Musterklausur Sexuelle Gewalt gegen Kinder

von Prof. Karoline H. Starkgraff, Professur für Strafrecht, Akademie der Polizei Hamburg

Musterklausur zum Download (PDF).

1. Einführung

Allgemeine Hinweise

Es handelt sich um eine Klausur für Fortgeschrittene, die das Schwerpunktthema dieses Heftes, sexuelle Gewalt gegen Kinder, aufgreift. Sie eignet sich für die Lernkontrolle und die Prüfungsvorbereitung im Hauptstudium, z.B. in den Wahl- und Pflichtmodulen „Gewaltdelikte“, „Sexualdelikte“ und „Straftaten gegen Kinder und besonders schutzbedürftige Erwachsene“. Zu beachten ist, dass solide Grundkenntnisse des Strafrechts und des Strafprozessrechts erwartet werden. Teilweise bildet die Befassung mit einer aktuellen Gesetzesänderung nur den Anlass, Kenntnisse der „Klassiker“ abzufragen.

Die empfohlene Bearbeitungszeit beträgt 150 Minuten. Als Hilfsmittel sind zugelassen: unkommentierte Gesetzestexte der Bundesrepublik Deutschland mit aktuellem Gesetzesstand. Dieser Aufgabenstellung liegt der Gesetzesstand nach dem 1. Juli 2021 zugrunde.

Was sollten Sie können?

Sie sollten mit den Vorschriften des StGB Allgemeinen Teils (AT) vertraut sein, darunter auch mit den §§ 30 f. StGB. Aus dem StGB BT sind die §§ 176 ff. StGB und 184 ff. StGB relevant. Die strafprozessualen Aufgaben betreffen einerseits das Haftrecht, andererseits verdeckte Ermittlungen.

2. Aufgabenstellung

Thema 1 – Der sadistische Chat mit einem Unbekannten[i] (40 %)

Sachverhalt 1

Bruno (B) chattet unter Verwendung ständig wechselnder Pseudonyme (nicknames) in kinderpornografischen, sadistisch-gewaltbereiten und pädophilen geschlossenen Foren im Internet. Den Ermittlungsbehörden wird sein Chatverlauf mit einem (vermutlich niederländischen) Chatpartner, der sich Kees (K) nennt, bekannt. K kann im Zuge der Ermittlungen nicht identifiziert werden.

B und K sind sich einig, dass ein gewaltsam erzwungener Geschlechtsverkehr mit einem „möglichst blonden, achtjährigen Jungen“ das Ziel ihrer Wünsche ist. Im Laufe mehrerer Treffen im Chat werden sexuell motivierte, eindeutig sadistische, schwere Gewalttaten an dem potentiellen Opfer beschrieben: unter anderem Oral- und Analverkehr und Verletzung der Hoden. Die von beiden Chatpartnern im Dialog entwickelten Tathandlungen sind sehr extrem. Es besteht aber keine biologische Unmöglichkeit. Letztlich soll das Kind während eines sexuellen Missbrauchs (Vergewaltigung), der gleichzeitig durch beide Täter erfolgen soll, sterben. Die Leiche soll im Meer entsorgt werden. Beide Chatpartner versichern sich gegenseitig mehrmals, „dass sie es ernst meinen“.

Die Tat soll möglichst dort stattfinden, wo ein Kind allein auf dem Schulweg gewaltsam aufgegriffen werden kann. Im Gespräch ist Mecklenburg-Vorpommern. B sagt zu, eine Ferienwohnung anzumieten, sobald man sich auf einen Termin verständigt hätte. Zu Letzterem kommt es nicht, weil K sich (jedenfalls als Kees) nicht mehr im Chat einloggt. B hat keine Möglichkeit, K auf anderen Kommunikationswegen zu erreichen.

Die Auswertung weiterer Datenträger ergibt, dass B in zeitlicher Übereinstimmung mit dem Chat online-Recherchen darüber angestellt hat, „wieweit [diverse Grundschulen in Mecklenburg-Vorpommern] von örtlichen Polizeirevieren entfernt“ waren. In seiner Vernehmung bestreitet B, dass das Chatgeschehen Realität werden sollte. Es habe sich um eskalierende Phantasien gehandelt, die ihn erregt hätten. Eine Realisierung sei seinerseits nie vorgesehen gewesen.

Aufgabe 1

Prüfen Sie gutachterlich, ob und ggf. wie sich B strafbar gemacht haben könnte. Die Prüfung ist auf die Delikte des Totschlags (§ 212 StGB) und des schweren sexuellen Kindesmissbrauchs mit Todesfolge (§ 176d StGB) und auf § 30 Abs. 2 Var. 3 StGB zu beschränken. § 31 StGB ist nicht zu prüfen. Nehmen Sie (im Rahmen der genannten Einschränkungen) zu allen aufgeworfenen Rechtsfragen Stellung, ggf. auch in einem Hilfsgutachten.

