„Neonatizid“ – Das Phänomen der Neugeborenentötung
Eine Untersuchung kriminalistischer Handlungspraktiken im Ermittlungsverfahren bei Neonatizid
von PK‘in Franziska Hörske, Polizeiinspektion Magdeburg
Eine Zusammenfassung einer Bachelorarbeit, die an der Fachhochschule der Polizei Sachsen-Anhalt mit 13,85 Punkten bewertet wurde.
Auf den ersten Blick wirkte alles nahezu idyllisch. Die Eingangstür war liebevoll geschmückt, ein gebasteltes Stoff-Schäfchen baumelte hinunter, auf dem Schuhschrank blühte ein Weihnachtsstern und die Fensterbank war mit einem kleinen Vogelhaus aus Holz dekoriert. Und doch wurde in der äußerlich so friedlich erscheinenden Wohnung in Benndorf, im Landkreis Mansfeld-Südharz, ein schrecklicher Fund gemacht.
Weil sie sich nicht traute, dem Vater ihrer ungeborenen Kinder die Schwangerschaften zu gestehen, tötete Steffi S. in den Jahren 2004 und 2008 ihre zwei Neugeborenen. Die rechtsmedizinische Untersuchung ergab, dass das Mädchen und der Junge voll lebensfähig waren. Sie wurden erstickt oder sind ertrunken. Mit ihrem damaligen Lebensgefährten hatte sie zur Tatzeit bereits zwei Kinder. Die Schwangerschaft verheimlichte die Frau, die damals fast 140 Kilo wog, indem sie weite Kleidung trug. Statt professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen, plante Steffi S. die Tötung der Kinder. Als sie beim ersten Mal realisierte, dass die Wehen einsetzten, wartete sie, bis ihr Sohn in der Schule war. Ihre Tochter war zum damaligen Zeitpunkt ein Jahr alt und spielte im Laufgitter. Sie richtete das Bad her, legte Handtücher und eine Plastiktüte hin und ließ sich Wasser in die Wanne. Nach der Geburt legte sie das Neugeborene in den Gefrierschrank. Bei der zweiten ungewollten Schwangerschaft täuschte sie eine Kolik vor, wartete bis alle schliefen und ging wieder ins Bad. Am nächsten Morgen legte sie auch die zweite Babyleiche in die Gefriertruhe. Mehr als zehn Jahre versteckte sie die Säuglingsleichen unbemerkt zwischen eingefrorenen Lebensmitteln. Erst nach einem Hinweis ihres ehemaligen Lebensgefährten war die Wohnung der Frau Anfang 2018 durchsucht worden. Steffi S. wurde anschließend vorläufig festgenommen.
Der hier vorgelegte Beispielsachverhalt wirft sofort vielerlei Fragen auf. Fragen, die sowohl den medizinischen und psychologischen Bereich als auch den juristischen und kriminalistischen Bereich betreffen: Wie kann es zu einer solchen Tat kommen? Was für eine Frau steckt dahinter? Wie kann eine Schwangerschaft vor dem sozialen Umfeld verborgen bleiben und warum hat diese Frau nicht anders gehandelt?
Der Fachbegriff lautet Neonatizid, darunter fällt die Tötung eines schutzlosen und hilfsbedürftigen Neugeborenen während oder direkt nach der Geburt, also in den ersten 24 Stunden nach der Entbindung. Diese zunächst wahllos erscheinende Eingrenzung der Tatzeit auf den ersten Lebenstag eines Neugeborenen ist inhaltlich durchaus prädestiniert, da sich Tötungen, die während oder unmittelbar nach der Geburt erfolgen, in zahlreicher Hinsicht (unter anderem Tatbegehung, Tatmotiv, soziodemografische Eigenschaften und psychische Störungen der Kindsmütter) von Kindstötungen zu späteren Zeitpunkten abheben. Sie ist auch deshalb geeignet, da das Risiko, Opfer eines Tötungsdeliktes zu werden, zu keinem Zeitpunkt im gesamten Leben größer ist als innerhalb des ersten Lebenstages.
