Eine weitere unendliche Geschichte – Distanzwaffen für die Polizei

von Bernd Walter, Präsident eines Grenzschutzpräsidiums a.D., Berlin

Die Vorkommnisse beim Polizeieinsatz in Hamburg aus Anlass des G-20-Gipfels im Jahr 2017 werden noch lange Politik und Wissenschaft sowie die Fachliteratur, aber auch Polizeiführung und Polizeipraxis beschäftigen. Recht schnell kristallisierte sich heraus, dass neben den Defiziten in der Einsatzplanung und Einsatzbewältigung und bei der Einschätzung der importierten Gewalt die Frage eine Rolle spielen wird, ob die Polizeien in Hinblick auf Ausnahmesituationen Lage angemessen gegliedert, ausgebildet und ausgerüstet sind. Dabei wird der Umstand, wie sich Einsatzkräfte gegen Angriffe auf Wurfdistanz wehren können, bei denen Gewalttäter Wurfgeschosse, Präzisionszwillen und Pyrotechnik einsetzen oder von Dächern operieren, eine entscheidende Rolle spielen.

Die bisherigen Einsatzmittel wie Schlagstock, Reizstoffsprühgeräte, Pfefferspray und selbst Wasserwerfer der neuen Generation scheinen dies nicht leisten zu können. So konnte es nicht wunder nehmen, dass nach den gewalttätigen Ausschreitungen in der Hansestadt der Ruf nach einer geeigneten Distanzwaffe für die Polizeien wieder lauter wurde, zumal bekannt wurde, dass das SEK Sachsen beim Einsatz am Schulterblatt fünfzehn Mal Gummigeschosse eingesetzt hatte. Als Abschussgerät wurde die Mehrzweckpistole MZP 1 benutzt, aus der auch Tränengas, Blendgranaten und Leuchtmunition verschossen werden können. Bei der Herstellerfirma Heckler & Koch wird das Einsatzmittel als Granatpistole HK 69 geführt. Auch wenn die Polizeiführung den Einsatz von Schusswaffen nicht freigegeben hatte, schien diese Restriktion nicht für SEK-Einheiten gegolten zu haben. Auf Nachfragen von Parlamentariern wurde verlautbart, dass die Gummigeschosse nur gegen Sachen eingesetzt wurden.

Insbesondere die Diskussion in den Medien – die Stuttgarter Zeitung titelte in ihrer Manöverkritik vom 10.7.2017 „Mangel an Polizisten und Distanzwaffen“ – befeuerte erneut die Diskussion um die Einführung einer geeigneten polizeilichen Distanzwaffe, die bereits in den 80er-Jahren aus Anlass der damaligen unfriedlichen demonstrativen Aktionen Gegenstand von Erörterungen in der Innenministerkonferenz war. Gesucht wurde damals ein geeignetes Einsatzmittel für die Lücke zwischen dem Einsatz von Schusswaffen und ohnmächtigem Abwarten. In der Gegenwart wird die Diskussion um Einsatzmittel, die einen Angreifer kampfunfähig machen oder von weiteren Angriffen abhalten sollen, unter dem Rubrum „Nicht-letale Wirkmittel“ (engl. non lethal weapon) geführt, wobei sich Befürworter und Gegner harte verbale Schlagabtausche liefern. Heute firmieren unter diesem Einsatztyp auch exotische Ausfertigungen von Einsatzmitteln wie Druckluftkanonen, Mikrowellengewehre, Irritationsgranaten, Infraschallkanonen, schnellhärtende Schäume oder Elektrodistanzgeräte (Taser).

In Deutschland brachte in der Vergangenheit die Innenministerkonferenz mit Beschluss vom 13.6.1984 die Entwicklung einer Polizei-Distanzwaffe auf dem Weg. Das Vorhaben war ambitiös. Es sollte ein Einsatzmittel aus weichem Material geschaffen werden, das einerseits den Schutz des Beamen verbessert, andererseits dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen und die Erfüllung des polizeilichen Auftrages sicherstellen sollte. Den Zuschlag des 2,2 Millionen teuren Projektes, an dem sich das Land Hamburg nicht beteiligte, erhielt der Rüstungskonzern Messerschmitt-Bölkow-Blohm in München. Dieser entwickelte zunächst einen Wirkkörperwerfer, der mit Gasdruck betrieben wurde, dann ein weiteres Modell, das per integriertem Antrieb einen Wirkkörper mit einer Wirkungsreichweite von 60 Metern verschoss. Als Material wurde Gummi verwendet. Weiterhin wurden kompatible Gummischrotwirkkörper und Reizstoffwirkkörper entwickelt. Doch nach einem Gutachten der damaligen Polizei-Führungsakademie, in dem erhebliche Verletzungsgefahren dargetan wurden, trat schnell Ernüchterung ein, obgleich die taktischen Erwartungen erfüllt wurden. Die eigentlichen Ursachen für das Fehlschlagen des Vorhabens lagern allerdings in der Tatsache, dass sich Physik und Mechanik nicht überlisten lassen. Beim Abschuss mit Gasdruck ließ die Wirkung bei einer Einsatzentfernung von 60 Metern so stark nach, dass von einem „fliegenden Boxhieb“ nicht mehr die Rede sein konnte, denn Geschwindigkeit und damit die Wucht des Auftreffens nehmen mit zunehmender Entfernung ab. Andererseits durfte die Auftreffenergie nicht so hoch sein, dass der Wirkköper den Angreifer ernsthaft verletzt. Als man sich dann zu einem Wirkkörper mit integriertem Antrieb – sozusagen eine Cruise Missile für Fußgänger – entschloss, war die Antriebsenergie bei kürzeren Entfernungen unter 60 Metern so stark, dass die Wirkungen auf den menschlichen Körper unkalkulierbar wurden. Letztendlich wurde 1991 sang- und klanglos von dem Unternehmen Abschied genommen. Die Einsatzprobleme allerdings blieben nicht nur beim Alten, sondern verschärften sich, denn den reisenden Gewalttätern von Wackersdorf, Brokdorf und an der Startbahn West wurden die Wehrlosigkeit der deutschen Polizeien und die Zögerlichkeit der Politik zur Einführung verschärfender Maßnahmen schnell bewusst.

