Die Kriminalistik im System der Kriminalwissenschaften

Begriff, eigenständiger „Wissenschaftscharakter“, Einflüsse auf das Ermittlungs- und Hauptverfahren und epistemologisches Entwicklungspotenzial der Disziplin?

Von Leitendem Polizeidirektor Christoph, Keller[1], HSPV NRW, Abteilung Münster

1. Einleitung

In den letzten Jahren sind wiederholt Fragen nach der wissenschaftlichen Qualität der Kriminalistik und ihrer Einordnung in das System der Wissenschaften gestellt und vor allem kontrovers diskutiert worden. Zusätzlich zu der auf Forschungsebene bestehenden Uneinigkeit wird das Definitionsproblem des Begriffes der Kriminalistik durch die journalistische Begriffsverwendung verschärft. Insbesondere die Begriffe der Kriminologie und der Kriminalistik werden oft miteinander verwechselt bzw. synonym verwendet. Auch der Terminus „Forensik“ wird in Fernsehserien über Verbrechensaufklärung nahezu inflationär verwendet. Es besteht mithin eine Definitionsdiversität im Hinblick auf Begriff und Einordnung der Kriminalistik. Nach einem kurzen Abriss auf die historische Entwicklung der Kriminalistik (Ziff. 2) wird diese zunächst im System der Kriminalwissenschaften verortet (Ziff. 3). Mangels einer objektiv feststehenden Definition der Kriminalistik erfolgt sodann eine Begriffsbestimmung (Ziff. 4.1). Sodann wird auf die Frage nach dem Wissenschaftscharakter der Kriminalistik eingegangen (Ziff. 5). Es zeigt sich, dass die Kriminalistik eine selbstständige Wissenschaft mit tradierter Terminologie und Methodik ist, wenngleich mit gewissen Defiziten, insbesondere ist die Kriminalistik in der universitären Lehre schlicht unterrepräsentiert. Die Konsequenzen dieses Umstandes werden deutlich, wenn man Rolle und Bedeutung der Kriminalistik im Ermittlungs- und Hauptverfahren näher betrachtet (Ziff. 6). Dass Kriminalistik aber ebenso im präventiv-polizeilichen Aufgabenfeld mittlerweile elementare Bedeutung hat, wird ergänzend dargelegt (Ziff. 7). Letztlich steht (auch) die Kriminalistik vor großen Herausforderungen (Ziff. 8), die insbesondere eines anderen Ausbildungsverständnisses bedürfen.

2. Historische Kriminalistik

Die historische Entwicklung der Kriminalistik wird im Wesentlichen in drei Phasen unterschieden: vorwissenschaftliche Kriminalistik, Entwicklung zur gerichtlichen Untersuchungskunde und Verwissenschaftlichung der Kriminalistik.[2] Die vorwissenschaftliche Phase der Kriminalistik war insbesondere gekennzeichnet durch Versuche der mystischen und magischen Aufhellung der „Missetat“. Die Befragung von Orakeln und Urteilen der Gottheiten (Ordalien) dienten dazu, den Verfehlenden zu überführen. Nach Abschaffung der Folter und Einführung des Prinzips der freien Beweiswürdigung ab Mitte des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Weg für die Entwicklung der Kriminalistik zur Untersuchungskunde eröffnet, da nun die richterliche Überzeugung nicht mehr auf das Geständnis gegründet werden musste.[3] Dies führte zur Erschließung neuer Erkenntnisquellen und damit zu einer empirischen Ergründung des Ablaufes der Straftat. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die Beweistheorie. Das Strafprozessrecht löste sich vom Strafrecht und enthielt normative Regelungen. Als Pioniere der Kriminalistik sind hier vor allem von Jagemann, Groß und von Liszt zu bezeichnen. Dabei kann als Begründer der Untersuchungskunde der badische Amtmann Hugo Franz von Jagemann angesehen werden, der die Entwicklung der Kriminalistik zu einer eigenständigen Wissenschaft in seinem zweibändigen „Handbuch der gerichtlichen Untersuchungskunde“ aus den Jahren 1838-41 vorgezeichnet hat.[4] Die Entwicklung der Kriminalistik wurde insbesondere durch den Aufschwung der Naturwissenschaften sowie der Rechtsmedizin und der Psychologie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gefördert. Der Österreicher Hans Groß (1847-1915) gilt als Begründer der wissenschaftlichen Kriminalistik. Sein „Handbuch für Untersuchungsrichter“ von 1893 gilt allgemein als Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Kriminalistik. In Deutschland wurde der Begriff der Kriminalistik 1886 vom Strafrechtswissenschaftler Franz von Liszt eingeführt. Er verstand unter Kriminalistik eine „Gesamte Strafrechtswissenschaft“[5], die aus materiellem und formellem Strafrecht sowie aus Hilfswissenschaften zusammengesetzt sein sollte.

3. Kriminalistik im System der Kriminalwissenschaften

3.1 Juristische Kriminalwissenschaften

Allgemein wird zwischen juristischen und nicht-juristischen Kriminalwissenschaften unterschieden. Zu den juristischen Kriminalwissenschaften gehören das Strafrecht und das Strafprozessrecht, also die Disziplinen, die sich aus Sicht des Rechts dogmatisch mit den Straftaten und ihrer verfahrensmäßigen Erledigung beschäftigen.[6] Dabei umschreibt das Strafrecht die Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen einer Straftat. Das Strafprozessrecht regelt dagegen, wie ein Sachverhalt justizförmig festgestellt wird, die daraus resultierenden Rechtsfolgen rechtskräftig bestimmt und gegen den Verurteilten vollstreckt werden.