Obwohl eine empirische Untersuchung des Neonatizides im Hinblick elementarer Aspekte, wie beispielsweise Fallaufkommen, rechtliche Sanktionierung oder Deliktphänomenologie, lohnenswert schienen, ist die Überlegung zur vorliegenden Untersuchung vorrangig aus einem kriminalistischen Interesse entstanden. Die wissenschaftliche Klärung, insbesondere der kriminalpolizeilichen Ermittlungstätigkeit und bezüglich der Sachbearbeitung derartiger Fälle zu sensibilisieren, war das Anliegen dieser Arbeit. Es wurden zahlreiche Merkmale zum Tatablauf, zur Person der Kindsmutter und zu den durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen zusammengetragen, die in zukünftigen Fällen von Neugeborenentötungen von Bedeutung sein können.
Tötungsdelikte an Neugeborenen erregen, vor allem aufgrund starker Medienpräsenz, großes Aufsehen. Im Gegensatz zum Bild der Gesamtkriminalität und der Tötungskriminalität, wobei männliche Straftäter klar überwiegen, haben wir es beim Phänomen der Neugeborenentötung, zumindest bei den polizeilich registrierten Taten (sogenanntes Hellfeld), überwiegend mit weiblicher Delinquenz zu tun. Damit stellt der Neonatizid eine Besonderheit unter den kriminellen Delikten dar.
Die Kriminalbeamten der Fachkommissariate 2 und Sachgebiete Allgemeine Kriminalität befassen sich hauptsächlich mit Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, gegen das Leben und gegen die körperliche Unversehrtheit. Weiterhin ist die Neugeborenentötung diesem Bereich zuzuordnen. Grundsätzlich kann die kriminalistische Fallbearbeitung von Tötungsdelikten darauf aufbauen, dass Familie, Freunde und Bekannte Aussagen zum Leben und Verhalten des Opfers vor der Tat machen können. Beim Neonatizid gestaltet sich die Sachbearbeitung im Vergleich zu anderen Tötungsdelikten deutlich schwieriger. Bei diesen Fällen kann in der Regel nur die leibliche Mutter Angaben über das kurze Leben des Opfers machen, zumal sie in einer Vielzahl der Fälle selbst auch die Täterin ist.
Vor dem Hintergrund, dass Neonatizide in verschiedenen Formen begangen werden können, weist jeder Fall einer Kindstötung eine individuelle Gestaltung auf. Durch die Auswertung von Ermittlungsakten oder rechtsmedizinischen Befunden sind viele Gründe für den Tod von Neugeborenen bekannt. Dies ist vor allem für die polizeiliche Ermittlungspraxis von Bedeutung, da ein derartiges Tötungsdelikt als ein Neonatizid identifiziert werden muss. Demzufolge wird bei der Tatbegehung eine aktive und eine passive Form klar voneinander abgegrenzt.
Eine aktive Form des Neonatizids liegt dann vor, wenn die Mutter den Tod ihres Kindes durch stumpfe oder scharfe Gewalteinwirkung oder auch durch eine gewaltsame, von außen herbeigeführte Erstickung verursacht. Die gewaltsame äußere Erstickung umfasst das Erdrosseln, Erwürgen, Ertränken und den Verschluss der Atemwege durch Bedecken mit weichen Gegenständen wie Kissen, Tüchern oder Plastikbeuteln. Die Einteilung zwischen Erdrosseln und Erwürgen liegt in der Art der Strangulation des Halses, welche beim Erdrosseln durch ein Strangulationswerkzeug, beispielsweise einem Handtuch oder Seil und beim Erwürgen mit bloßen Händen erfolgt. Beim Erdrosseln ist es möglich, dass das Strangulationswerkzeug, das von der Mutter zur Tötung verwendet wurde, nur unauffällige bis gar keine Spuren bei dem Neugeborenen hinterlässt. Diese Tatsache kann die Überführung der Mutter erschweren, da oftmals keine eindeutige Unterscheidung zwischen den Anzeichen eines sog. „Plötzlichen Kindstod“ (Sudden Infant Death Syndrome) und einer gewaltsamen äußeren Erstickung erfolgen kann.
