Repetitorium StPO: Gefahr im Verzug

Prof. Karoline H. Starkgraff, Akademie der Polizei Hamburg

I. Einleitung

Die Reihe „Bekanntes und Neues aus dem Strafrecht“ soll einige Grundlagen des Strafrechts und Strafprozessrechts in das Gedächtnis zurückrufen, weist auf Neuregelungen hin und bietet damit die Gelegenheit, vorhandenes Wissen zu überprüfen und zu aktualisieren. Eine kurze Einführung in das Thema frischt vorhandenes Wissen auf.

Diese Folge des Repetitoriums behandelt die Anordnung strafprozessualer Maßnahmen bei „Gefahr im Verzug“. Als Schlagwort ist dieser Begriff wohl jedem Leser bekannt. Auch eine allgemeine Definition lässt sich formulieren: Gefahr im Verzug liegt vor, wenn eine vorgesehene Anordnung „nicht eingeholt werden kann, ohne dass der Zweck der Maßnahme gefährdet wird“[1]. Die Herausforderung für die Rechtsanwender liegt in der jeweiligen Eingriffsermächtigung begründet. Denn Gefahr im Verzug ist für jede Befugnis an ihrem konkreten Zweck zu messen. Darüber hinaus hat sich das Verständnis der Eilbedürftigkeit in den letzten Jahrzehnten drastisch gewandelt. Diese Entwicklung führt dazu, dass selbst begründete Eilentscheidungen der Polizei ein Beweisverbot nach sich ziehen können, z.B. bei rechtswidrig fehlenden richterlichem Bereitschaftsdienst[2] oder nicht ausreichender Dokumentation[3]. Diese Aspekte können im Rahmen dieses Beitrags nicht vertieft werden. Es soll insoweit aber Problembewusstsein geweckt werden. Im Vordergrund steht ein Überblick darüber, wer im Eilfall zur Anordnung einer Maßnahme aufgrund Gefahr im Verzug befugt ist. Ferner sollen die Faktoren, die in die Abwägungsprozesse für oder gegen Gefahr im Verzug einzustellen sind, benannt werden. Das Thema „Einführung in die Beweisverbotslehre“ ist für eine spätere Folge des Repetitoriums notiert.

II. Gefahr im Verzug im Überblick

1. Definition Gefahr im Verzug

Ganz abstrakt gesehen, lautet die Definition für Gefahr im Verzug wie folgt:

Gefahr im Verzug liegt vor, wenn eine verfassungsrechtlich und/oder einfach-gesetzlich vorgesehene Förmlichkeit [muss präzisiert werden] nicht eingehalten werden kann, ohne dass dadurch der Zweck der Maßnahme [muss präzisiert werden] erschwert oder vereitelt werden würde. Hier wird bereits deutlich, dass es sich nicht immer um Anordnungsfragen handelt. Auch andere Vorschriften, die dem Schutz des Betroffenen dienen, dürfen nur im Eilfall zurücktreten. Ein Beispiel ist die Wahrung der Nachtruhe gemäß § 104 StPO.

2. Abgrenzung zum Richtervorbehalt (Exkurs Richtervorbehalt)

Wegen der Vielzahl der Ermittlungsmaßnahmen, die grundsätzlich richterlich anzuordnen sind, wird die Thematik „Gefahr im Verzug“ teils mit dem Stichwort „Richtervorbehalt“ verbunden oder gar nicht gesondert erörtert.[4] Deshalb soll hier als Exkurs kurz darauf eingegangen werden. Den Richtervorbehalt gibt es nämlich auch nicht!

