Häusliche Gewalt in Familien mit Kindern
von Rainer Becker, Polizeidirektor a. D., Berlin[i]
1. Einleitung
In rund jedem zweiten Fall von Häuslicher Gewalt gehören Kinder, die die Gewalt miterleben, zum Haushalt. Laut einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes Niedersachsen (KFN)[ii] aus dem Jahr 2017 gibt es bei 28,6 Prozent der Tötungsdelikte gegen Kinder Zusammenhänge mit einer Trennung/Scheidung der Erziehungspersonen. Eine eigene Untersuchung des Verfassers[iii] kam im Jahr 2013 zu einem vergleichbaren Ergebnis. Laut o.a. Untersuchung des KFN lag bei 50 Prozent der Täter wie auch Täterinnen zum Tatzeitpunkt eine psychische Erkrankung vor[iv].
Handlungsmöglichkeiten/Maßnahmen
Nach Gefahren ermittelnden Befragungen bei den Beteiligten und vermittelnden Gesprächen wird eine Befriedung der familiären Situation ohne weitere Eingriffsmaßnahmen versucht. Nicht selten kommt es zum Zweck der Gefahrenabwehr zu einer sogenannten Wegweisungsverfügung in Verbindung mit dem Aussprechen eines Betretungsverbotes, um den in der Wohnung verbliebenen Betroffenen erst einmal Zeit zu verschaffen, sich zu sammeln, Rat einzuholen und gerichtliche Maßnahmen nach dem Gewaltschutzgesetz zu beantragen. Reicht die Wegweisung nicht aus, kann die weggewiesene Person vorläufig in Gewahrsam genommen werden, um die Wegweisung durchzusetzen. Dies sind mittlerweile, ebenso wie die sogenannte Gefährderansprache, polizeiliche Standardmaßnahmen geworden.
2. Besonderheiten
Bei Häuslicher Gewalt, und insbesondere wenn Kinder zum Haushalt gehören, gilt es, sich eine Menge Schnittstellen bewusst zu machen, die nicht zuletzt für die Zusammenarbeit mit anderen Stellen von Bedeutung sein können.
Leben Kinder in einem Haushalt, in dem sie Gewalt gegen eine Erziehungsperson oder der Erziehungspersonen untereinander wahrnehmen, oder wenn sie gar selber (auch) von der Gewalt mitbetroffen sind, liegt selbstverständlich eine beträchtliche Kindeswohlgefährdung vor, die erhebliche Auswirkungen auf sie und ihre weitere Entwicklung haben kann. Aus diesem Grunde ist obligatorisch das hierfür zuständige Jugendamt darüber zu informieren. In einigen Polizeien ist laut Dienstanweisung, Erlass pp. lediglich eine Information des Jugendamtes bei Antreffen von Kindern in der Wohnung vorgesehen. Der Verfasser warnt jedoch ausdrücklich davor, die Mitteilung nur auf anwesende Kinder zu reduzieren.
Bekanntermaßen handelt es sich bei angezeigter/festgestellter Häuslicher Gewalt in aller Regel um eine einzelne Wahrnehmung, die nun polizeilich bekannt geworden ist, zu der jedoch etliche weitere – nur noch nicht bekannt gewordene – Vorfälle gehören dürften, und die daher trotzdem von den Kindern zu einem anderen Zeitpunkt mindestens wahrgenommen worden sein dürften. Aus diesem Grunde sollte dem Jugendamt in allen Fällen, in denen Kinder zu einem Haushalt gehören, in dem es zu Häuslicher Gewalt gekommen ist, eine Mitteilung hierüber gemacht werden, damit es dann eigenständig weiter Gefahren ermittelnd tätig werden kann. Nicht zu vergessen ist, dass in allen Fällen Häuslicher Gewalt ein Melderegisterabgleich bezüglich aller zum Haushalt gehörenden Personen vorgenommen werden sollte.
