, aber niemanden kennt.
12. Beiordnung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen
In manchen Fällen darf eine Vernehmung auch in den Fällen, in denen der Beschuldigte den Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers stellt, nicht erfolgen bevor von Amts wegen beigeordnet wurde.
In welchen von Amts wegen ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist, ist in § 141 Absatz 2 StPO geregelt.
Hier die wesentlichen und in der Praxis bedeutsamen Fälle, die jeder Polizeibeamte kennen muss:
a) Schwere psychische Erkrankungen des Beschuldigten aufgrund derer sich dieser nicht selber verteidigen kann
Typische Fälle sind: Beschuldigte, die an paranoider Schizophrenie erkrankt sin, Beschuldigte mit optischen/ akustischen Halluzinationen.
Wenn derartige Symptome erkennbar werden (das Wann und Wie ist zu protokollieren), ist die Vernehmung umgehend abzubrechen und Kontakt zum Staatsanwalt aufzunehmen, damit dieser die Beiordnung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen veranlasst.
b) Der Beschuldigte ist aufgrund richterlichen Beschlusses untergebracht
Betroffen sind Beschuldigte, die etwa in Straf-und Abschiebehaft sind, im Strafarrest, in der Unterbringung gem. §§ 64 (Entzug), 63 (psychiatrische Klinik), 66 (Sicherungsverwahrung) oder Unterbringung gem. PsychKG.
c) Richterliche Vernehmung von Zeugen im Ermittlungsverfahren
Wird im laufenden Ermittlungsverfahren ein Zeuge durch den Ermittlungsrichter vernommen, ist dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger von Amts wegen beizuordnen, weil u.U. dieser Zeuge später nicht mehr n der Hauptverhandlung vernommen wird (etwa die geschädigte Freundin des Beschuldigten, die sich kurz vor der Anklage mit dem Beschuldigten verlobt und sich in der Hauptverhandlung auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht als Verlobte beruft.).
d) Beschuldigter soll dem Haftrichter vorgeführt werden
Ab dem Moment, ab dem feststeht, dass Haftbefehl oder Unterbringungsbefehl beantragt werden soll, darf der Beschuldigte ohne vorherige Beiordnung eines Pflichtverteidigers –von Amts wegen- nicht mehr vernommen werden.
Das bedeutet:
Wird ein Haftbefehl vollstreckt, kann der Beschuldigte ohne Pflichtverteidiger nicht mehr vernommen werden.
Wird ein Beschuldigter vorläufig festgenommen werden, ist erst dann von Amts wegen ein Pflichtverteidiger beizuordnen, wenn alle Ergebnisse der Ermittlungen vorliegen, die notwendig sind, um über die Frage entscheiden zu können, ob ein Antrag auf Erlass eines Haftbefehls/ Unterbringungsbefehls gestellt wird.
Achtung: Der Zeitpunkt darf nicht hinausgezögert werden! Dazu ein Beispiel:
Dem A wird zur Last gelegt die B vergewaltigt zu haben. Der Tatvorwurf beruht zunächst auf den Angaben der B im Rahmen der Anzeigenerstattung. Eine Durchsuchungsmaßnahme soll noch durchgeführt, Spuren sollen noch ausgewertet werden. A wird durch Polizeibeamte vorläufig festgenommen (§ 127 Abs. 2 StPO), die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls wurden also schon geprüft. Darf A nun durch die Polizeibeamten verantwortlich vernommen werden oder handelt es sich um einen Fall der zwingenden vorherigen Beiordnung eines Pflichtverteidigers von Amts wegen (also auch dann, wenn der Beschuldigte trotz ordnungsgemäßer Belehrungen keinen solchen Antrag stellt)?
Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass die Polizeibeamten ja nicht über die Frage, ob der Beschuldigte dem Haftrichter vorgeführt werden soll, entscheiden würden, dies also noch gar nicht feststehe, eine Vernehmung daher erfolgen könne. Diese Entscheidung halten wir für vorschnell und fragwürdig, denn nicht selten wird die Staatsanwaltschaft erst am nächsten Tag und damit viel zu spät mit der Frage einer evtl. Vorführung befasst. Dieses „Hinauszögern“ der Entscheidung (um vernehmen zu können) ist nicht zulässig und wird nicht selten dazu führen, dass die Angaben, die der Beschuldigte dem Polizeibeamten gegenüber tätigt, nicht verwertet werden dürfen. Denn der Polizeibeamte hat bereits bei der Vornahme der vorläufigen Festnahme die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls festgestellt (sonst hätte er nicht festnehmen dürfen) und damit die Weichen gestellt.
