„Das Kind muss einen Namen haben!“ – Die Querdenker und die verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates

von Marcus Lutterbeck[1], Oberregierungsrat, Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales

Kommentar

Der neue vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) eingerichtete Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ und das innerhalb dieses Bereichs geschaffene bundesweite Sammelbeobachtungsobjekt „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“ wird den Anforderungen eines Rechtsstaats an das nicht unproblematische Instrument eines nach innen gerichteten Nachrichtendienstes nicht gerecht. Der Verfassungsschutz muss den Bürgerinnen und Bürgern, aber auch seinen sicherheitsbehördlichen Partnern einen besser operationalisierbaren Begriffsrahmen liefern.

Die Proteste gegen die Einschränkungen, die mit der Bekämpfung der Corona-Pandemie einhergingen, sind in vielerlei Hinsicht über das Ziel hinausgeschossen. Wie sich zeigte, haben sich dem Protest Personen angeschlossen, denen es weniger um die Wiederherstellung des status quo ante – hier des politischen, gesellschaftlichen und privaten Lebens der Bürgerinnen und Bürger vor der Pandemie – geht, sondern Gefallen und Gelegenheit daran finden, genau dieses wieder zurückersehnte System in Frage zu stellen und nachhaltig zu erschüttern. Sie sehen den günstigen Zeitpunkt einer vorrevolutionären Situation heraufziehen und wollen ihn nicht ungenutzt lassen.

Das BfV spricht in diesem Zusammenhang davon, dass „demokratische Entscheidungsprozesse und die entsprechenden Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative in sicherheitsgefährdender Art und Weise delegitimiert und verächtlich gemacht“ werden. Der Verfassungsschutz erkennt darin die o.g. Instrumentalisierung: „Anmelder und Organisatoren von Demonstrationen – zuvörderst zu nennen sind hier Protagonisten der Querdenken-Bewegung – zeigen zum Teil deutlich, dass ihre Agenda über die reine Mobilisierung zu Protesten gegen die staatlichen Corona-Schutzmaßnahmen hinausgeht. Es werden Verbindungen  zu „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Organisationen sowie Rechtsextremisten in Kauf genommen oder gesucht, das Ignorieren behördlicher Anordnungen propagiert und letztlich das staatliche Gewaltmonopol negiert. Ein solches Vorgehen ist insgesamt geeignet und zielt darauf ab, das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und seine Repräsentanten nachhaltig zu erschüttern.“[2]

Zugleich illustriert das BfV aber auch ein gewisses Maß an Hilflosigkeit dem Auftreten eines Phänomens gegenüber, das nicht in die bislang verwendeten Schablonen der Verfassungsfeindlichkeit passt: „Die Zuordnung der maßgeblichen Personenzusammenschlüsse oder Einzelpersonen ist in vielen Fällen weder zu einem bestehenden Beobachtungsobjekt noch zu einem der Phänomenbereiche ohne Einschränkungen möglich.“ Dieses Eingeständnis ist nicht ganz trivial. Es ist Grundvoraussetzung für die Existenz eines nach innen gerichteten – also die eigenen Bürgerinnen und Bürger und deren Personenzusammenschlüsse beobachtenden – Nachrichtendienstes, dass die Kriterien, die zur Einordnung als Verfassungsfeind führen, für jeden innerhalb des jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Systems sehr klar sind. Jeder, der sein Recht auf freie Meinungsäußerung in Anspruch nimmt, muss wissen oder zumindest wissen können, wo die Grenzen liegen, außerhalb derer er sich der Feindschaft zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung verdächtigt macht. Oder anders ausgedrückt: Die wehrhafte Demokratie muss immer wieder aufs Neue klarstellen, ab wann man sich mit ihr anlegt. Auch wenn man angesichts des vielzitierten und für die wehrhafte Demokratie als Sinnbild bemühten Ausspruchs „Keine Freiheit den Feinden der Freiheit!“ über das Prinzip der Fairness lange debattieren könnte, gab es im Großen und Ganzen bislang eigentlich kein wesentliches Erkenntnisdefizit in Bezug auf die Grenzziehung zur Verfassungsfeindlichkeit.[3] Jeder, der sich entlang oder jenseits dieser Grenze bewegen will, kann sich über deren Verortung ohne Weiteres informieren. Hierauf hinzuweisen ist keine Erbsenzählerei. Es ist essentiell für das Rechtsstaatsprinzips, dass man als Bürgerin und Bürger wissen können muss, welche Rechte und welche Pflichten man hat.