3.2 Nicht-juristische Kriminalwissenschaften

Zu den nicht-juristischen Wissenschaften zählen nach allgemeiner Auffassung die Kriminologie und die Kriminalistik. Diese Disziplinen zählen zu den (Kriminal-)Wissenschaften, die sich primär mit dem kriminellen Verhalten von Menschen befassen. Kriminologie und Kriminalistik werden allerdings oft – so z.B. in der medialen Berichterstattung – miteinander verwechselt bzw. als Begrifflichkeit versehentlich synonym verwendet. Zwischen ihnen besteht zwar eine enge Verbundenheit, gleichwohl sind sie aber inhaltlich zu trennen. Kriminologie ist die geordnete Gesamtheit des Erfahrungswissens über das Verbrechen, den Rechtsbrecher, die negativ soziale Auffälligkeit und über die Kontrolle dieses Verhaltens, mithin werden die Erscheinungsformen des Verbrechens, ihre Ursachen und die gesellschaftlichen Reaktionsmöglichkeiten erforscht. Die Kriminologie thematisiert zwar – anders als die normative Strafrechtswissenschaft – Kriminalität als Realphänomen. Sie unterscheidet sich aber von der auch mit der Kriminalitätswirklichkeit befassten Kriminalistik durch ihre größere Distanz zum Kriminaljustizsystem.[7] Während die Kriminologie von einem soziologischen Verbrechensbegriff ausgeht (Delinquenz), arbeitet die Kriminalistik mit einem strafrechtlichen Verbrechensbegriff und entwickelt vor allem Instrumentarien zur Aufdeckung und Untersuchung von Straftaten.[8] Die Kriminalistik ist also eher dem Strafprozessrecht zugewandt. Während aber die Inhalte der Kriminologie weitgehend unstrittig waren und sind, entbrannte in der Vergangenheit eine teils heftige Diskussion um die Definition und damit um die Inhalte der Kriminalistik. So wird die Kriminalistik teilweise als Bestandteil der Kriminologie[9] und der Rechtsmedizin angesehen.[10] Aufgrund enger Verbundenheit der Kriminalistik mit den juristischen Kriminalwissenschaften wird die Kriminalistik auch hier verortet.[11] Gegen diese Einordnung spricht aber der interdisziplinäre Charakter der Kriminalistik. Insbesondere ist die Kriminalistik nicht auf die Anwendung durch Strafverfolgungsbehörden begrenzt, sie wird etwa auch durch private Sicherheitsunternehmen oder andere staatliche Akteure angewandt und zumindest hinsichtlich ihrer praktischen Ausgestaltung weiterentwickelt.[12] Mit der Eröffnung des Studienganges Master of Arts Criminal Investigation (Kriminalistik) an der School CIFoS, der School of Criminal Investigation & Forensic Science der staatlich anerkannten Steinbeis – Hochschule Berlin, hat die Kriminalistik im privaten Bereich sogar eine Verankerung in der Hochschullandschaft erfahren. Bei Betrachtung der Teildisziplinen der Kriminalistik (Kriminaltechnik, Kriminaltaktik, Kriminalstrategie) wird deutlich, dass die Kriminalistik nicht auf die Jurisprudenz minimiert werden darf, da sie insbesondere im Kontext der Kriminaltechnik aus den Naturwissenschaften (Chemie, Physik, Mineralogie, Botanik u.a.) gespeist wird.

4. Begriff und Inhalt der Kriminalistik

4.1 Begriff der Kriminalistik nach heutigem Verständnis

Kriminalistik ist die Wissenschaft von der Aufdeckung, Untersuchung und Verhütung von Straftaten und kriminalistisch relevanten Sachverhalten. Diese Definition hat sich in der kriminalistischen Literatur weitgehend etabliert.[13] Gegenstand der Kriminalistik sind die Gesetzmäßigkeiten und Erscheinungen des Entstehens von Informationen (Spuren/Beweisen) bei der Begehung von Straftaten sowie die Methoden ihres Auffindens, Sicherns und Bewertens für Ermittlungs- und Beweiszwecke.[14] In engem Zusammenhang mit der Kriminalistik stehen die Forensischen Wissenschaften, häufig auch kurz als Forensik bezeichnet.[15] Im Unterschied zur Kriminalistik liegt der Zweck der Forensik aber allein darin, Tatsachen vor Gericht beweisen zu können, nicht zwingend muss dies aber der Kriminalitätsbekämpfung dienen, auch wenn dies regelmäßig der Fall sein wird.[16] Dient die Forensik der Bekämpfung von Kriminalität, besteht eine inhaltliche Überschneidung mit der Kriminaltechnik, einer Teildisziplin der Kriminalistik. In der Binnenstruktur empfiehlt sich eine Aufteilung der Kriminalistik in Allgemeine Kriminalistik und Besondere Kriminalistik.[17] Während die Allgemeine Kriminalistik die Teilgebiete enthält, die für die Aufdeckung, Aufklärung und Untersuchung „aller“ Straftaten von Bedeutung sind, umfasst die Besondere Kriminalistik die Methoden für die Untersuchung einzelner Straftaten bzw. spezieller Straftatengruppen, also Einzelgebiete (delikt-, personen- und objektbezogene Straftatenkategorien).[18] Nachdem die Kriminalistik herkömmlich in die Teilgebiete der Kriminaltaktik und Kriminaltechnik unterteilt wurde[19], wird nunmehr vorherrschend in der einschlägigen Literatur die Kriminalistik im Wesentlichen in drei Bestandteile untergliedert: Kriminaltechnik, Kriminaltaktik, Kriminalstrategie.[20] Vereinzelt findet sich als weiterer gesondert ausgewiesener Inhalt die Kriminalpsychologie, die Kriminaldienstkunde oder auch die Kriminallogistik, auf die hier nicht weiter eingegangen wird.[21]