Unter scharfe Gewalt fallen Gewalteinwirkungen mit scharfkantigen oder spitzen Gegenständen, die bei dem Opfer Stich- und Schnittverletzungen hinterlassen. Schläge mit Gegenständen, Fallenlassen aus größerer Höhe, Quetschungen, Fußtritte oder Faustschläge werden hingegen als stumpfe Gewalt definiert.
Darüber hinaus kann ein kräftiges Schütteln des Babys eine mögliche Tathandlung darstellen. Das Schütteltrauma, auch als „Shaken-Baby-Syndrom“ bezeichnet, wird durch ein massives Hin- und Herschütteln des Säuglingskopfes hervorgerufen, wobei das Baby an den Oberarmen oder am Brustkorb festgehalten wird. Die Halsmuskulatur ist bei Neugeborenen nicht kräftig genug, um den im Vergleich zum Rest des Körpers überproportional großen Kopf zu fixieren. Infolgedessen kommt es zu einem unkontrollierten Vor- und Zurückschleudern des kindlichen Kopfes, wodurch das Gehirn gegen das Schädelinnere prallt. Wird der Säugling darüber hinaus gegen die Wand geschleudert oder auf den Boden geworfen, wobei es zu einem Aufprallen des Schädels kommt, wird dies als „Shaken-Impact-Syndrom“ bezeichnet. Die Zeitspanne, in der die Gewalt auf den Körper des Kindes ausgeübt wird, kann sehr kurz sein. Allerdings können bereits Gewaltanwendungen von wenigen Sekunden besonders bei Neugeborenen und Säuglingen zum Tod führen. Das Shaken-Baby- oder Shaken-Impact-Syndrom tritt überwiegend im Hauptschreialter kleiner Säuglinge von zwei bis fünf Monaten auf. Das Phänomen kann jedoch auch auftreten, wenn eine von der Geburt überraschte und überforderte Frau ihr schreiendes Baby ruhig stellen möchte, damit die Geburt verborgen bleibt.
Ferner stellt die Nichtversorgung eines hilfsbedürftigen Säuglings die passive Form der Neugeborenentötung dar. Schlichtes Liegenlassen des Säuglings an der Geburtsörtlichkeit kann zu einer Unterkühlung des Neugeborenen und in Folge dessen zum Tod führen. Eine weitere Form der passiven Tatbegehung ist das Ertrinkenlassen des Säuglings in einem mit Wasser gefüllten Gefäß. Dies ist regelmäßig nach der Entbindung in einer Toilette, einem Eimer oder einer Badewanne der Fall, insbesondere wenn das Neugeborene zurückgelassen und nicht rechtzeitig gefunden wurde. Weiterhin muss eine Abgrenzung zwischen der Tötung und der Aussetzung eines Neugeborenen erfolgen, da nicht jede Aussetzung zwangsläufig zum Tod des Kindes führt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass ein bereits unter der Geburt verstorbener Säugling mit der Absicht der Verbergung ausgesetzt wird. Entscheidend ist, ob die Aussetzung zum Sterben oder zum Leben erfolgte. Wenn beispielsweise ein Neugeborenes ohne jegliche Kleidung oder wärmenden Schutz in einen Plastikbeutel gewickelt an einer Stelle abgelegt wird, die schwer zugänglich ist, kann davon ausgegangen werden, dass es zum Sterben ausgesetzt wurde. Angenommen, der Säugling wird hingegen warm bekleidet an einem Ort abgelegt, welcher von vielen Menschen besucht wird, dann würde dies wiederum eher dafürsprechen, dass die Täterin wollte, dass er rechtzeitig gefunden wird. Bei einer Aussetzung ist es von erheblicher Bedeutung, die Zielrichtung der Mutter zu ergründen und nachzuweisen. Erst auf diese Weise kann die Frage des Vorsatzes hinsichtlich des verwirklichten Tatbestandes gem. § 221 StGB beantwortet werden.