Zu unterscheiden ist zwischen einem verfassungsrechtlich verankerten Richtervorbehalt und einem einfach-gesetzlichen Richtervorbehalt. Ersterer begegnet uns für die Wohnung in Art. 13 Abs. 2 GG und für die Freiheitsentziehung in Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG. Die einfachen Gesetze, insbesondere die StPO, greifen ihn nur auf und wiederholen ihn, z.B. in § 105 StPO für die offene Wohnungsdurchsuchung oder in § 100e StPO für den verdeckten Eingriff in Wohnungen in Form der akustischen Wohnraumüberwachung. Dagegen sind Richtervorbehalte bei z.B. Beschlagnahmen, körperlichen Untersuchungen und Eingriffen oder DNA-Analysen, einfach-gesetzlicher Art. Sie können leichter geändert werden als das Grundgesetz, wie die Änderung des § 81a StPO im Jahr 2017 hinsichtlich der Blutprobenentnahme bei Verdacht einer Verkehrsstraftat zeigt. Die höhere Bedeutung eines verfassungsrechtlichen Richtervorbehalts ist in die Abwägung der Eilbedürftigkeit einzubeziehen. Denn nicht jede Erschwerung des Strafverfahrens gibt sofort den Weg zur Eilanordnung frei. Im Gegenteil: Trotz aller Beweisschwierigkeiten muss die richterliche Anordnung der Regelfall bleiben.[5] Ganz besonders deutlich wird dies erneut bei der Blutprobenentnahme. Die Blutalkoholkonzentration (BAK) ist für die Tatzeit zu ermitteln. Jeder zeitliche Abstand zwischen Tatzeit und Blutabnahme führt durch Auf- oder Abbau des BAK-Werts zu einer Veränderung des gemessenen Werts. Eine Rückrechnung auf den wahrscheinlichen BAK-Wert zur Tatzeit ist unumgänglich, mit allen Konsequenzen einer ungenaueren, sich nur annähernden Berechnung. Der bessere Beweis durch sofortige Blutabnahme muss zurücktreten, wenn nur dadurch der Regelfall der richterlichen Anordnung erreicht werden kann.

Warum ist das so? Es gibt im Strafverfahren, so der einprägsame und oft wiederholte Spruch, „keine Wahrheitsfindung um jeden Preis“. Die wesentlichen Unterschiede zwischen einer richterlichen und einer Eilanordnung sind zweierlei: Die Unabhängigkeit des Richters und die Unumkehrbarkeit des Grundrechtseingriffs. Der Richter ist unabhängig, während die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen Teil der Exekutive sind, die die Strafverfolgung gegen den Beschuldigten betreiben. Diesem Argument könnte mit dem Einwand begegnet werden, dass eine nachträgliche richterliche Bestätigung in der StPO vorgesehen ist. Dies ist ausdrücklich in § 98 Abs. 2 StPO geregelt. Doch eine nachträgliche richterliche Befassung kann den Grundrechtseingriff nicht ungeschehen machen. Wer auf Gefahr im Verzug eine Person oder Wohnung durchsucht, hat verborgen Gehaltenes gesehen: Narben, Behinderungen oder Tätowierungen am Körper; Reizwäsche, Sexspielzeug, Kontoauszüge in der Wohnung. Selbst durch ein Beweisverwertungsverbot ist die Kenntnis über das Gesehene/Gefundene vorhanden. Nur die vor dem Eingriff stattfindende, unabhängige Prüfung durch die Judikative gewährleistet einen umfassenden Grundrechtsschutz.[6]

Demgegenüber erkennt der Gesetzgeber das Gebot effektiver Strafverfolgung[7]. Und erlaubt es der Exekutive, in besonders zu begründenden Einzelfällen im Eilwege zu entscheiden. Dabei ist die staatsanwaltschaftliche Entscheidung genauso „nur“ eine Eilentscheidung wie die polizeiliche. Zum umstrittenen Verhältnis zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft sogleich unter 3.c).