4.2 Abgrenzung zur Polizeiwissenschaft

In Abgrenzung zur Kriminalistik widmet sich die Polizeiwissenschaft mit wissenschaftlichen Methoden theoretisch, empirisch und systematisch der polizeilichen Grundfunktion (Gewährleistung innerer Sicherheit unter Inanspruchnahme des staatlichen Gewaltmonopols), der Polizei als Institution und ihrem Verhalten sowie ihrer Tätigkeit (wie sie ist, wie sie sein kann und soll und wie sie nicht sein darf).[22]

5. Wissenschaftstheoretische Einordnung der Kriminalistik

5.1 Der Wissenschaftscharakter der Kriminalistik

Als Wissenschaft wird ein System von Kenntnissen über die Gesetze der Natur, der Gesellschaft und des Denkens verstanden. Ihre Erkenntnisse werden in Begriffen, Aussagen, Theorien und erkannten Gesetzmäßigkeiten fixiert. Wissenschaft ist die höchste Form der theoretischen Tätigkeit und zugleich deren Resultat.[23] Jede Wissenschaft bedient sich bestimmter Methoden. Dabei handelt es sich um objektivierte wissenschaftliche Verfahren zum Erzielen von unvoreingenommenen Ergebnissen, die sich dann nahtlos zu einem wissenschaftlichen Bild wie einem Puzzle zusammenfügen. Da die Kriminalistik nicht flächendeckend an den Universitäten erforscht wird, werden wiederholt Fragen nach der wissenschaftlichen Qualität der Kriminalistik gestellt. Mithin lässt sich der Wissenschaftscharakter der Kriminalistik nur inhaltlich begründen. Andernfalls würde es sich um eine bloße Ansammlung von Handlungsanweisungen und Tricks handeln, die von erfahrenen Kriminalisten an den beruflichen Nachwuchs weitergegeben werden. Die Kontroverse um den Wissenschaftscharakter der Kriminalistik führt zwangsläufig zur Frage nach dem Wissenschaftsbegriff. Allerdings gibt es unterschiedliche Betrachtungsweisen zum Wissenschaftsbegriff. So finden sich in der Literatur Unterteilungen nach Formal- und Realwissenschaften, Natur- und Geisteswissenschaften und nach Erfahrungs-, mathematischen und metaphysischen Wissenschaften.[24] In diesem Kontext nimmt die Kriminalistik für sich in Anspruch, eine Geisteswissenschaft zu sein, die aber stark naturwissenschaftlich geprägt ist.[25] Für die Existenz einer Disziplin als eigenständige Wissenschaft werden allgemein verschiedene Kriterien zugrunde gelegt.[26] Von einer Wissenschaft kann demnach dann gesprochen werden, wenn sie einen eigenen (spezifischen) Gegenstandsbereich besitzt; wenn sie über eine eigene Theorie verfügt, welche das theoretische Wissen über das Wirken von gegenstandsbezogenen Gesetzen und Gesetzmäßigkeiten in einem System von Kenntnissen erfasst; wenn sie eine (relative) Eigenständigkeit besitzt, d.h. sich allein fortentwickeln kann, von den Kenntnissen anderer Fachgebiete profitieren kann sowie für andere Fachgebiete neue Kenntnisse zur Verfügung stellen kann; wenn sie über ein System von Kenntnissen verfügt, welches sich in einer spezifischen, das Fachgebiet bestimmenden Struktur wiederfindet; wenn sie über eine eigene Methodologie und spezielle Methoden und Verfahren verfügt sowie als Hochschul- bzw. Universitätsfach vertreten ist. Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist die Kriminalistik als Wissenschaft anzuerkennen. Gegenstand der Kriminalistik sind „das Wissen und die Erkenntnisse über die Mittel, Methoden und Verfahren der Verhütung, Aufdeckung, Untersuchung und Aufklärung von Straftaten und kriminalistisch relevanten Ereignissen sowie der Erkenntnisse, die sich auf die Verbrechensbekämpfung in der Gesellschaft ausrichten“[27]. Damit besitzt die Kriminalistik einen eingegrenzten Gegenstandsbereich, der durch andere Wissenschaften nicht vertreten wird. Auch verfügt die Kriminalistik über eine eigene Theorie. Hierunter ist das System wissenschaftlich begründeter Aussagen über den Gegenstandsbereich, deren Gesetze und Gesetzmäßigkeiten sowie den Prinzipien der kriminalistischen Tätigkeit zu verstehen. Der Kriminalistik ist insbesondere auch ein Eigenständigkeitscharakter zu attestieren. Sie entwickelt sich allein fort, profitiert von den Kenntnissen anderer Fachgebiete – z.B. der Biologie – und stellt ihre (neuen) Erkenntnisse anderen Fachgebieten zur Verfügung, z.B. der Gerichtsmedizin. Die Kriminalistik verfügt desweitern über ein System, das sich in verschiedenen Teilgebieten widerspiegelt (Kriminaltechnik, Kriminaltaktik, Kriminalstrategie). Überdies verfügt die Kriminalistik über eine Methodologie (Methodenlehre), wobei Theorie und Methodologie der Kriminalistik nicht voneinander zu trennen sind, da sie einen Allgemeinheitsgrad haben, der es gestattet, ihre Erkenntnisse in allen speziellen Zweigdisziplinen (z.B. Kriminaltechnik) anzuwenden.[28] Die Methodenlehre, die beinhaltet, welche Methoden bei bestimmten kriminalistischen Tätigkeiten (z.B. im Ersten Angriff) Anwendung finden sollten, bildet einen Schwerpunkt bei der Vermittlung kriminalistischer Kompetenzen. Allerdings wird auch das Vorhandensein entsprechender Lehrstühle, im Idealfall mit eigenen Forschungseinrichtungen, als wissenschaftliche Notwendigkeit betrachtet. Es gibt zwar einige Professuren für Kriminalistik an Polizeihochschulen bzw. Polizeiakademien, diesen fehlen aber die notwendigen materiellen und personellen Ressourcen, zudem bleibt neben der Lehre in der Regel kaum Platz für die Forschung.[29] Kriminalistische (eigenständige) Fakultäten bestehen nicht, sie sind nach Feltes[30] zur Klassifizierung einer Disziplin als Wissenschaft aber auch nicht unbedingt erforderlich.[31]