Frauen, die ihr Neugeborenes töten, unterscheiden sich bereits im Verlauf ihrer Schwangerschaft von durchschnittlichen Schwangeren. Trotz verschiedener Handlungsalternativen gegen eine ungewollte Schwangerschaft, wie Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch, anonyme und vertrauliche Geburt oder Ablegen des Kindes in einer Babyklappe, kommt es nach wie vor zu solchen Taten. Eine in der Vergangenheit und in der Gegenwart mehrfach in Erscheinung getretene Ursache eines Neonatizids ist das Phänomen der sogenannten „negierten Schwangerschaft“ als Abwehrmechanismus und damit als möglicher Auslöser für einen Neonatizid. Dem Wort „negieren“ wird dabei die Bedeutung „etwas verdrängen, verheimlichen, ignorieren oder leugnen“ zugeordnet. In Verbindung mit einer Schwangerschaft bedeutet es, dass die Frauen eine ablehnende Haltung gegenüber der eigenen Schwangerschaft und somit auch gegenüber dem ungeborenen Kind einnehmen. Dieser Prozess kann sich sogar so weit manifestieren, dass die betroffenen Frauen nicht realisieren schwanger zu sein. Die Geburt erfolgt daher für die Mutter völlig unerwartet, die Tötung selbst symbolisiert entweder die Fortsetzung des passiven Verhaltens während der Schwangerschaft oder drückt eine Panikreaktion auf äußere Umstände, wie beispielsweise das Schreien des Säuglings, aus.
Die Entstehung einer Negierungssituation kann von unterschiedlichen Faktoren bestimmt sein. So können beispielsweise Partnerschaftskonflikte, Schwierigkeiten und Differenzen in der Familie, soziale Isolation oder Existenzschwierigkeiten eine wichtige Rolle spielen. Eine Negierung kann dadurch hervorgerufen werden, dass die Schwangere die Befürchtung hat, die Situation allein nicht bewältigen zu können. Dadurch kann zu Beginn der Schwangerschaft ein Konflikt ausgelöst werden, der in Verbindung mit der Unsicherheit steht, sich den Angehörigen oder dem Partner anzuvertrauen oder mit der Neigung, Konflikten und Entscheidungen aus dem Weg zu gehen. In diesem Zusammenhang bleibt die Frage nicht aus, ob es tatsächlich möglich ist, dass eine Frau bis zur Geburt ihres Kindes nichts von der Schwangerschaft bemerkt. Bei einer Negierung können sowohl die typischen
Schwangerschaftsbeschwerden wie Übelkeit und Erbrechen als auch die typischen Schwangerschaftszeichen, wie beispielsweise eine Zunahme des Bauchumfangs, Brustveränderungen, Kindsbewegungen oder das Ausbleiben der Regelblutung fehlen. Dieses Ausbleiben von auffälligen Schwangerschaftszeichen lässt sich auf den Verdrängungsprozess und auf die ständige Abwehrhaltung gegenüber dem ungeborenen Kind zurückführen. Werden sichtbare Veränderungen von der Schwangeren wahrgenommen, besteht häufig der Drang zur Umdeutung, Rationalisierung oder Pathologisierung der Schwangerschaftssymptome. Eine Gewichtszunahme wird mit einem vermehrten Essverhalten begründet, Kindsbewegungen, Unterleibsschmerzen oder ein verhärteter Bauch mit Erkrankungen wie Gallen-, Blinddarm- oder Magen-Darm-Beschwerden erklärt und nicht selten werden Schmierblutungen, die in der Schwangerschaft auftreten können, als normale Monatsblutungen gedeutet.