Ein wenig irreführend mag auch der Begriff „Richtervorbehalt“ deshalb sein, weil manchmal „der Richter“, manchmal „das Gericht“ im Gesetzestext genannt ist. Im Ermittlungsverfahren ist das der Ermittlungsrichter[8], bei dem schwerwiegenden Grundrechtseingriff der akustischen Wohnraumüberwachung aber eine Kammer am Landgericht, vgl. § 100e Abs. 2 StPO.

3. Wer ist zu einer Eilanordnung befugt?

a) Staatsanwaltschaft

Die Staatsanwaltschaft ist zunächst einmal Teil der Justiz und Strafverfolgungsbehörde. Sie leitet zudem als „Herrin des Ermittlungsverfahrens“ die Ermittlungen. Bei „großen Sachen“ ist das in innerdienstlichen Anweisungen vorgeschrieben: Tötungs- und andere Kapitaldelikte, Tod im Justizvollzug oder Polizeigewahrsam verpflichten regelmäßig den zuständigen Staatsanwalt zum Erscheinen vor Ort und zur Übernahme der Ermittlungen von Anfang an. Bei Schwerpunktstaatsanwaltschaften für einen bestimmten Deliktsbereich, z.B. BtM- oder Organisierte Kriminalität oder Wirtschaftskriminalität, ist die enge Zusammenarbeit zwischen der Staatsanwaltschaft und den Ermittlern schon organisatorisch vorgegeben.

In allen anderen Fällen hängt die Beteiligung der Staatsanwaltschaft davon ab, ob diese von der Polizei über die Notwendigkeit einer Eilanordnung informiert wird. Dem Gesetzestext ist nur zu entnehmen, dass die Eilanordnung der Staatsanwaltschaft und ihren Ermittlungspersonen zusteht.

b) Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft

In jedem Paragrafen, in welchem diese Ermittlungspersonen genannt werden, verweist die StPO auf § 152 GVG[9]. Zur Beantwortung der Frage, wer Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft ist, ist Abs. 2 entscheidend. Dieser wiederum verweist auf landesrechtliche Kompetenzen. Es ist also unumgänglich, sich die jeweilige landesrechtliche Verordnung anzusehen. Auch im auswärtigen Einsatz, z.B. bei Unterstützung in Versammlungslagen, sollte vor dem Einsatz geklärt werden, wie in dem Bundesland, welches die Kräfte anfordert, die Verordnung über Ermittlungsbeamte der Staatsanwaltschaft aussieht. Neben Polizeibeamten bestimmter Dienstgrade (oft: Vom Meister bis zum Ersten Hauptkommissar) sind auch Beamte der Finanz-, Zoll- und Grenzverwaltung sowie Forst- und Jagdberechtigte erfasst.

Nicht alle „Beamte des Polizeidienstes“ sind Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft. Allen Beamten stehen die Maßnahmen der Identitätsfeststellung (§ 163b StPO), der Erkennungsdienstlichen Behandlung (§ 81b Abs. 1 StPO) der vorläufigen Festnahmen (§§ 127, 127b StPO) und aller auf die Generalklausel gestützten Maßnahmen[10] zu. Speziell geregelt sind die Befugnisse der „die Vernehmung leitende[n] Person“ in § 163 Abs. 4 Satz 2 StPO und des Beamten, der die „Amtshandlungen an Ort und Stelle … leitet“ in § 164 StPO. Sie müssen keine Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft sein.

Regelmäßig ist die Nennung der Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft mit einer Eilanordnung verknüpft. Nur bei der Änderung des § 81a StPO wurde davon abgewichen.

c) Das kleine Wörtchen „und“

Das kleine Wörtchen „und“ zwischen „Staatsanwaltschaft“ und „Ermittlungspersonen“ bereitet Kopfzerbrechen. Sicher ist nicht ein additives „und“ = „nur gemeinsam“ gemeint, wie in einem Rezept für einen Rührkuchen: Butter und Eier und Mehl. Viele Stimmen[11] berücksichtigen aber das Leitungsrecht der Staatsanwaltschaft und legen in das „und“ eine Hierarchie auch für die Anordnungskompetenz. Danach ist die Ermittlungsperson nur zur Anordnung bei Gefahr im Verzug berechtigt, wenn auch die Kontaktierung der Staatsanwaltschaft nicht mehr möglich ist.