5.2 Fehlerforschung in der Kriminalistik

Tatrichter sollen bei ihren Beratungen zu einem wahren und gerechten Urteil kommen. Dabei hat die „richtige“ Sachverhaltsfeststellung für die Akzeptanz eines Strafurteils eine überragende Bedeutung. Die Öffentlichkeit ist (zu Recht) empört, wenn ein Gericht sich geirrt und einen Unschuldigen verurteilt hat. Für den Tatrichter ist die Bedeutung einer wissenschaftlichen Kriminalistik daher offensichtlich.[32] Aufgabe einer wissenschaftlichen Kriminalistik ist es insofern, einerseits Erfahrungsregeln für die Tatsachenermittlung zu formulieren und andererseits solche Regeln einer kontinuierlichen Überprüfung zu unterziehen. Die Ergebnisse einer solchen Überprüfung (Forschung) müssen danach in einem zweiten Schritt zu einem widerspruchsfreien Lehrgebäude zusammen gefügt werden.[33] Wissenschaft versucht, ihre allgemeinen und hypothetischen Sätze empirisch zu überprüfen, und zwar indem die vorausgesagten (potentiellen) Beobachtungssätze mit dem gegenwärtig bekannten aktualen Beobachtungssätzen verglichen werden. Stimmen die letzteren mit den ersten überein, so war die Voraussage erfolgreich (sie wird dann zu einer erfolgreichen Erklärung) und das Gesetz bzw. die Theorie ist bestätigt bzw. bewährt. Stehen die letzteren mit den ersteren im logischen Widerspruch, so war die Voraussage gescheitert und das Gesetz bzw. die Theorie ist falsifiziert oder im Fall einer bloßen Voraussage zumindest geschwächt“[34]. Es handelt sich hierbei um eine Abwandlung des kritischen Rationalismus, wie er von dem Philosophen Karl Popper theoretisch begründet wurde. Der epistemische Zweifel sowie das Wissen um die Begrenztheit des Wissens und die damit verbundene Selbstbescheidung sind der Kern dessen, was bis heute von ungebrochener Aktualität auch für die Wissenschaftstheorie ist. Die Kant’sche Frage „Was kann ich wissen?“ lässt sich dabei ebenso als sokratische Frage begreifen wie sich der kritische Rationalismus nach Popper als Methode einer konsequent weitergedachten sokratischen Wissenskritik lesen lässt: „Jedes Wissen steht unter dem Vorbehalt seiner (jederzeit möglichen) Entkräftung“[35]. Popper folgend war Falsifizierbarkeit das entscheidende Abgrenzungskriterium, um zwischen Wissenschaft und Spekulation zu unterscheiden.[36] Diesem Ansatz folgend ist die Kriminalistik nur dann eine Wissenschaft, wenn sie die bei der Sachverhaltserforschung vorhandenen Fehlerquellen kontinuierlich erforscht.[37] Das indes setzt die Bereitschaft voraus, anfangs formulierte Hypothesen ständig zu überprüfen, diese ggf. neu zu formulieren oder auch aufzugeben. Wissenschaft ist letztlich die Handlung, die darauf abzielt, die Wahrheit zu entdecken und Beweise dafür zu erbringen, dass die Wahrheit entdeckt wurde. Hierzu stellt Wolman zutreffend fest: „Wissenschaftlicher besitzen kein Monopol auf die Wahrheit. Der Durchschnittsmensch besitzt eine Menge an Wissen, ohne Wissenschaft auszuüben, aber der Hauptunterschied zwischen Wissenschaft und allgemeinen Wissen besteht darin, dass Menschen immer dann Wissenschaftler sind, wenn sie danach streben, unbekannte Fakten zu entdecken und ihre Beobachtungen zu beweisen“[38]. Wissenschaft braucht ökonomische oder moralische Gründe für ihre Existenz. Die ethische Legitimation für die Förderung der Kriminalistik liegt dabei nicht – wie zu vermuten wäre – in der Strafverfolgung, sondern in der Vermeidung von Fehlurteilen. Eine solide Sachverhaltsaufklärung verhindert, dass ein Unschuldiger angeklagt und im schlimmsten Fall verurteilt wird. Die Annahme, dass der Angeklagte durch die Verfahrensordnung der StPO und/oder durch die intensive Wahrnehmung von Verteidigerrechten gegen Fehlurteile geschützt wird, verkennt die Realität. Die StPO kann Fehlurteile generell nicht verhindern. Natürlich gibt es systematische Fehler in allen Phasen des (Straf-)Prozesses von der Ermittlung bis zum Urteil. Fehler von Ermittlern, Strafjuristen und Sachverständigen können dabei nicht nur durch eine Schärfung des Gewissens, sondern insbesondere durch eine bessere Ausbildung vermieden werden. Letztlich wird nur durch eine Verbesserung der Möglichkeiten zur Sachaufklärung die Gefahr von Fehlurteilen reduziert. Zur Vermeidung von Fehlurteilen ist es letztlich dringend geboten, die systematische Erforschung von Methoden zur Sachverhaltserforschung zu fördern.[39] Dies kann und muss die Kriminalistik als Lehre von der Sachverhaltserforschung im Strafrecht leisten. Aufgabe der Fehlerforschung ist es, Regeln für die kriminalistische Sachverhaltserforschung zu entwickeln. Nur wenn solche Standards formuliert sind, können individuelle Fehler reduziert werden. Allerdings können entsprechende kriminalistische Grundsätze nur aufgestellt werden, wenn dazu geeignete Fälle bekannt werden. Die Darstellung von fehlerhaften Verfahren setzt daher eine Kultur voraus, die die Veröffentlichung interessanter Kriminalfälle ermöglicht.[40]