Bereits bei der Entstehung und im Verlauf einer Negierungssituation können sich die Ursachen und Motive für einen späteren Neonatizid herausbilden. Insgesamt reicht das Spektrum der negierten Schwangerschaft von der unbewussten Verdrängung, im Sinne des „Nicht-Erkennens“ der Situation, bis zu einem „Nicht-Bekannt-Machen-Wollen“ im Zuge der Verheimlichung der Schwangerschaft. Die Differenzierung der Begrifflichkeiten innerhalb der Schwangerschaftsnegierung bedeutet jedoch nicht, dass es sich um streng abzugrenzende Bereiche handelt. Übergänge und Überlappungen zwischen den Formen sind möglich und nicht selten. Folglich kann die zunächst verdrängte Schwangerschaft nach einigen Monaten von der Betroffenen geahnt, aber dennoch geleugnet und später nicht mehr gegenüber sich selbst, sondern nur noch innerhalb ihres Umfeldes verheimlicht werden. Bei einer Verdrängung und grundsätzlich auch während einer Verheimlichung macht sich die Schwangere keinerlei Gedanken über die Geburt und trifft auch keine Geburtsvorbereitungen, sodass die Entbindung häufig überraschend einsetzt und ohne fremde Hilfe bewältigt wird. Aus dem Zusammenspiel von Schwangerschaft und Geburt können darüber hinaus Muttergefühle und Pflegebedürfnisse nach dem Geburtsvorgang fehlen, da es im Verlauf der negierten Schwangerschaft nicht zur Annahme des Kindes kommen konnte. Als festzuhalten gilt, dass sich die Betroffene während und nach der Entbindung in einem Zustand befindet, der von Panik, Ausweglosigkeit und Überforderung geprägt ist. Aufgrund ihres manifestierten Verhaltens ist sie daher auch nicht mehr in der Lage, sich der Situation anzupassen und die Mutterschaft anzuerkennen. Schließlich ist die Tötung des Neugeborenen häufig die letzte und traurige Konsequenz einer monatelangen Abwehrhaltung gegenüber dem ungeborenen Kind.
Tötungsdelikte stellen für die Ermittlungsbeamten eine besondere Herausforderung dar, weil der Tatablauf in der Regel unklar und die Informationslage eingeschränkt ist. Da Im Vorfeld eines Neonatizides oftmals Schwangerschaft und Geburt verheimlicht werden, rechnet auch niemand im sozialen Umfeld der Mutter mit einem Neugeborenen. Aus diesem Grund wird ein hohes Dunkelfeld angenommen, was an mehreren Kriterien und der Deliktsstruktur an sich liegt. Die Beseitigung einer Säuglingsleiche ist aufgrund der geringen Größe wesentlich einfacher zu bewerkstelligen als bei anderen Tötungsdelikten. Neugeborene lassen sich leichter transportieren und verstecken, die Verwesungsprozesse setzen relativ schnell ein, sodass das Auffinden einer Säuglingsleiche meist zufälliger Natur ist. Doch wie reagiert die Polizei auf den Fund eines toten Säuglings? Welche konkreten Ermittlungsmaßnahmen werden getroffen, um die Herkunft des Neugeborenen und Identität der Kindsmutter zu klären und welche individuellen Handlungspraktiken werden dabei deutlich? Mit dieser Frage beschäftigte sich die empirische Untersuchung dieser Arbeit.
Um den Forschungsgegenstand ausführlich zu erfassen wurde das narrative Interview als qualitative Erhebungsmethode gewählt. Die Auswahl der Interviewpartner gestaltete sich schwierig, da der Kreis der Beamten durch die Thematik und das dargelegte Forschungsziel enorm eingegrenzt wurde. Bei Neugeborenentötungen handelt es sich um ein eher seltenes Delikt und nicht jeder Beamte kommt während seiner beruflichen Tätigkeit damit in Berührung. Schließlich konnten drei Interviewpartnerinnen gewonnen werden, die bereit waren von ihren Erfahrungen und Eindrücken bei der Sachbearbeitung von Neugeborenentötungen zu berichten.