Prominenteste Institution der wehrhaften Demokratie und gewissermaßen Hüter dieser Grenze zur Verfassungsfeindlichkeit ist der Verfassungsschutz, oder genauer: die Behörden für Verfassungsschutz. Die Genauigkeit ist wichtig, denn es ist natürlich Aufgabe jeder staatlichen Institution, die Verfassung im Rahmen der ihr zugewiesenen Aufgaben zu schützen. Den Behörden für Verfassungsschutz obliegt aber qua Amt die Definition dessen, was in Deutschland unter Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung verstanden wird – also als verfassungsfeindlich gilt. In den Verfassungsschutzgesetzen von Bund und Ländern ist festgelegt, was als Bestrebungen anzusehen ist. So sind „Bestrebungen“ laut § 4 Abs. 1 a-c Bundesverfassungsschutzgesetz im Kern zunächst alle „politisch bestimmten, ziel- und zweckgerichteten Verhaltensweisen“. In Bezug auf die Qualität dieser Verhaltensweisen werden natürlich noch weitere, die Verfassungsfeindlichkeit konkretisierende Aspekte genannt, die dann zu einer Beobachtung durch den Inlandsnachrichtendienst führen. Sie können für die hier anzustellende Betrachtung aber dahinstehen. Dies ist keine Kritik an der Tatsache der Beobachtung von Teilen der Querdenker-Bewegung an sich, sondern eine an ihrer misslungenen Bezeichnung. Denn wenn „Bestrebungen“ politisch bestimmte, ziel- und zweckgerichtete Verhaltensweisen sind, dürfte ihre Kategorisierung nicht so unbestimmt ausfallen, wie sie es im Falle der Querdenker-Bewegung aber ist.

Im konkreten, aber oberflächlichen Vergleich mit den hier in Frage stehenden Verhaltensweisen von Teilen der Querdenker-Bewegung kann man der Argumentation des BfV natürlich durchaus folgen und eine „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ erkennen – wenn man unter der Bezeichnung „des Staates“ den deutschen Staat des Grundgesetzes versteht. Das BfV bleibt, zumindest in der veröffentlichten Variante seiner Erklärungen dazu[4], aber eine Antwort auf die Frage schuldig, was genau diese Delegitimierung dann von den existierenden Phänomenbereichen unterscheidet. Hier, wo der Verfassungsschutz seine Beobachtungsobjekte verortet – also die Phänomenbereiche Linksextremismus, Rechtsextremismus, Ausländerextremismus und Islamismus sowie Reichsbürger und Selbstverwalter[5] – entfalten die Akteure natürlich ebenfalls ihre Bestrebungen, um die Legitimität des Staates unseres Grundgesetzes zu delegitimieren.

Zugespitzt formuliert könnte hier auch die – schon unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehende und im Phänomenbereich des Linksextremismus einsortierte – Anarchiebewegung gemeint sein. Denn eine „verfassungsschutzrelevante“ – d.h. hier gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete – Delegitimierung des Staates legt begriffstheoretisch zunächst einmal die Ablehnung und Bekämpfung aller Staatlichkeit nahe. Nach allem was zu den – verfassungsfeindlichen – Zielen der Querdenker-Bewegung bekannt ist, richtet sie sich aber gar nicht gegen die Staatlichkeit an sich, sondern gegen die das Grundgesetz konkretisierende Praxis unseres politischen Systems. Die Querdenker-Bewegung gibt sogar vor, sich mit ihren Bestrebungen explizit für das Grundgesetz einzusetzen und beurteilt das Verhalten der politischen Verantwortungsträger in der Corona-Pandemie ihrerseits als verfassungswidrig.[6] Sie geht damit auch qualitativ noch über den gegen sie selbst ins Feld geführten Vorwurf „bloß“ verfassungsfeindlichen Verhaltens hinaus.