5.3 Kriminalistik als Hilfswissenschaft der Strafverfolgung

Die Kriminalistik wird vereinzelt als „dienende Hilfswissenschaft, insbesondere der Strafverfolgung“[41] bezeichnet. In der Tat ist diese Bezeichnung aus der Perspektive eines Strafjuristen nicht abwegig, zumindest dann, wenn man die Kriminalistik als Disziplin betrachtet, die von Fall zu Fall herangezogen wird, um zu einem wahren Urteil zu kommen. Gegen diese Einordnung der Kriminalistik als „Hilfswissenschaft“ spricht indes, dass die Kriminalistik unabhängig von anderen (etablierten) Wissenschaften eine Vielzahl von Erkenntnissen hervor gebracht hat. So stellt etwa die Daktyloskopie eine eigenständige Entwicklung im Bereich der Kriminalpolizei dar. Auch die Lehre von der Tatortarbeit (Tatortaufnahme, Spurensuche, Verhalten am Tatort usw.) oder die Methoden der Kriminaltechnik sind der Kriminalistik vorbehalten. Letztlich ist der Kernbereich der Kriminalistik von fächerübergreifenden Prinzipien umgeben. Neben der Verknüpfung der Kriminalistik mit anderen Kriminalwissenschaften (Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie) arbeitet sie mit einer Vielzahl anderer forensischer Disziplinen sowie mit weiteren Fach- bzw. Wissensdisziplinen zusammen, die nicht unbedingt forensische Wissenschaften sein müssen.[42] Die Kriminalistik ist vor diesem Hintergrund nicht als „Hilfswissenschaft“ einzuordnen, wenngleich der Strafjurist ohne die Kriminalistik nicht wird auskommen können. So enthält etwa das „Handbuch für den Staatsanwalt“ von Vordermayer/von Heintschel-Heinegg/Schabl in der 6. Aufl. 2019 in drei Kapiteln grundlegende kriminalistische Ausführungen (5. Kapitel: Tatortaufnahme, Spurensuche, Verhalten am Tatort; 6. Kapitel: Kriminaltechnik im Überblick; 7. Kapitel DNA-Analyse als Beweismittel im Strafverfahren). Letztlich würde der Strafprozess ohne die Kriminalistik zurückfallen „in ein vorwissenschaftliches Deuten, das zur Ergründung der Realität des Geschehens nicht dienlich wäre“[43].

5.4 Kriminalistik als Studienfach

Nachdem sich international die Kriminalistik an mehreren europäischen Universitäten etabliert hatte, wurde sie in Deutschland an der Berliner Universität im Jahre 1920 als Lehrfach eingeführt. Seit dieser Zeit hatte sie ihren festen Platz an der späteren Humboldt-Universität zu Berlin. Im Jahre 1968 wurde an der Humboldt-Universität eine eigenständige Sektion Kriminalistik außerhalb der juristischen Fakultät eingerichtet, die im Jahre 1994 in Folge der Einheit Deutschlands aufgelöst wurde.[44] Studiengänge für Kriminalistik sind an der Ruhr-Universität Bochum im Kontext des Masterstudiengangs „Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft“, an der Steinbeis-Hochschule Berlin mit einem eigenen Masterstudiengang „Kriminalistik“ und integrativ auch an den Fachhochschulen der Polizei sowie der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster eingerichtet. In Brandenburg wird die Fachhochschule der Polizei ab Herbst 2020 einen Masterstudiengang Kriminalistik für Bedienstete der eigenen Landespolizei und anderer Polizeien anbieten.[45] Überdies unterhalten die Landeskriminalämter mit ihren „Kriminalistisch-Kriminologischen-Forschungsstellen“ ebenso wie z.B. das „Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen“ separate Forschungseinrichtungen mit eigens zugewiesenen Forschungsmitteln. Allerdings ist ein kritischer Blick auf die „Ausbildung“ des Kriminalisten zu werfen. Im Schwerpunkt wird auf eine sog. Einheitsausbildung gesetzt, d.h. es wird ein Studium absolviert, in dem das erforderliche Basiswissen für alle (polizeilichen) Bereiche (sic.) vermittelt wird. Die Einheitsausbildung erfolgt zwangsläufig auf Kosten kriminalistischer Lehrinhalte. Erfolgreiche Kriminalitätsbekämpfung setzt aber eine fundierte kriminalistisch-kriminologische Aus- und Fortbildung voraus. Eine ähnliche Problematik ergibt sich mit Blick auf die Protagonisten des Hauptverfahrens. Für angehenden Strafjuristen ist die Beweiswürdigung eine berufliche Herausforderung, auf die er letztlich nicht entsprechend vorbereitet wird.[46] Mängel in der universitären Ausbildung führen dazu, dass die später besonderes relevanten Aspekte der Beweiserhebung und Beweiswürdigung allenfalls in groben Zügen vermittelt werden. Mithin ist zu konstatieren, „dass die Aufgabe des rechtswissenschaftlichen Studiums, einen qualifizierten und zu selbstständigen Entscheidungen fähigen Richter, Staatsanwalt oder Verteidiger auszubilden, […] verfehlt wird“[47].  Bereits 1927 votierte Philipp für die „Kriminalistik als Lehr- und Studienfach für Juristen und Kriminalisten“[48]. In der DDR war Kriminalistik – insofern vorbildlich – in die juristische Ausbildung integriert („Kriminalistik als Pflichtfach für Juristen“).[49]