Im Rahmen des Ersten Angriffs wurde in allen Fällen der Tatort gesichert und abgesperrt, durch Beamte der Kriminaltechnik aufgenommen sowie ein Rechtsmediziner angefordert. Insbesondere bei Neugeborenentötungen ist eine rechtsmedizinische Sektion von enormer Wichtigkeit. Neben der Klärung der Todesursache geht es hier um den Nachweis des Neugeborenseins und des tatsächlichen Gelebthabens. In der weiteren Folge erfolgte die Kontaktierung von Ärzten, Hebammen und Krankenhäusern sowie die Veröffentlichung von Zeugenaufrufen. Weiterhin wurden sowohl ausführliche Befragungen im Nahbereich des Ereignisortes und DNA-Reihenuntersuchungen durchgeführt als auch Kontakte zu Ämtern und öffentlichen Bildungseinrichtungen hergestellt. Insgesamt haben sich diese Maßnahmen als wenig erfolgversprechend herausgestellt und in keinem Fall zur Identifizierung der Kindsmutter geführt. Im Falle eines toten Säuglings wurde frühzeitig mit der Operativen Fallanalyse begonnen und somit das Hauptaugenmerk auf das angrenzende Wohngebiet im Nahbereich des Fundortes gelegt. Weiterhin fand eine enge Zusammenarbeit mit der Bereitschaftspolizei statt. Hierbei konnte die Kindsmutter im Nahbereich des Fundortes ermittelt werden. Daher kann davon ausgegangen werden, dass insbesondere die zum einen enge Zusammenarbeit mit Fallanalytikern und der zum anderen erhöhte Personaleinsatz hilfreich bei Neugeborenentötungen sein können.
Darüber hinaus lässt sich über die Eignung verschiedener Ermittlungsmaßnahmen aber stets nur fallbezogen entscheiden. Die hier erzielten Ergebnisse können deshalb allenfalls als Hintergrundinformationen zur Ermittlungsunterstützung dienen. An dieser Stelle muss auch festgehalten werden, dass die Ermittlungsmaßnahmen in einem Fall bis heute nicht zum Auffinden der Kindsmutter geführt haben und in zwei Fällen durch einen Hinweis erfolgten. Im ersten Fallbeispiel ging zeitnah ein Hinweis durch Beamte der Kriminaltechnik ein. Im dritten Fall identifizierte eine Frau ihre Tochter als Mutter des toten Säuglings. Folglich könnte die Vermutung angestellt werden, dass es auch auf die Eignung der Beamten ankommt, welche die Erstbefragungen durchführen. Hätten die Kollegen der Kriminaltechnik nicht so ein feines Gespür gehabt, wäre dieser Hinweis vielleicht die ersten Tage untergegangen. Hier könnten unter Umständen auch Schulungen vorgenommen werden.
Bezüglich der Schwierigkeiten gaben alle Interviewpartnerinnen an, dass die Säuglinge in den öffentlichen Bereich verbracht wurden und keine Beigaben in Form von Gegenständen, wie Bekleidungsstücken erfolgten. Entsprechend waren keinerlei Gegenstände vorhanden, die zur Klärung der Herkunft der Säuglinge hilfreich sein konnten. Den Interviews konnte weiterhin entnommen werden, dass die Entbindungen im zweiten und dritten Fall in der Häuslichkeit und somit engem Wohnumfeld stattfanden. Da die Aufklärungs- und Entdeckungswahrscheinlichkeit in Fällen einer Geburt und Tötung des Säuglings im privaten Wohnumfeld womöglich erhöht ist, könnte davon ausgegangen werden, dass die Verbringung daher in den öffentlichen Bereich erfolgte. Dies sind aber lediglich Vermutungen. Weiterhin spricht die gänzlich unbekleidete Ablage des Säuglings oder Verpackung in Plastiktüten gegen eine emotionale Bindung der Mutter zu ihrem Kind. Darüber hinaus zeigten die Kindsmütter bei allen untersuchten Fällen eine Form pathologischer Schwangerschaftsverarbeitung. Die Schwangerschaften wurden vor Freunden, Kollegen und der Familie verheimlicht.