Dies verkennt m.E. den „stille-Post-Effekt“. Sind beide Strafverfolgungsbehörden (StA und ihre Ermittlungspersonen) vor Ort, z.B. am Mordtatort oder während einer geplanten Durchsuchung, entscheidet stets der verfahrensleitende Staatsanwalt. Besteht jedoch ein Informationsvorsprung bei der Ermittlungsperson aufgrund der unmittelbaren Wahrnehmung aktueller Ereignisse, sind m.E. die Beurteilung der Tatsachen und die Abwägung der Verhältnismäßigkeit besser gewahrt, wenn derjenige entscheidet, der diesen Informationsvorsprung hat. Ein Stufenverhältnis ist auch dem Gesetzestext nicht zu entnehmen.[12]

Die gegenwärtige h.M. entscheidet diese umstrittene Frage jedoch anders.[13] Und das, obwohl eine Aktenvorlage an den Entscheider nicht immer erwartet wird.[14]

4. Anordnung ist nicht Durchführung!

Abschließend noch ein Hinweis für die praktische Umsetzung. In allen, zugegeben manchmal verwirrenden, Einzelheiten über die richtige Anordnungskompetenz darf der Unterschied zwischen Anordnung und Durchführung nicht vergessen werden. Der Anordnende steht rechtlich für die Maßnahme ein und entscheidet auch über die Art und Weise der Ausführung. Der Durchführende packt an. Die Begrenzung z.B. auf Ermittlungsbeamte der Staatsanwaltschaft gilt nur für die Anordnung. Durchsuchen darf auch der (polizeiliche) Praktikant.

5. Die Gefahrenlage

Einzelfallbezogene Abwägung

Zur Beurteilung, ob Gefahr im Verzug angenommen werden darf, müssen der Zweck der Maßnahme und die Gefahrenlage gegeneinander abgewogen werden. „Gefahr im Verzug“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Er wird nachträglich vom Gericht vollumfänglich überprüft.[15] Um dem Gericht diese Überprüfung zu ermöglichen, ist eine Dokumentation der die Entscheidung tragenden Tatsachen erforderlich.

Dokumentationspflicht

Der Anordnende hat die Tatsachen des Einzelfalls zu dokumentieren, die ihn zu der Annahme von Gefahr im Verzug bewogen haben. Auch Versuche, eine richterliche Regelanordnung oder staatsanwaltschaftliche Eilanordnung einzuholen, sind zu dokumentieren. Bei dem Versuch, die Regelanordnung zu erreichen, ist arbeitsteilig vorzugehen. Die Begründung, alle Kräfte seien im konkreten Einsatz gebunden gewesen, reicht nicht aus. Wenn die Berichtsfertigung nicht vor der Maßnahme erfolgen konnte, was naheliegend ist, ist dies zeitnah nachzuholen. Der Vermerk gehört in die Ermittlungsakte.[16]

III. Ein Blick auf einzelne Regelungen

1. Die gängigen Anwendungsfälle

Das Arbeitsblatt führt zu den Normen, die häufig im polizeilichen Alltag anzuwenden sind. Das sind die Durchsuchungen gemäß §§ 102, 103 StPO, die Beschlagnahme gemäß § 94 Abs. 2 StPO und die vorläufigen Festnahmen gemäß den §§ 127, 127b StPO, die vor Erlass der entsprechenden Haftbefehle (Untersuchungshaft bzw. Haftbefehl im beschleunigten Verfahren) eingreifen. Einen großen praktischen Anwendungsbereich hat auch die Anordnung körperlicher Untersuchungen und Eingriffe, welche gegen den Beschuldigten auf § 81a StPO und bei Zeugen auf § 81c StPO gestützt werden. Die Wortwahl „Gefährdung des Untersuchungserfolgs“ ist präziser als „Gefahr im Verzug“, bedeutet jedoch dasselbe.