6. Kriminalistik und Strafprozessrecht

Im Straf- bzw. Strafprozessrecht wird die Sachverhaltserforschung weitgehend von der Polizei betrieben, die ihre Ergebnisse der Staatsanwaltschaft zur Entscheidung über den Abschluss der Ermittlungen vorlegt. Die Staatsanwaltschaft übt zwar die Sachleitungsbefugnis aus und leitet formal auch als „Herrin des Verfahrens“ die Ermittlungsarbeit der Polizei. Die Weisungsbefugnis gegenüber der Polizei beschränkt sich in den allermeisten Fällen aber darauf, dass die Staatsanwaltschaft eine eingehende Akte an die Polizei „mit der Bitte um Durchführung der notwendigen Ermittlungen“ herausschickt oder dass sie von der Polizei fertige Ermittlungsakten mit einem „Schlussvermerk“ des polizeilichen Ermittlungsführers hereinbekommt.[50] Aus der Hilfskompetenz der Polizei ist letztlich eine Regelkompetenz geworden. Dies unterstreicht die elementare Rolle der kriminalpolizeilichen Tätigkeit insbesondere im Ermittlungsverfahren. Kritik macht sich aber an der (latenten) Neigung der Praxis zur Rekapitulation des Akteninhalts in der Hauptverhandlung fest, „um die Verurteilungsprognose des Eröffnungsbeschlusses in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu verwandeln“[51]. Von Tatgerichten wird mitunter zu Beginn der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung der (kriminal-)polizeiliche Sachbearbeiter als Zeuge über die Ergebnisse seines Ermittlungsverfahrens vernommen, er fungiert als „(Universal-)Zeuge der Anklage“[52].  Von einem Strafrichter des AG Berlin-Tiergarten stammt etwa folgendes Zitat: „Also […] die Beamten, die da in dieser Spezialeinheit beim LKA sind, das sind super Zeugen. Die wissen ganz genau, worum es geht, und die machen Aussagen, die kann man eins zu eins mitschreiben. Die gehen genau auf die Punkte ein, auf die es ankommt.“[53] Polizeibeamte werden sich regelmäßig durch das Studium von Aktendoppeln auf die Hauptverhandlung vorbereiten. Es handelt sich hierbei nicht nur um ein Recht des beamteten Zeugen, sondern nach allgemeiner Auffassung um eine dienstliche Pflicht.[54] Mitunter wird sich der Beamte – etwa um sich gegen eine Konfliktverteidigung zu wappnen – auf die Hauptverhandlung sehr akribisch vorbereiten, indem er seine Akten, besonders seinen Schlussvermerk, besonders intensiv studiert. Dann aber fließt der Inhalt des Schlussvermerks („ungefiltert“) in die Beweisaufnahme des Gerichts ein.[55] Allerdings wird die polizeiliche Präsentation der Beweislage im Ermittlungs‑ bzw. Vorverfahren als defizitär bezeichnet. Der Kriminalpolizei wird gar attestiert, „dass sie zum Teil ihr Handwerkszeug nicht mehr beherrscht“[56]. Derlei Defizite haben aber als Folge markante Auswirkungen auf das Hauptverfahren. So könnte es vermehrt zu Kompromisslösungen im Vor‑ und Zwischenverfahren kommen, so dass (Personal‑ und Sach-)Beweisen nicht die nötige Achtung geschenkt wird. Ausschlaggebend hierfür sind auch Mängel in der kriminalistischen Ausbildung, die im Ergebnis zwangsläufig zu einer mangelhaften Arbeitsleistung führen können.[57] Vor dem Hintergrund der Prozesspraxis von Urteilsabsprachen („Deal“) wird gar eine degenerative Entwicklung des “reformierten Strafprozesses“[58] konstatiert. Der Deal im Strafrecht wird als Niederlage der Kriminalistik bezeichnet: „Wenn Wahrheit zur Handelsware wird, Tatsachen ‚ausgehandelt‘ und Rechtsfolgen regelmäßig mit dem Angeklagten (bzw. seinem Konfliktverteidiger) abgesprochen werden, dann sind die Ergebnisse der Kriminalistik nur noch Teil dieser Verhandlungsmasse“[59]. Für Strafjuristen ist die Bedeutung der Kriminalistik somit elementar.

7. Kriminalistik und Gefahrenabwehr

Die Kriminalistik reduziert sich keineswegs (nur) auf die Aufdeckung von Straftaten, vielmehr verschreibt sie sich auch der fallbezogenen Vorbeugung von Straftaten.[60] Neue, besonders sozialschädliche Kriminalitätsformen auf den Feldern der Organisierten Kriminalität (OK) sowie Gefahren durch terroristische Anschläge erfordern ein Handeln im Vorfeld des Anfangsverdachts (§ 152 Abs. 2 StPO). Das weite Feld polizeilicher Aktivitäten vor dem eigentlichen strafprozessualen Anfangsverdacht ergänzt die klassische Kriminalistik um den Bereich der Initiativermittlungen. Es wird ein kriminalistischer Handlungsraum ohne direktes Weisungsrecht und ohne Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft eröffnet. Dies führt zu einem erhöhten Abstimmungsbedarf und zu neuen Herausforderungen für die Kriminalistik.