Nicht selten werden in den Haushalten, in denen es zu Häuslicher Gewalt kam, Alkohol oder andere Suchtmittel einschließlich Medikamenten missbraucht. Dies kann die im Haushalt lebenden Kinder zum Teil erheblich mitgefährden, sei es, dass sie selber die Substanzen missbrauchen, sei es, dass der oder die Täter unter ihrem Einfluss unberechenbar agieren und aggressiv gegen die Kinder werden; und sei es auch nur, dass der oder die Täter sich in der Zeit des Rausches oft nicht oder nicht angemessen mit ihnen befassen können.
Darüber hinaus sei an dieser Stelle daran erinnert, dass im Zusammenhang mit Tötungsdelikten zum Nachteil von Kindern festgestellt wurde, dass rund 50 Prozent der Täter und Täterinnen zum Tatzeitpunkt psychisch erkrankt waren. Dies bedeutet im Umkehrschluss, bei Hinweisen auf psychische Erkrankungen immer in Betracht zu ziehen, dass die erkrankte Person u. U. und selbst wenn es sich um das Gewaltopfer handeln sollte, gefährlich für die zum Haushalt gehörenden Kinder werden könnte.
Des Öfteren verschaffen sich Gefährder nach Wegweisung und Betretungsverbot beim örtlichen Familiengereicht einen umgangsrechtlichen Titel, um tatsächlich oder scheinbar den Umgang mit ihren Kindern wahrzunehmen – aber auch, um weiter Kontrolle über die von seiner Gewalt Betroffenen auszuüben und die Kinder, die ja Zeugen der eigenen Gewalthandlungen gewesen sein könnten, zu beeinflussen.
Und schließlich gibt es auch gebildetere Tatverdächtige, die das Jugendamt und Familiengericht durch eine Reihe von Anträgen manipulativ dazu bewegen, gegen die ursprünglich Betroffenen mindestens Gefahren ermittelnd tätig zu werden, z.B. indem sie durchaus glaubhaft Kindeswohlgefährdungen durch die andere Partei behaupten und die Betroffenen so empfindlich und nachhaltig stalken[v]. Hinweise hierauf sollten ggf. in der Anzeige oder dem Bericht vermerkt werden.
Und ein betroffenes Kind sollte nie alleine in der Obhut des Täters gelassen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Opfer z.B. aufgrund von Verletzungen oder eigener Alkoholisierung in eine Klinik eingewiesen werden muss. D.h., dass die betroffenen Kinder in diesen Fällen in Gewahrsam zu nehmen sind, sofern sie das Jugendamt nicht selber vor Ort in Obhut nimmt.
3. Maßnahmen, die zu treffen sind, müssen getroffen werden
Eine Untersuchung im Land Mecklenburg-Vorpommern[vi] ergab, dass bei Anwesenheit von Kindern einerseits häufiger (14,5 Prozent) weggewiesen wurde, andererseits die Täter deutlich weniger (11,1 Prozent von sonst 20,1 Prozent) in Gewahrsam genommen wurden. Dies bedeutet, dass entweder in Fällen ohne anwesende Kinder ohne angemessenen Grund zu häufig in Gewahrsam genommen wurde oder aber, dass die Beamten bei anwesenden Kindern – warum auch immer – ihr Ermessen unterschritten haben.
Bei Anwesenheit von Kindern wurden und werden Maßnahmen anscheinend angepasster und erheblich sensibler getroffen, was jedoch nicht dazu führen darf, dass gebotene Maßnahmen unterbleiben. Einsätze in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt sollten zugleich immer auch als Präventionsaufgabe wahrgenommen und behandelt werden. Kinder sind trotz oder gerade wegen des Einsatzanlasses ernst zu nehmen und zu beruhigen. Denn nicht selten werden Kinder, wenn sie allenfalls als möglicher Zeuge in Betracht kommen und nicht selber aufgrund eigener Verletzungsspuren von der Gewalt betroffen zu sein scheinen, „übersehen“, vergleiche hierzu den Bericht zum KIRAS-Projekt des Zentrums für Sozialforschung und Wissenschaftsdidaktik in Wien.[vii]
Bei Alkohol- oder anderen Suchtproblemen der Täter, aber auch ihrer Opfer, und auch bei Hinweisen auf psychische Erkrankungen ist obligatorisch der sozialpsychiatrische Dienst des örtlich zuständigen Gesundheitsamtes über den Sachverhalt in Kenntnis zu setzen. Bei erkanntem Erfordernis sollten Hinweise und ggf. die Anregung von Auflagen zur Aufnahme einer Therapie an die Staatsanwaltschaft und das zuständige Gericht mit in die Anzeige oder zu fertigende Zusatzberichte aufgenommen werden.