Thema 2 – Die Anregung eines Haftbefehls (40 %)

Sachverhalt 2

Hugo (H) ist durch die Berichterstattung über Großverfahren gegen „Kinderschänder“ beunruhigt. Denn er hat selbst im Sommer 2020 einen schweren sexuellen Missbrauch an einer Sechsjährigen begangen. H berät sich mit einem Strafverteidiger, der zur Selbstanzeige rät. In Begleitung seines Verteidigers sucht H nach Terminvereinbarung die Spezialdienststelle des LKA auf und legt, ordnungsgemäß belehrt, ein Geständnis ab.

H gibt in seiner Vernehmung an:

„Einmal bin ich der Versuchung erlegen. Die kleine Nadja war bei uns und hat im Gartenpool gebadet. Beim Abtrocknen im Bad habe ich dem nackten Kind zwischen die Beine gefasst. Dort habe ich es gestreichelt, erst mit dem Handtuch, dann ohne. Ich bin auch mit dem Finger in die Scheide eingedrungen. Ja, mehrmals und auch so tief, wie es ging. Die Kleine hat stillgehalten und sich streicheln lassen. Das ganze Geschehen hat vielleicht zehn Minuten gedauert und hat mich etwas sexuell erregt. Aber der Lustgewinn war nichts gegen die Scham und die Angst vor Entdeckung. Nadja hatte sicher gemerkt, dass das nicht in Ordnung war. Wir haben nicht darüber gesprochen. Ich habe ihr auch nicht gesagt, dass sie nichts sagen darf. Die Berührungen sind völlig ausgeblendet worden zwischen uns. Ich habe Nadja ein großes Eis spendiert und danach versucht, den Kontakt zu ihr zu vermeiden. Natürlich hatte ich vom ersten Tag Angst, dass das Mädchen etwas erzählt.“

Aufgrund dieses glaubwürdigen Geständnisses verzichtet die Staatsanwaltschaft auf eine Vernehmung des Kindes. Nadjas Eltern bestätigen, dass das Kind nichts erzählt hat und keine Verhaltensauffälligkeiten zeigt.

H brachte seinen Laptop und sein Smartphone mit zur Vernehmung, nannte alle Passwörter und war mit der Sicherstellung und Auswertung aller Dateien einverstanden. Weder die Auswertung der Speichermedien noch eine nachfolgende Wohnungsdurchsuchung führten zu weiterem Beweismaterial. H ist 68 Jahre alt, Rentner und seit 40 Jahren verheiratet. Das Ehepaar lebt zusammen und ist kinderlos. Der Ehefrau ist das Ermittlungsverfahren bekannt. Sie macht von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch.

KHK K möchte einen Haftbefehl gegen H anregen, weil dies seit Sommer 2021 leichter möglich sei.

Aufgabe 2

Prüfen Sie gutachterlich, ob die Anregung eines Haftbefehls bei der Staatsanwaltschaft Aussicht auf Erfolg hat. Die Prüfung ist auf die materiell-rechtlichen Voraussetzungen eines Haftbefehls gemäß § 112 StPO zu beschränken. Die Prüfung der Aussetzung eines Haftbefehls gemäß §§ 116 ff. StPO ist erlassen.

Thema 3 – Die sog. „Keuschheitsprobe“ (20 %)

Fragestellungen zu Thema 3

Kinderpornografisches Material wird in großem Umfang im Internet verbreitet. Der Zugang zu Foren und Chatrooms ist in der Regel zugangsbeschränkt. Um den Strafverfolgungsbehörden Zutrittsmöglichkeiten zu verschaffen, wurden gesetzliche Regelungen zum Bestehen einer sog. „Keuschheitsprobe“ eingeführt.

3a) Erläutern Sie den Begriff der „Keuschheitsprobe“ in kriminalistischer Hinsicht.

3b) Nennen und erläutern Sie die Regelungen, die seit 2020 eingeführt wurden, im Überblick. Zitieren Sie einschlägige Normen dabei ausführlich.


[i] Dem Sachverhalt liegt ein Fall zugrunde, mit dem das Landgericht Kiel, Schwurgerichtskammer, tatrichterlich und der BGH als Revisionsinstanz befasst waren. Alle wörtlichen Zitate sind dem Revisionsbeschluss entnommen. Die Fundstellenangabe sowie Erläuterungen, inwieweit von der Vorlage aus klausurtaktischen Gründen abgewichen wurde, sind unten bei den Lösungshinweisen angegeben.