8. Herausforderungen der Kriminalistik

Die Polizei handelt für und mit der Gesellschaft, sie ist mitnichten isoliert von gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern vielmehr Rezipient von Veränderungsprozessen. Unter den Bedingungen der Globalisierung, Flexibilität und Mobilität des Täterverhaltens, die sich vor allem auch in terroristischen Handlungen zeigen, erlangen für die Kriminalistik internationale sicherheitspolitische Aspekte zunehmend an Bedeutung. Hinzukommt eine zunehmende Verschmelzung von analoger und digitaler Welt. Hingewiesen sei exemplarisch auf das sog. Internet der Dinge, welches auch als „Nervensystem der Digitalisierung“[61] beschrieben wird. Der Computer als eigenständiges Gerät geht in den Objekten der physischen Welt auf. Smart Home Technologie zählt neben der künstlichen Intelligenz (KI) zu den Technologien der Zukunft. Neben den legalen Nutzungsmöglichkeiten eröffnen sich auch neuartige Angriffsvektoren für Kriminelle, die durch fachliches Knowhow und technische Ausstattung Schwachstellen und Funktionen für eigene Zwecke ausnutzen, indem sie Daten abgreifen, Zugangshürden überwinden und legale Funktionen zweckentfremden. Diese Herausforderungen gilt es polizeilicherseits in rechtlicher[62], taktischer und technischer Sicht zu meistern. Während etwa bei der (kriminaltechnischen) Spurensuche bei Einbruchsdelikten hauptsächlich auf mechanische Veränderungen fokussiert wurde, werden im Zeitalter der Digitalisierung zukünftig auch Aspekte der IT-Forensik zu berücksichtigen sein.[63] Digitalisierung wird einerseits noch mehr als heute die Kriminalität beeinflussen, andererseits auf der anderen Seite auch für die Polizeiarbeit nutzbar sein. Vor diesem Hintergrund wird es zukünftig v.a. um die Cyberfähigkeit der deutschen Strafverfolgungsbehörden gehen. Letztlich betrifft die digitale Herausforderung das komplette Leistungsspektrum der Polizei. Zu den Defiziten dieser erforderlichen Cyberfähigkeit zählt indes die nicht ausreichende Spezialisierung in diesem Bereich. Es ist erforderlich, geeignete Fachleute für die Bekämpfung von Cyberkriminalität zu gewinnen.

9. Fazit

Die Kriminalistik ist eine anerkannte selbstständige Wissenschaft mit eigenständiger und tradierter Terminologie und Methodik.[64] Einzelnen Auffassungen, die der Kriminalistik den Rang einer eigenständigen Wissenschaftsdisziplin absprechen, kann nicht zugestimmt werden. Wenn in diesem Zusammenhang gar argumentiert wird, dass kein Anlass besteht, „die Kriminalistik wissenschaftstheoretisch zu thematisieren, zumal sie eine ‚höchst praxisbezogene‘ Arbeitsmethodik darstellt“[65], so wird die Notwendigkeit schlicht verkannt. Zu beklagen ist nichtsdestotrotz die fehlende Etablierung der Kriminalistik an den deutschen Hochschulen, sie ist in der wissenschaftlichen universitären Lehre schlicht unterrepräsentiert. Aufgrund fehlender Lehrstühle findet überdies auch keine systematische Theorie und keine Grundlagenforschung statt. Zu fordern ist eine institutionelle Verankerung der Wissenschaft „Kriminalistik“ an einer Hochschule. Hier bietet sich die DHPol an, wenn diese der Kriminalwissenschaft einen eigenen unabhängigen Status erteilt.[66] Zu berücksichtigen ist, dass im Zuge digitaler Omnipräsenz die Ermittlungskompetenzen im repressiven und präventiven Handlungsportfolio neu zu justieren. Im Gegensatz zu „analogen Zeiten“ bestehen heute ganz andere Anforderungen an diejenigen Beamten, die im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung tätig sind. Eine Einheitsausbildung wird etwaige Defizite aber nur schwerlich auffangen können. Es bedarf vielmehr einer spezialisierten (fachspezifischen) Ausrichtung, auch in Form eines Direkteinstiegs („Spezialisten“) in die Kriminalpolizei. Letztlich gilt nach wie vor: „Kriminalistik unterliegt einem ständigen, sich gerade in den technischen Bereichen sogar beschleunigenden Wandel. Es gibt inzwischen niemanden mehr, der alle angewandten kriminalistischen Methoden kennen oder gar beherrschen würde.[67]Erforderlich sind überdies Lehrstühle, im Idealfall mit eigenen Forschungseinrichtungen. Die Ruhr-Universität Bochum scheint mit ihrem Kriminalistik-Schwerpunkt derzeit die erfolgversprechendste Option und gedanklich am weitesten zu sein. Zu erwägen ist die Einrichtung eines Lehrstuhls für Kriminalistik, als Nachfolge der Humboldt-Universität (Berlin).

10. Literatur

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Philipp, Lothar Kriminalistische Denklehre, Berlin 1927
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Christoph Keller ist Abteilungsleiter des Studienortes Münster der HSPV NRW


[2] Vgl. Geerds (1980), S. 19 ff.

[3] Zur Beseitigung der Folter als wichtiges Element aus dem faktischen System des Inquisitionsprozesses Vormbaum (2011), S. 27 ff.

[4] Vgl. Wirth (2013), S. 315 („Jagemann“).

[5] Zum Begriff „Gesamte Strafrechtswissenschaft“ Plank (2017), S. 27 ff.

[6] Vgl. Neuhaus/Artkämper (2014), Rn. 5.