Eine weitere Untersuchung in Mecklenburg-Vorpommern[viii] ergab, dass mindestens der Täter in durchschnittlich jedem zweiten Sachverhalt alkoholisiert war. Bei den unter Alkoholeinfluss stehenden Tätern wurde eine durchschnittliche Atemalkoholkonzentration (AAK) von 1,89 Promille festgestellt. In rund der Hälfte der Fälle betrug der AAK-Wert sogar mehr als zwei Promille, so dass bei der trotzdem im Sachverhalt festgestellten Handlungsfähigkeit von einer Suchterkrankung ausgegangen werden muss. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass die Gefährlichkeit der Angriffe und deren Folgen mit zunehmendem Alkoholisierungsgrad der Täter zunahmen. Dabei waren in durchschnittlich jedem zweiten Sachverhalt Kinder vor Ort angetroffen worden.
Hinweise auf einen Missbrauch des Umgangsrechts durch weggewiesene Personen oder sonstige eilbedürftige Informationen, wie Anhaltspunkte für einen erweiterten Suizid pp., sollten unverzüglich dem örtlich zuständigen Familiengericht beschrieben und mitgeteilt werden. Die Möglichkeit einer Gewalt-Eskalation bis hin zu einem erweiterten Suizid ist immer in Betracht zu ziehen. Geäußerte Drohungen sind stets ernst zu nehmen. So kommen Heynen und Zahradnik in einer Studie[ix] zu dem Ergebnis, dass „das Tötungsdelikt der Höhepunkt von vorherigen Gewalthandlungen, Stalking, Morddrohungen und bereits vorangegangenen Tötungsversuchen“ war. Insofern spielt die Aufgabe der Gefahrenermittlung in jedem Einzelfall eine sehr wichtige Rolle. Und wenn das Kind Zeuge im Strafverfahren gegen den Täter ist, sollte das zuständige Familiengericht für den Fall umgangsrechtlicher Entscheidungen hierüber informiert werden.
4. Fazit
So kommt der Verfasser zu folgenden Prämissen, die in der polizeilichen Praxis am jeweiligen Einzelfall orientiert beachtet werden sollten:
- Wenn Kinder zu einem Haushalt, in dem es zu Häuslicher Gewalt gekommen ist, gehören (Melderegisterabgleich), ist das Jugendamt ausnahmslos über den Sachverhalt zu informieren.
- Wenn die Ermittlungen zu dem Ergebnis kommen, dass der Täter/die Täterin zur Durchsetzung der Wegweisung in Gewahrsam zu nehmen ist, dann ist die Person ausschließlich an der Gefahrenlage orientiert in Gewahrsam zu nehmen.
- Gibt es tatsächliche Anhaltspunkte für einen Alkohol- oder anderen Substanzmittel- oder Medikamentenmissbrauch bei einer zum Haushalt gehörenden Erziehungsperson, so ist ebenfalls obligatorisch der sozialpsychiatrische Dienst des örtlich zuständigen Gesundheitsamtes hierüber und dass Kinder zum betroffenen Haushalt gehören, zu informieren[x]
- Gibt es tatsächliche Anhaltspunkte für einen Alkohol- oder anderen Substanzmittel- oder Medikamentenmissbrauch bei einer zum Haushalt gehörenden Erziehungsperson, so ist ebenfalls obligatorisch der sozialpsychiatrische Dienst des örtlich zuständigen Gesundheitsamtes hierüber und dass Kinder zum betroffenen Haushalt gehören zu informieren.