e) Sonderproblem: Jugendliche/ Heranwachsende
§ 68 JGG (Notwendige Verteidigung)
Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn
- im Verfahren gegen einen Erwachsenen ein Fall der notwendigen Verteidigung vorliegen würde,
- den Erziehungsberechtigten und den gesetzlichen Vertretern ihre Rechte nach diesem Gesetz entzogen sind,
- die Erziehungsberechtigten und die gesetzlichen Vertreter nach § 51 Abs. 2 von der Verhandlung ausgeschlossen worden sind und die Beeinträchtigung in der Wahrnehmung ihrer Rechte durch eine nachträgliche Unterrichtung (§ 51 Abs. 4 Satz)
- oder die Anwesenheit einer anderen geeigneten volljährigen Person nicht hinreichend ausgeglichen werden kann,
- zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Entwicklungsstand des Beschuldigten (§ 73) seine Unterbringung in einer Anstalt in Frage kommt oder
- die Verhängung einer Jugendstrafe oder die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in einer Entziehungsanstalt zu erwarten ist.
§ 68 a (Zeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers)
Absatz 1: In den Fällen der notwendigen Verteidigung wird dem Jugendlichen, der noch keinen Verteidiger hat, ein Pflichtverteidiger spätestens bestellt, bevor eine Vernehmung des Jugendlichen oder eine Gegenüberstellung mit ihm durchgeführt wird. Dies gilt nicht, wenn ein Fall der notwendigen Verteidigung allein deshalb vorliegt, weil dem Jugendlichen ein Verbrechen zur Last gelegt wird, ein Absehen von der Strafverfolgung nach § 45 Absatz 2 oder 3 zu erwarten ist und die Bestellung eines Pflichtverteidigers zu dem in Satz 1 genannten Zeitpunkt auch unter Berücksichtigung des Wohls des Jugendlichen und der Umstände des Einzelfalls unverhältnismäßig wäre.
Absatz 2: § 141 Absatz 2 Satz 2 der Strafprozessordnung ist nicht anzuwenden.
§ 68 b (Vernehmung und Gegenüberstellung von der Bestellung eines Pflichtverteidigers)
Absatz 1: Abweichend von § 68 a Absatz 1 dürfen im Vorverfahren Vernehmungen des Jugendlichen oder Gegenüberstellungen mit ihm vor der Bestellung eines Pflichtverteidigers durchgeführt werden, soweit dies auch unter Berücksichtigung des Wohls des Jugendlichen
- zur Abwehr schwerwiegender nachteiliger Auswirkungen auf Leib oder Leben oder die Freiheit einer Person dringend erforderlich ist,
- ein sofortiges Handeln der Strafverfolgungsbehörden zwingend geboten ist, um eine erhebliche Gefährdung eines sich auf eine schwere Straftat beziehenden Strafverfahrens abzuwenden.
Absatz 2: Das Recht des Jugendlichen, jederzeit, auch schon vor der Vernehmung, eine von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen, bleibt unberührt.
§ 109 JGG:
Absatz 1: Von den Vorschriften über das Jugendstrafverfahren (§§ 43 bis 81 a) sind im Verfahren gegen einen Heranwachsenden die §§ 43, 46 a, 47 a, 50 Absatz 3 und 4, die §§ 51 a, 68 Nummer 1, 4 und 5, die §§ 68 a, 68 b, 70 Absatz 2 und 3, die §§ 70 a, 70 b Absatz 1 Satz 1 und Absatz 2, die §§ 70 c, 72 a bis 73 und 81 a entsprechend anzuwenden.
Vor der Vernehmung eines Jugendlichen/ Heranwachsenden (vgl. § 109 Absatz 1 Satz 1 JGG), wenn ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt (§ 68 Abs. 1 JGG).
13. Folgen falscher/ unvollständiger Belehrung
Es scheint nach wie vor verbreitete Meinung zu sein, dass es gleichgültig ist, ob ein Beschuldigter korrekt belehrt wird. Das ist mitnichten so, vielmehr führt eine fehlerhafte / unvollständige Belehrung grundsätzlich dazu, dass die Angaben, die ein Beschuldigter im Anschluss macht, nicht verwertbar sind.