2. Die richterliche Vorführung bei Identitätsfeststellung

Besonderheiten weist die Regelung bei einer Freiheitsentziehung zur Identitätsfeststellung (§§ 163b, c StPO) auf. Ein Hinweis auf „Gefahr im Verzug“ findet sich nicht, obwohl die Freiheitsentziehung einem verfassungsrechtlichen Richtervorbehalt (Art. 104 Abs. 2 GG) unterliegt. Diesen greift § 163c Abs. 1 Satz 2 StPO auf, der eine unverzügliche richterliche Vorführung vorschreibt. Die begriffliche Nähe von „unverzüglich“ zu „Gefahr im Verzug“ liegt auf der Hand. Angeordnet hat die Grundmaßnahme der Identitätsfeststellung ein Polizeibeamter[17]. In § 163b StPO ist keine Einschränkung auf Ermittlungspersonen der Staatsanwaltschaft vorgenommen worden. Geht das Anhalten in ein Festhalten über und die Freiheitsbeschränkung in eine Freiheitsentziehung, greift die zwölf-Stunden-Frist des § 163c Abs. 1 StPO. Die Gefahr-im-Verzug-Situation ist quasi negativ geregelt durch den Zusatz, dass die richterliche Vorführung entfallen darf, wenn sie länger dauern würde als die Grundmaßnahme selbst.

3. Spezielle Anwendungsfälle

Aus Gründen des Umfangs dieses Beitrags kann auf seltenere oder spezielle Anwendungsfälle einer Anordnung bei Gefahr im Verzug nicht eingegangen werden. Dies sind z.B. die Durchführung einer Öffentlichkeitsfahndung und Veranlassung von Ausschreibungen gemäß §§ 131 ff. StPO und die Beschlagnahme zur Durchsetzung einer Sicherheitsleistung gemäß § 132 Abs. 3 StPO.[18]  In komplexen Ermittlungsverfahren werden die stark abgestuften Anordnungsregeln bei verdeckten Maßnahmen zu berücksichtigen sein.

IV. Literaturhinweise

Ernst, Der Untersuchungshaftbefehl ist keine Rechtsgrundlage für das Betreten und Durchsuchen von Wohnungen zur Ergreifung eines Beschuldigten, SchlHA 2022, 81 ff.; Hütwohl, Was ist eigentlich … eine Ermittlungsperson der Staatsanwaltschaft?, JuS 2022, 495 ff.; Müller/Trurnit, Eilzuständigkeit der Staatsanwaltschaft und des Polizeivollzugsdienstes in der StPO, StraFo 2008, 144 ff.; Nowrousian, Das Gebot der effektiven Strafverfolgung. Geschichte – Bedeutung – Begründung, Kriminalistik 2020, 624 ff.; Sachs, BVerfG: Durchsuchung einer Wohnung wegen Gefahr im Verzug (BVerfG, Urteil v. 20.2.2001 – 2 BvR 1444/00), JuS 2001, 701 ff.; Zeyher, Rechtsschutz gegen strafprozessuale Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren, JuS 2022, 636 ff.

VI. Arbeitsblatt

Das Arbeitsblatt besteht aus einer Tabelle mit den Spalten A. bis E. Die Spalte A beschreibt die polizeiliche Maßnahme. Die materielle Ermächtigungsgrundlage für die Maßnahme ist vorgegeben. Die rechtlich nicht immer einfache Zuordnung einer geplanten Maßnahme zu einer bestimmten Ermächtigungsgrundlage bleibt Ihnen daher erspart.[19] Aus den formellen Regelungen zu einer bestimmten Ermächtigungsgrundlage ergibt sich, wer im Regelfall und wer im Eilfall zur Anordnung befugt ist.