Bei einer Schwangerschaftsverheimlichung sind die Mütter selten auf die Geburt vorbereitet. Zusätzlich konnte den Interviews entnommen werden, dass sich während des Geburtsgeschehens weitere Personen im Nahbereich aufhielten und das Entdeckungsrisiko für die Mütter somit deutlich erhöht war. Diese Tatsache deutet daraufhin, dass die Frauen weder gut vorbereitet noch planvoll agierten. Vielmehr sprechen diese Ergebnisse dafür, dass die Frauen vom Beginn des Geburtsvorgangs überrascht wurden. Als weiterhin problematisch wurde der Sicherungsangriff bei Neugeborenentötungen angegeben. Hierbei kommt es wiederholt zur Spurenübertragung und Spurenvernichtung, sodass an dieser Stelle bereits wertvolle Hinweise verloren gehen. Dies gilt auch für das „Türklinkenputzen“ im Rahmen des Auswertungsangriffs. Auch hier kommt es häufig zum Verlust ermittlungsrelevanter Informationen.
Folglich wäre es wichtig, dass der Erste Angriff durch die Schutzpolizei immer wieder neu angesetzt wird, der Tatort weiträumig abgesperrt und der Säugling zeitnah abgedeckt wird. Diese Dinge werden in der Regel auch gemacht, manchmal sind es auch äußere Umstände, die den Ersten Angriff erschweren. Hiermit soll lediglich eine Empfehlung gegeben werden, denn der Erste Angriff ist grundlegend für die weiteren Ermittlungsmaßnahmen und insbesondere der Verlust von Spuren erschwert die Aufklärung der Straftat.
Abschließend wurden die Empfindungen der Beamtinnen bei Neugeborenentötungen dargestellt. Alle Interviewpartnerinnen gaben an, dass es sich bei diesem Delikt um ein sehr seltenes Phänomen handelt und die Bearbeitung eine besondere persönliche sowie fachliche Herausforderung darstellt. Erschreckend ist, dass viele Säuglinge bereits tot sind, wenn sie abgelegt werden und selten eine Aussetzung zum Leben erfolgt. Weiterhin sind die Opfer in keiner Weise in der Lage, etwas gegen diese Handlung auszurichten.
Die Beamtinnen beschrieben Neugeborenentötungen neben Kindesmisshandlungen und Sexualdelikten als eines der schwerwiegendsten Delikte. Auch der Umstand, dass die Beamtinnen selbst Mütter sind, könnte dazu beitragen. Es wurde sehr ausführlich über einige Sachverhalte berichtet und deutlich, dass die Bearbeitung von Neugeborenentötungen durchaus tiefgreifend sein und eine besondere emotionale Erfahrung darstellen kann.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in jedem der Sachverhalte der Erste Angriff eine wesentliche Rolle darstellte. Hierbei wurde in allen Fällen der Tatort gesichert und abgesperrt, durch Beamte der Kriminaltechnik aufgenommen sowie ein Rechtsmediziner angefordert. Ebenso waren die Ermittlungsmaßnahmen von absoluter Wichtigkeit, wobei nicht immer die gleichen polizeilichen Maßnahmen zum Aufklärungserfolg führten. In diesem Zusammenhang erfolgte die Kontaktierung von Ärzten, Hebammen und Krankenhäusern sowie die Veröffentlichung von Zeugenaufrufen. Weiterhin wurden sowohl ausführliche Befragungen im Nahbereich des Ereignisortes und DNA-Reihenuntersuchungen durchgeführt als auch Kontakte zu Ämtern und öffentlichen Bildungseinrichtungen hergestellt. Insofern im Ersten Angriff keine Ermittlungsansätze erkenntlich sind, sollten sämtliche Ressourcen zur Klärung des Sachverhaltes zeitnah ausgeschöpft werden. Dabei kann die Nutzung personeller Ressourcen oder die Zusammenarbeit mit anderen Bereichen der Polizei zielführend sein. Weiterhin erwies sich als entscheidend, dass eine adäquate Informationsgewinnung, wie beispielsweise die Befragung von Personen im Nahbereich des Ereignisortes, ebenso eine hohe Wichtigkeit darstellte.