Deshalb weisen wir in unseren Fortbildungsveranstaltu7ngen auf die Grundregel hin:
Wer nicht vollständig über die Voraussetzungen des § 136 StPO belehrt, arbeitet möglicherweise „für die Tonne“.
Die Tragweite der Fehler hängt davon ab, über welche Teile der Belehrung gem. § 136 StPO unvollständig/ falsch aufgeklärt worden ist und ob der Beschuldigte später in der Hauptverhandlung der Verwertung dieser Angaben (und dann auch der Aussage der Vernehmungsbeamten) widerspricht (was in der Regel der Fall sein wird).
Grundsätzlich gilt:
Wird ein Beschuldigter über den Tatvorwurf. den zugrundeliegenden Lebenssachverhalt. sein Schweigerecht. sein Recht, einen Wahlverteidiger zuzuziehen oder sein Recht, einen Antrag auf Beiordnung eines Pflichtverteidigers stellen zu können nicht belehrt oder wird dem Beschuldigten bei der Zuziehung eines Anwalts nicht geholfen, so folgt aus diesem Fehler grundsätzlich und mit wenigen Ausnahmen (dazu im Detail in Basiswissen Strafprozess für Polizeibeamte) ein absolutes Verwertungsverbot (Vernehmung also “für die Tonne“ und bitte nehmen Sie dieses ernst!)
Dasselbe gilt, wenn der Beschuldigte zum Zeitpunkt der Belehrung/ Vernehmung verhandlungsunfähig war (etwa infolge starker Alkoholisierung oder schwere psychischer Erkrankung).
14. Dokumentation der Belehrung
Leider fallen die Angaben zum Belehrungsinhalt auf dem Vorblatt und im Protokoll häufig auseinander, was zu Nachfragen in der Hauptverhandlung führt. Wenn im Protokoll (was absolut sinnvoll ist) zu Beginn aufgeführt wird, worüber der Beschuldigte belehrt wurde, sollte dies vollständig sein und die tatsächlich erfolgte Belehrung korrekt wiedergeben.
V. Fazit
Nun zu unserem Ausgangsfall: Was ist falsch gelaufen?
Spontanangaben sind grundsätzlich ohne vorherige Belehrung verwertbar. Allerdings gilt: Vor der ersten Nachfrage ist gem. § 136 StPO zu belehren, ansonsten sind alle Antworten auf Fragen nicht verwertbar.
Die Belehrung über das Recht, die Beiordnung eines Pflichtverteidigers beantragen zu können, ist nicht erfolgt, weshalb grundsätzlich alle Angaben danach nicht verwertbar sind, wenn später der Verwertung widersprochen wird. Darüber hinaus wäre bereits an dieser Stelle wegen der zuvor nicht erfolgten Belehrung qualifiziert zu belehren gewesen.
Die Vernehmung in der Gewahrsamszelle hätte –nachdem die Polizei als solche um die Kopfverletzungen der Geschädigten infolge von Schlägen mit einem Hammer wusste und das Verfahren deshalb wegen des Verdachts eines versuchten Tötungsdelikts geführt wurde- als Audio-Videovernehmung erfolgen m ü s s e n. Zudem wäre der Beschuldigte zu Beginn dieser Vernehmung qualifiziert zu belehren gewesen, weil die erste Belehrung nicht richtig war und darüber hinaus bei Erstkontakt (Notruf) gar nicht belehrt wurde.
Was aber ist eine qualifizierte Belehrung?
Wer nun meint, dass es sich dabei um die Belehrung nach § 136 StPO handelt (Die Antwort erhalten wir in den Fortbildungsveranstaltungen regelmäßig.) liegt falsch.
In der qualifizierten Belehrung wird der Beschuldigte vollständig gem. § 136 StPO belehrt und darüber hinaus darüber informiert, dass seine bisherigen Angaben nicht verwertbar sind und darauf keine Verurteilung gestützt werden kann.
Grund dafür ist, dass der Beschuldigte nicht in dem Glauben belassen werden darf, dass er ja bereits der Polizei Angaben zu seiner Täterschaft gemacht hat und allein deshalb bereits verurteilt werden wird, sodass weitere Angaben unschädlich sind.
Wird der Beschuldigte darüber nicht belehrt, sind grundsätzlich auch alle weiteren Angaben nicht verwertbar.