Nach einer Erhebung der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages verfügen zurzeit national nur die SEK der Länder Sachsen und Hessen über Gummimunition. Hessen verfügt über Geschosse der Kaliber 12, 40 und 68 Millimeter, Sachsen hat 169 Granatpistolen im Bestand. Bei allen anderen Landespolizeien und den beiden Bundespolizeien wurde bei Anfrage Fehlanzeige gemeldet. Interessant ist jedoch das Faktum, dass die Bundeswehr 35.000 Kunststoffpatronen im Bestand hat, die sie bei gewalttätigen Ausschreitungen bei Auslandseinsätzen und zum Selbstschutz der Einsatzkräfte in der sogenannten Crowd and Riot Control einsetzt. Europaweit setzen Estland, Lettland, Litauen, Luxemburg , Griechenland, die Türkei, die Schweiz, Ungarn, Kroatien, die Slowakei, die Niederlande, Portugal, Tschechien und Frankreich Gummimunition ein. Die Schweiz benutzt Gummigeschosse sogar bei Krawallen aus Anlass von Fußballspielen, wobei die kantonalen Polizeien in eigener Zuständigkeit über den Einsatz entscheiden können. Lettland setzt neben Gummimunition auch mit Gummischrot gefüllte Handgranaten ein.

Die Befürworter und Gegner derartiger Distanzwaffen positionieren sich mit unterschiedlichen Argumenten. Während die Deutsche Polizeigewerkschaft bereits 2008 aus Anlass der Ausschreitungen in Rostock im Zusammenhang mit dem damaligen G-8-Gipfel die Einführung von Gummiwucht- und Gummischrotgeschossen forderte und insbesondere auf die Schutzlosigkeit der Polizisten bei Attacken auf Wurfentfernung und die abschreckende Wirkung von Distanzwaffen hinwies, ist die Gewerkschaft der Polizei dagegen und fordert weitere Forschungsarbeit. Sie verweist auf die unkalkulierbaren Folgen eines derartigen Einsatzes und auf die Tatsache, dass im europäischen Ausland mehrere Menschen durch Gummigeschosse ums Leben kamen oder schwer verletzt wurden. Auch sei eine Einwirkung auf Unbeteiligte nicht ausgeschlossen. Der weiteren Argumentation, dass es nicht Aufgabe der Polizei ist, Angreifer auf Distanz zu halten, sondern Gewalttäter der Strafverfolgung zuzuführen, fehlt allerdings bei der verhältnismäßig geringen Zahl von Strafverfahren im Zusammenhang mit gewalttätigen Demonstrationen von wenig die Bodenhaftung. So musste die Hamburger Polizei nach dem Einsatzdebakel unter Rückgriff auf Bildmaterial privater Beobachter und der Medien im Anschluss an den Einsatz eine europaweite Öffentlichkeitsfahndung einleiten, um die Strafverfolgungsbilanz aufzubessern.

Ansonsten geht die Trennungslinie zwischen Kritikern und Befürwortern quer durch alle Parteien. Den Kritikern kommt der psychologische Umstand zu Gute, dass Gummigeschosse insbesondere in bürgerkriegsähnlichen Situationen eingesetzt wurden. So im Nordirlandkonflikt in den sechziger Jahren und im israelisch-palästinensischen Konflikt seit der ersten Intifada im Jahre 1988. Dies hat auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International zu durchweg ablehnenden Stellungnahmen veranlasst.
Den deutschen Polizeien bleibt der fatale Umstand nicht erspart, dass unverändert zwischen dem Schusswaffengebrauch und dem Einsatz von Schlagstock oder Pfefferspray eine Schutzlücke klafft, für deren Schließung durch eine generelle Einführung von Gummimunition kein durchgreifender politischer Wille vorhanden ist. Angesichts der Folgen des Wasserwerfereinsatzes im Stuttgarter Schlossgarten am 30.9.2010, bei der ein Demonstrant sein Augenlicht verlor, und angesichts des nachfolgenden Medienrummels sind kaum verschärfende Maßnahmen zu erwarten. Den Einsatzkräften wäre allerdings schon gedient, wenn Initiativen bekannt werden würden, dass man sich weiterhin mit dem Problem der Distanzwaffen beschäftigt, denn eine Abnahme der Gewalthandlungen bei den einschlägigen polizeilichen Anlässen ist nicht zu erwarten. Eher das Gegenteil ist der Fall. Immerhin wurden aus den USA Versuche mit Wirkkörpern bekannt, die über Mikrosensoren gesteuert werden, die selbst auf 100 Metern ein Eindringen in den Körper verhindern und bei Auftreffen eine Schockwelle und damit Angriffsunfähigkeit auslösen.