1. Ausfüllanleitung

Spalte B

Nennen Sie in Spalte B den Paragrafen (die Norm), in der die Anordnungskompetenzen geregelt sind. Das kann in einem Absatz der Grundmaßnahme, also im selben Paragrafen stehen (wie z.B. bei § 81a StPO) oder ein paar Paragrafen hinter der materiellen Eingriffsermächtigung (§§ 102 ff. StPO für Durchsuchungen; Anordnungen in § 105 StPO). Wegen der Regelung verschiedener Fälle in einer Anordnungsnorm müssen Sie sehr genau zitieren, nämlich mit Nennung des Absatzes und des Satzes innerhalb der Norm.

Spalte C

In Spalte C tragen Sie bitte den Regelfall der Anordnung ein. Wer ist zuständig, wenn keine Gefahr im Verzug vorliegt?

Spalte D

Spalte D ist für die Nennung der Person(en) bzw. Personengruppen vorgesehen, die bei Gefahr im Verzug die Anordnung treffen dürfen. Auf wen geht die Anordnungskompetenz im Eilfall über? (Im Umkehrschluss beantwortet diese Spalte auch die Frage – auf wen nicht?).

Spalte E

Beschreiben Sie in Spalte E abschließend, für welches staatliche Interesse oder Rechtsgut eine Gefahr besteht. Weshalb wird von der Regelanordnung abgesehen, also z.B. der Richtervorbehalt nicht eingehalten? Eine inhaltliche Prüfung, welche Anzeichen im Einzelfall auf Gefahr im Verzug deuten, sollen Sie nicht vornehmen. Das kann nicht gelingen, solange die konkreten Umstände des Einzelfalls nicht bekannt sind. Dennoch ist der Zweck der gesetzlichen Regelung zu analysieren. Es geht zwar im Großen und Ganzen immer um die Ermittlung der Wahrheit und das Gebot effektiver Strafverfolgung, im Detail sind aber Unterschiede erkennbar. So ist z.B. der Zweck eines Untersuchungshaftbefehls wegen Flucht- oder Verdunkelungsgefahr ein anderer als der eines Untersuchungshaftbefehls wegen Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO).

Soweit nicht anders angegeben, gehen Sie von einem strafverfolgenden (repressiven) Einsatz und Motivation der Einsatzkräfte aus.

2. Beispiel

  A B
Maßnahme (Beschreibung) ist vorgegeben Paragraf, der die Anordnungskompeten­zen regelt 
A1 Durchsuchung der Wohnung beim Beschuldigten einer Hehlerei zum Auffinden gestohlener Gegenstände,

§ 102 StPO

§ 105 Abs. 1 Satz 1 StPO

 

  C D E
Anordnungskompetenz im Regelfall Anordnungskompetenz im Eilfall Welcher Gefahr soll durch die Eilanordnung begegnet werden?
A1 Richter Staatsanwaltschaft und deren Ermittlungspersonen Beweismittelverlust, s. Text

 

Erläuterung zu Spalte E

Gefahr droht der Beweismittelgewinnung. Tatsachen müssen die Gefahr belegen, dass die gestohlenen Gegenstände beiseitegeschafft werden.

3. Das Aufgabenblatt

  A B C D E
  Maßnahme (Beschrei­bung)

A1 = Beispiel

Paragraf, der die Anordnungs­kompeten­zen regelt Anordnungs­kompetenz im Regelfall Anordnungs­kompetenz im Eilfall Welcher Ge­fahr soll durch die Eilanord­nung begegnet werden?
 