Die Qualität der Informationsgewinnung kann wiederum von der Motivation, den Erfahrungen und von den persönlichen Kompetenzen der ermittelnden Beamten abhängen. Die Zusammenarbeit mit anderen Bereichen erwies sich zumindest in den drei benannten Fällen als hilfreich, um den Suchbereich einzugrenzen, waren aber nicht unbedingt zielführend. In zwei Fällen erfolgte die Aufklärung der Straftat durch einen Hinweis und in einem Fall führten die Ermittlungsmaßnahmen bis heute nicht zum Auffinden der Kindsmutter. Diese Kooperationen sollten jedoch zukünftig nicht pauschalisierend abgelehnt werden. Ebenso kann es möglich sein, dass die Kindsmutter nach der Tat ein Krankenhaus aufsucht oder durch Angehörige in eine medizinische Versorgungseinrichtung verbracht wird. Der Entschluss der Ermittler zur Kontaktierung dieser Einrichtungen, sowie von Ärzten und Hebammen, sind ein möglicher Ansatz für die Ermittlung der Kindsmutter.
Hervorzuheben gilt, dass es sich bei der Aufklärung einer derartigen Straftat um eine herausfordernde Sachbearbeitung handelt, innerhalb welcher verschiedene Aspekte Beachtung finden sollten. Es wurde sehr ausführlich über einige Sachverhalte berichtet und deutlich, dass die Bearbeitung von Neugeborenentötungen durchaus tiefgreifend sein und eine besondere emotionale Erfahrung darstellen kann. Die Auseinandersetzung mit der Thematik waren auch für die Verfasserin emotional anstrengend und sehr berührend. Es wurden Einblicke in einen Deliktsbereich gewährt, welche unter anderen Umständen nicht möglich gewesen wäre. Daher sollen letztlich noch zwei Punkte Aufmerksamkeit finden.
Insbesondere wenn es um die Ermittlungstätigkeit bei Neugeborenentötungen geht, wäre es wünschenswert, wenn sich dem Sachverhalt ein Beamter annimmt, der Empathie mitbringt und auch den Willen hat dieses Delikt aufzuklären. Ein Beamter, der sich in die Lage der Frau hineinversetzen kann und welcher feinfühlig in die Vernehmung hineingeht und versucht das Tatmotiv zu ermitteln. Weiterhin muss natürlich auch bei Neugeborenentötungen eine Bestattung des Säuglings erfolgen. Den Täterinnen wurde also die Möglichkeit eingeräumt, ihrem Kind einen Namen zu geben. Dieses wurde in einem Fall abgelehnt. Abschließend soll diesem Säugling ein Stück Menschlichkeit mit dem berührenden Zitat des Autors Jando entgegengebracht werden: „Wenn du dich an mich erinnern möchtest, brauchst du nur jeden Tag in den Himmel zu schauen. Es sind nicht die großen Worte, welche die Sonne zum Leuchten bringen. Es sind die kleinen Taten, (…). Sieh nach oben. Kleine Sterne leuchten ewig.“
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