Die Aufgabe des Verfassungsschutzes ist es nicht nur, zu sagen, wer Verfassungsfeind ist, sondern auch warum. Für die Bürgerinnen und Bürger, die dies alles vom Rande aus beobachten und möglicherweise daraus auch Rückschlüsse auf die Maßstäbe erwarten, die sie an ihr eigenes Verhalten stellen können, um sich weiter im Verfassungsrahmen zu bewegen[7], halten mindestens einen überkompensierenden Abstand zu diesem Diskurs. Auch bei jenen, die im vorliegenden Falle gar nicht Adressat dieser Form der Warnung durch die Institutionen der wehrhaften Demokratie sind, stellt sich mitunter das Gefühl ein, trotz grundgesetzlich garantierter Meinungsfreiheit „nicht alles sagen zu dürfen“. So lässt sich zumindest das Ergebnis einer aktuellen Befragung des Instituts für Demoskopie Allensbach interpretieren, wonach nur 45 Prozent der Befragten in Deutschland das Gefühl haben, ihre Meinung frei äußern zu können. Dass diese Umfrage durchgeführt wurde, ist wohl auch kein Zufall, sondern eher schon der Versuch des Nachspürens, ob es so etwas wie „Cancel Culture“ und „Politische Korrektheit“ überhaupt gibt. Sollte es sie nicht geben, so führt deren zumindest gefühlte Existenz aber zu realen Auswirkungen. Auch dies ein Befund, der für eine staatliche Institution, die über die Klarheit einer Grenze zur Verfassungsfeindlichkeit auch mittels der von ihr verwendeten Begriffe entscheidet, handlungsleitend sein müsste. Sehr klare, nachvollziehbare und aktiv kommunizierte Leitplanken an der Grenze zur Verfassungsfeindlichkeit sind wichtige Voraussetzung für den öffentlichen Diskurs. Sie sollten aber nicht nur angeben, wo eine Grenze verläuft, sondern eben auch, warum sie dort verläuft. Die Deklaration von Tabus, ohne sie gut zu begründen, führt möglicherweise zu dem in der o.g. Umfrage zum Ausdruck kommenden diffusen Gefühl, nicht sicher zu sein, ob man sich mit seiner geäußerten Meinung nicht irgendwelchen Sanktionen aussetzt – und sei dies „nur“ die befremdete Reaktion des unmittelbaren gesellschaftlichen Umfelds.

Der neue Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates und das darauf basierende Sammelbeobachtungsobjekt „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“ kann diese Leitplanken nicht liefern. Er hinterlässt mehr Verwirrung, als dass er aufklärt. Er verwischt die Grenze zur Verfassungsfeindlichkeit mehr, als dass er die Regeln unser freiheitlichen demokratischen Grundordnung an einem Beispiel konkretisiert und damit für alle Bürgerinnen und Bürger und für die übrigen mit der öffentlichen Sicherheit und Ordnung betrauten Behörden operationalisierbar macht. Die sicherheitsbehördlichen Partner des Verfassungsschutzes, die Polizei und die Ordnungs- und Versammlungsbehörden, brauchen für die Praxis einen Begriffsrahmen, der ihnen Orientierung ermöglicht und die Verfassungsfeindlichkeit des neuen Phänomens für den eigenen Aufgabenbereich interpretierbar macht. Zu erwarten wäre mindestens eine Subsumtion der Bestrebungen der Querdenker-Bewegung unter die Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Mit der kurzen Pressemitteilung des Bundesamtes für Verfassungsschutz „Neuer Phänomenbereich ´Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates´“ ist es jedenfalls nicht getan.

Dabei ist das Problem für den Verfassungsschutz nicht neu. Mit der Debatte um eine „Entgrenzung des Rechtsextremismus“ durch das (Wieder-)Aufkommen der Neuen Rechten, hatte sich bereits eine definitorische Herausforderung angedeutet, die sich auch auf die Vermittelbarkeit einer hier zu erkennenden Verfassungsfeindlichkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürger auswirken sollte. Der Begriff wirkte so, als hätten die Verfassungsschutzbehörden eher eine Art „Störgefühl“ angesichts einer noch nicht abschätzbaren gesellschaftlichen und politischen Entwicklung als denn eine klare Vorstellung davon, worin die Verfassungsfeindlichkeit einzelner Protagonisten tatsächlich bestand. Dass es sich beim Verfassungsschutz nach eigenem Bekunden um ein „Frühwarnsystem der Demokratie“ handelt, darf aber nicht davon entlasten, die eigenen Entscheidungen auch gegenüber der Öffentlichkeit gut begründen zu müssen.  Die Verwendung des Begriffs „Entgrenzung“ ist ebenso wie der einer „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ eine Nebelkerze, die überdies im Sinne des Demokratieschutzes auch noch kontraproduktiv wirkt. Eine „Entgrenzung“ zu diagnostizieren, nimmt potentiell alle Bürger in den Fokus und führt im ungünstigsten Falle dazu, dass aus einer Trotzreaktion von „Na, dann bin ich eben rechts!“ eine Abwendung vom demokratischen Konsens erst recht erfolgt. Und schon die meist fehlende begriffliche Differenzierung zwischen „rechts“ und „rechtsextremistisch“ im Diskurs und in der Berichterstattung ist ein unseliger Beitrag für diesen Automatismus.