[7] Vgl. Kunz/Singelnstein (2016), § 1 Rn. 3.

[8] Vgl. Neuhaus/Artkämper (2014), § 1 Rn. 5.

[9] Vgl. Füllgrabe (2000), 17.

[10] Vgl. Kube/Schreiber, in: Kube/Störzer/Timm (1992), Kap. 1 Rn. 7.

[11] Vgl. Weihmann/de Vries (2014), S. 11.

[12] Vgl. Berthel/Lapp (2017), S. 11.

[13] Nachweise bei Nisse, in: FS f. Wirth (2018), S. 16, dort. Fn. 6.

[14] Vgl. Clages, in: Clages/Ackermann (2019), S. 5.

[15]  Zur Unschärfe des Terminus’ „Forensik“ vgl. Englert (2014), S. 52 ff.

[16] Ein häufiges Beispiel „klassischer“ Forensik sind DNA-Analysen für Abstammungsgutachten in Vaterschaftsprozessen vor den Zivilgerichten, vgl. Heinson (2015), S. 20.

[17] Vgl. Nisse, in: FS f. Wirth (2018), S. 16.

[18] Vgl. Nisse, in: Lange (2006), S. 155.

[19] Vgl. Kube/Schreiber, in: Kube/Störzer/Timm (1992), Kap. 1 Rn. 3.

[20] Grundlegend Berthel/Lapp (2017), S. 11 ff.

[21] Vgl. Brodag (1995), S. 22.

[22] Allgemein zum Gegenstand der Polizeiwissenschaft Mokros (2015), S. 18 ff.

[23] Vgl. Ackermann/Clages/Roll (2019), S. 8.

[24] Vgl. Ackermann et al. (2000), 595 (596).

[25] Vgl. Ackermann, in: FS f. Wirth (2018), S. 35.

[26] Vgl. Ackermann/Clages/Roll (2019), S. 8; Roll, in: FS f. Wirth (2018), S. 335 ff.

[27] Ackermann/Clages/Roll (2019), S. 10.

[28] Vgl. Ackermann/Clages/Roll (2019), S. 12.

[29] Vgl. Schulz (2019), 69.

[30] Vgl. Feltes (2015), S. 6.

[31] Vgl. Capellmann (2018), 374 (376).

[32] Vgl. de Vries (2014), 134.

[33] Vgl. de Vries (2014), 134.

[34] de Vries (2008), 213 (215).

[35] Linder (2019), 279 (280).

[36] Vgl. Popper (1935), S. 67 ff.

[37] Vgl. de Vries (2015), S. 253.

[38] Wolman (1965), S. 3.

[39] Vgl. de Vries (2008), 213 (217).

[40] Vgl. de Vries (2014), 134.

[41] Kunz/Singelnstein (2016), § 1 Rn. 3.

[42] Vgl. Ackermann, in: FS f. Wirth (2018), S. 45.

[43] Mergen, in: Kube/Störzer/Brugger (1983), S. 23.

[44] Ausführlich Leonhardt/Schurich (2015), S. 55 ff.

[45] LT-Drs. 6/8069, vgl. dazu Berthel (2019), S. 227 ff.

[46] Vgl. de Vries (2008), 213 (215)

[47] Neuhaus, in: Brüssow/Gatzweiler/Krekeler/Mehle (2007), § 29 Rn. 11. Zu den Mängeln in der Juristenausbildung Eschelbach, in: FS f. Eisenberg, S. 413

[48] Philipp (1927), S. 9

[49] Vgl. Forker/Schurich (2015), S. 165 ff.

[50] Vgl. Fischer (2018), S. 116.

[51] Eschelbach, in: FS f. Eisenberg (2019), S. 409.

[52] Schmidt (2014), 121.

[53] Kaufmann (2019), o.S.; ausführlich Hof, HRRS 2019, 277 (283).

[54] Vgl. Artkämper/Jakobs (2019), Rn. 228. Allerdings sollte diese Vorbereitung nicht so aussehen, dass der Beamte die von ihm erwarteten Angaben – regelmäßig die Wiedergabe einer Vernehmung – quasi auswendig lernt, was ihn eher unglaubwürdig macht und die Brauchbarkeit seiner Aussage schmälert.

[55] Vgl. Eschelbach, in: FS f. Eisenberg (2019), S. 410: „Es ist bemerkenswert, dass diese Praxis einerseits verbreitet vorkommt, andererseits bisher kaum Eingang in Kommentare der Strafprozessordnung gefunden hat.“

[56] Schulz (2019), 67.

[57] Vgl. Schulz (2019), 67.

[58] Greco (2016), 1 (6).

[59] de Vries (2008), 213 (217).

[60] Vgl. Kniesel (2017), 189 (191).

[61] Hoch (2019), 635.

[62] Aus technischer Perspektive können etwa smarte Haushaltsgeräte zu einer sehr weitgehenden Überwachung der Bürgerinnen und Bürger auch in ihrer häuslichen Sphäre eingesetzt werden. Rechtlich ist dies zur Strafverfolgung aber nicht zulässig. Dafür fehlt es schon an einer geeigneten einfachgesetzlichen Grundlage in der StPO, um einen solchen schwerwiegenden Grundrechtseingriff zu rechtfertigen, vgl. Rüscher (2018), 687 (692).

[63] Vgl. Tecklenborg/Stupperich (2018), 203 ff.

[64] Vgl. Ackermann, in: FS f. Wirth (2018), S. 36.

[65] Kube/Schreiber, in: Kube/Störzer/Timm (1992), Kap. 1 Rn. 9.

[66] Vgl. Ackermann, in: FS f. Wirth (2018), S. 49.

[67] Kube/Störzer/Timm (1992), S. V.