 

A1

 

 

Durchsuchung der Wohnung beim Be­schuldigten einer Hehlerei zum Auffinden gestohlener Gegenstände,

§ 102 StPO

§ 105 Abs. 1 Satz 1 StPO Richter Staatsanwalt­schaft und ihre Ermittlungsper­sonen Beweismittelver­lust; Gefahr, dass die Gegen­stände verbor­gen werden.
A2 Durchsuchung eines Pkw einer unver­dächtigen Person nach Spuren, die der Täter hinterlassen haben könnte,

§ 103 Abs. 1 Satz 1 StPO

A3 Gebäudedurchsuchung gemäß § 103 Abs. 1 Satz 2 StPO
A4 Durchsuchung einer Wohnung auf rich­terliche Anordnung, aber zur Nachtzeit. § 104 StPO; eine Ausnahme nach Abs. 2 liegt nicht vor.
A5 Wohnungsdurchsuchung beim Beschul­digten zum Zwecke seiner Ergreifung. Ein Haftbefehl mit dem Haftgrund Fluchtgefahr liegt vor; Durchsuchung zur Ergreifung gemäß

§ 102 Abs. 1 Var. 1 StPO

A6 Vorläufige Festnahme eines Beschuldig­ten bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Haftbefehls wegen Verdunkelungs­gefahr, § 112 Abs. 1, 2 Nr. 3 StPO
A7 Beschlagnahme der Kleidung eines Be­schuldigten zur kriminaltechnischen

Untersuchung (§ 94 Abs. 2 StPO)

A8

 

Beschlagnahme eines Zufallsfunds im Rahmen einer richterlich angeordneten Wohnungsdurchsuchung
A9 Körperliche Untersuchung des Beschul­digten gemäß § 81a Abs. 1 Satz 1 StPO
A10 Körperliche Untersuchung des Zeugen gemäß § 81c Abs. 1 StPO (Anordnung)
A11 Unmittelbarer Zwang bei Durchführung einer körperlichen Untersuchung des Zeu­gen gemäß § 81 c Abs. 1 StPO (AO Grundmaßnahme wie in Zeile A9 liegt vor)

 

Laden Sie sich hier das Arbeitsblatt mit Lösungen herunter (PDF).

 


 

[1] BVerfGE 51, 97 (111) zu Art. 13 Abs. 2 GG und § 105 StPO; BVerfGE 103, 142 ff.; Köhler in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO-Komm., 65. Aufl. 2022, § 98 Rn. 6 m.w.N.

[2] Sog. „Organisationsverschulden“, welches nicht zu Lasten des Grundrechtsschutzes des Beschuldigten gehen darf.

[3] Zur Dokumentationspflicht über Tatsachen, die Gefahr im Verzug begründen, vgl. Hauschild in: MüKo-StPO, 2. Aufl. 2023, § 98 Rn. 10.

[4] Kindhäuser/Schumann, Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2022, verschlagwortet nur den „Richtervorbehalt“ und erwähnt darunter die Eilkompetenz „der StA bzw. ihrer Ermittlungspersonen“, § 4 Rn. 33.

[5] Hauschild in: MüKo-StPO, 2. Aufl. 2023, § 98 Rn. 8 m.w.N.

[6] Vgl. Hauschild in: MüKo-StPO, 2. Aufl. 2023, § 98 Rn. 8.

[7] Vgl. Nowrousian, Kriminalistik 2020, 624 ff.

[8] Die Zuständigkeit ergibt sich gemäß den §§ 162, 169 StPO und setzt einen Antrag der Staatsanwaltschaft voraus.

[9] Gerichtsverfassungsgesetz, abgedruckt und kommentiert z.B. bei Meyer-Goßner/Schmitt, StPO-Komm., 65. Aufl. 2022.

[10] Zum Beispiel eine kurzfristige Observation unterhalb der Schwelle des § 163f Abs. 1 StPO.

[11] Köhler in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO-Komm., 65. Aufl. 2022, § 98 Rn. 6 m.w.N.; Gerhold in: Beck-OK StPO, 46. Ed., 1.1.2023, § 98 Rn. 4.