- Drohungen gegen die andere Erziehungsperson und/oder die zum Haushalt gehörenden Kinder einschließlich Suizidandrohungen sind stets ernst zu nehmen, weiter zu ermitteln und dem zuständigen Jugendamt und Familiengericht (ggf. vorübergehenden Umgangsausschluss oder begleiteten Umgang gemäß § 1684 BGB empfehlen) sowie dem sozialpsychiatrischen Dienst mitzuteilen.
- Gibt es glaubhafte Hinweise auf ein (drohendes) Stalking im familienrechtlichen Verfahren so sind das Jugendamt und das Familiengericht und ggf. der erwähnte sozialpsychiatrische Dienst hierüber in Kenntnis zu setzen.
- Vor Ort befindliche Kinder und Jugendliche sind immer und ggf. nach den getroffenen Maßnahmen altersangemessen einzubeziehen. Die Maßnahmen und der wahrscheinliche Fortgang, wie es nach den polizeilichen Maßnahmen weitergehen dürfte, sind ihnen zu erläutern.
Abschließend ist zu konstatieren, dass Zusammenarbeit insbesondere mit dem Jugendamt, dem Sozialpsychiatrischen Dienst, der Staatsanwaltschaft und dem zuständigen Familiengericht mehr ist, als nur einen Bericht an die andere Seite zu schreiben. Je nach Sachverhalt sollten grundsätzlich auch persönliche Kontakte und Gespräche dazugehören, wenn die getroffenen Maßnahmen nachhaltig erfolgreich sein sollen. Eine antizipierte oder tatsächliche Überlastung sowie personelle Engpässe anderer Beteiligter können und dürfen auf keinen Fall ein Kriterium sein, eigene gebotene Maßnahmen nicht zu treffen.
[i] Rainer Becker hat bis 2015 am Fachbereich Polizei der FHöVPR in Güstrow gelehrt. Seine Spezialgebiete waren das Eingriffsrecht und die polizeiliche Präventionsarbeit. Seit 2013 ist er ehrenamtlicher Vorstandsvorsitzender der Deutsche Kinderhilfe e. V in Berlin, die sich insbesondere durch Lobbyarbeit für den Schutz und die Rechte von Kindern einsetzt.
[ii] Vgl. Haug, M.; Zähringer, U. Tötungsdelikte an sech- bis 13-jährigen Kindern in Deutschland. Eine kriminologische Untersuchung anhand von Strafverfahrensakten (1997 bis 2012). (KFN-Forschungsberichte Nr. 134). Hannover: KFN, S. 43
[iii] Vgl. Rainer Becker/Ronny Müller, Tötungsdelikte zum Nachteil von Kindern im Zusammenhang mit Sorg- und Umgangsrechtsstreitigkeiten – eine Analyse aus polizeilicher Sicht, Die Polizei, 8/2013, ab S. 237
[iv] Vgl. Haug, M.; Zähringer, U. a. o. a. O., S. 51
[v] Vgl. Lena Stadler, Ex‑Partner‑Stalking im Kontext familienrechtlicher Auseinandersetzungen, Frankfurt 2009
[vi] Vgl. Georg Winkler, Häusliche Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern in Zusammenhang mit Alkohol, Bachelorarbeit, Güstrow 2013
[vii] Vgl. Sandra Messner/Andrea Hoyer-Neuhold, EInSatz–Interventionen im Rahmen des Gewaltschutzgesetzes unter besonderer Berücksichtigung von Kindern und Jugendlichen, Zentrum für Sozialforschung und Wissenschaftsdidaktik Wien, 2014 bis 2017
[viii] Rene Mangliers, Zusammenhänge zwischen Suchtmittelmissbrauch und Häuslicher Gewalt, Diplomarbeit, Güstrow, 2012
[ix] Vgl. Susanne Heynen/Frauke Zahradnik, Innerfamiliäre Tötungsdelikte n Zusammenhang mit Beziehungskonflikten, Trennung beziehungsweise Scheidung, S. 60, Weinheim 2017
[x] Vgl Marlene Mortler, Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung auf ihrer Jahrestagung 2017 „Die Kinder aus dem Schatten holen“