Die Unsicherheit, die innerhalb der Gesellschaft, auch innerhalb der Politik über die möglicherweise verfassungsfeindliche Ausrichtung einer (neu auftauchenden) Gruppierung oder Bewegung herrschen mag, muss spätestens bei den Innenministern enden. Hierhin richten sich die Blicke, wenn es darum geht, die vorliegenden Informationen über eine Bestrebung nicht anhand der wandelbaren Kriterien von politisch Gut und Böse zu gewichten, sondern am Maßstab der Grundprinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Für weitere Hinweise zu deren Interpretation sei auf das ein oder andere Urteil des Bundesverfassungsgerichts verwiesen.

Der Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen (LfV NW) gibt ein nachahmenswertes Beispiel, wie man es besser macht. In seinem „Sonderbericht zu Verschwörungsmythen und ´Corona-Leugnern´“ subsumiert das LfV NW auf etwas mehr als 31 Seiten (von insgesamt 179) detailliert die Verhaltensweisen der in Frage stehenden Teile der Querdenker-Bewegung unter die Voraussetzungen für eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Auch sonst trägt der Sonderbericht sehr gut zum Verständnis der Entstehung dieses Phänomens – und das auch in individual- als auch gruppenpsychologischer Hinsicht – bei. Er stellt die Binnenstruktur, maßgebliche Akteure und deren Strategien, weitere Entwicklungsszenarien und notwendige Maßnahmen zusammen. Wünschenswert wäre dann aber auch die sorgfältige Entwicklung und Etablierung eines Begriffs für dieses Phänomen, der den Adressaten dieser Botschaft nicht erst erklärt werden muss. Das LfV NRW hat vorgelegt, das BfV sollte sich jetzt nicht lumpen lassen.


[1] Der Autor ist Referent beim Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales, Stabsstelle Polizeiliche Extremismusprävention

[2] Bundesamt für Verfassungsschutz: Neuer Phänomenbereich „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“, online unter: https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2021/2021-04-29-querdenker.html, abgerufen am 29.06.2021

[3] Jedenfalls seit den noch in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts geführten Diskussionen um die wehrhafte Demokratie. Siehe stellvertretend für die Haltung zur Idee der wehrhaften Demokratie innerhalb von Teilen der politischen Linken: Cobler, Sebastian: Grundrechtsterror, In Kursbuch, Nr. 56, Unser Rechtsstaat, Hrsg. Von Karl Markus Michel und Harald Wieser, Juni 1979, S. 38-49

[4] Was an internen Vorgaben im BfV existiert, ist der Öffentlichkeit naturgemäß verschlossen.

[5] Der Verfassungsschutz widmet sich darüber hinaus den Themen Spionage- und Proliferationsabwehr, Geheim- und Sabotageschutz, der Cyberabwehr und dem Wirtschafts- und Wissenschaftsschutz. Diese Aufgabenbereiche stellen vorliegend aber keine Vergleichskategorien dar.

[6] Es sei in diesem Zusammenhang an die Demonstranten auf verschiedenen Querdenker-Veranstaltungen erinnert, die Ausgaben des Grundgesetzes wahlweise als Ausweis ihrer eigenen Verfassungstreue oder als Hinweis auf die einer angeblichen „Corona-Diktatur“ zum Opfer gewordenen Grundrechte vor sich hertrugen.

[7] Es geht im Bereich der Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung um konkrete Verhaltensweisen. Innere Einstellungen und Haltungen, sofern sie sich nicht in diesen konkreten Verhaltensweisen äußern, sind nicht sicherheitsbehördlicher Maßstab für Verfassungsfeindlichkeit.