[12] Ablehnend auch Kramer, Grundlagen des Strafverfahrensrechts, 9. Aufl. 2021, Rn. 109a; Müller/Trurnit, StraFo 2008, 144 ff.

[13] Köhler in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO-Komm., 65. Aufl. 2022, § 98 Rn. 6 m.w.N.; Gerhold in: Beck-OK StPO, 46. Ed., 1.1.2023, § 98 Rn. 4.

[14] Laut BVerfG NJW 2015, 2787 (2790) sind „…schriftliche[r] Unterlagen zur Herbeiführung einer richterlichen Eilentscheidung zumindest nicht ausnahmslos erforderlich…“.

[15] Eine nachträgliche gerichtliche Überprüfung kann gemäß § 98 Abs. 2 StPO beantragt werden; die Vorschrift wird im Rahmen des Rechtsschutzes gegen strafprozessuale Maßnahmen auch analog angewandt. Oder die Frage der Rechtmäßigkeit der Anordnung stellt sich im Rahmen der Prüfung eines Beweisverwertungsverbots.

[16] Hauschild in: MüKo-StPO, 2. Aufl. 2023, § 98 Rn. 10.

[17] Oder in seltenen Fällen die Staatsanwaltschaft.

[18] § 132 Abs. 3 Satz 2 StPO verweist  auf § 98 StPO, wodurch eine richterliche Anordnungskompetenz besteht. Im Gegensatz dazu besteht bei der Sicherheitsleistung gemäß § 127a StPO kein Richtervorbehalt; Alternative zur Sicherheitsleistung ist die Festnahme des Beschuldigten.

[19] Es bestehen z.B. erhebliche Differenzen, wann „noch“ eine Durchsuchung einer Person vorliegt in Abgrenzung zu einer körperlichen Untersuchung oder einem körperlichen Eingriff. Bei Lichtbildaufnahmen von einer Person können diese zum Zwecke der Identitätsfeststellung gemäß § 163b, zur Beweissicherung gemäß § 81c Abs. 1 StPO oder als Teil einer erkennungsdienstlichen Maßnahme gemäß § 81b Abs. 1 StPO gefertigt werden. Auch § 100h i.V.m. § 163f StPO könnte in Betracht kommen. Das sind Fragen der Rechtsfolgenseite der Ermächtigungsgrundlage („Was erlaubt diese Norm?“), welche nicht Gegenstand dieses Beitrags sind.

[20] So z.B. geschehen nach dem Amoklauf in einer Schule in Winnenden und nach dem Attentatsversuch und Mord vor der Synagoge in Halle/Saale.

[21] Die Einwilligung des Opfers in die Durchsuchung (und/oder ggf. Beschlagnahme) des Fahrzeugs ist möglich. Die Thematik kann hier aber nicht vertieft werden. Zu neuerdings aufkommenden datenschutzrechtlichen Fragen vgl. Mosbacher, Aktuelles Strafprozessrecht, JuS 2022, 726 (729 ff.), Fall IV.

[22] Köhler in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO-Komm., 65. Aufl. 2022, § 104 Rn. 1.

[23] Vgl. zum Ganzen BVerfGE 44, 353 ff.

[24] Ernst, SchlHA 2022, 81 (81) m.w.N. in Fn.1.

[25] Ausführlich und sehr lesenswert zuletzt Ernst, SchlHA 2022, 81 ff., Zugriff über juris.

[26] Die rechtsmedizinische Lebendbegutachtung ist eine Maßnahme, die vom Auskratzen der Rückstände unter den Fingernägeln bis zum Auskämmen der Schamhaare, der äußerlichen Begutachtung des Körpers auf Verletzungen bis hin zu tiefgreifenden Eingriffen intimer Art reichen kann. Es handelt sich um eine Mischung aus Durchsuchung, körperlicher Untersuchung und (nur freiwillig vorgenommenem) körperlichem Eingriff .