Quo vadis Vermummungsverbot? – Eine Betrachtung der aktuellen Rechtsprechung

PD Michael Wernthaler, Bereitschaftspolizei Bruchsal (Baden-Württemberg)

Vorwort

Das Vermummungsverbot gehört wohl zu den umstrittensten Regelungen in den deutschen Versammlungsgesetzen. Die aktuellen Regelungen in den einzelnen Versammlungsgesetzen der Länder sowie die Bestimmungen im (Bundes-) Versammlungsgesetz (VersG) reichen von der Bestrafung als Straftat bis zur Ordnungswidrigkeit und unter bestimmten Umständen bis zur Sanktionslosigkeit. Die Unterschiede findet man vor allem bei den an die Vermummung anknüpfenden Sanktionsnormen; die länderspezifischen Abweichungen bei den Verbotsnormen sind dagegen marginal, wobei die Abweichungen überwiegend den unterschiedlichen politischen Einstellungen geschuldet sind.

Exemplarisch zeigt sich das politische Dilemma in Niedersachsen: Dort wurde 2017 nach einem Regierungswechsel der bis dahin strafbare Verstoß in eine Ordnungswidrigkeit umgewandelt; unter der neuen Regierungskoalition kehrte das Land dann 2019 wieder zur Strafbarkeit zurück. Der Beitrag soll die Historie des Vermummungsverbots aufzeigen, erörtert die subjektiven und objektiven Tatbestandsmerkmale der Sanktionsnorm, betrachtet des Weiteren die aktuelle Rechtsprechung und bewertet die Entwicklung in der Gesetzgebung.

Die Historie des Vermummungsverbots

Am 28. Juni 1985 wurde das Vermummungsverbot und das Verbot der Schutzbewaffnung mit den Stimmen der konservativ-liberalen Koalition unter Helmut Kohl im Bundestag beschlossen. „Vermummung“ wurde gemäß § 125 Abs. 2 StGB (Landfriedensbruch) zu einer Straftat, sofern sich die Beschuldigten in einer „gewalttätigen Menschenmenge“ aufhielten und die Polizei zum Auseinandergehen aufgefordert hatte. Mit dem sogenannten Artikelgesetz vom 9.6.1989 wurden „Vermummung“ und „Schutzbewaffnung“ dann im Bundes-Versammlungsgesetz (§ 17a i.V.m. § 27 VersG) generell zu Straftaten hochgestuft.

Mit der Einführung des Vermummungsverbotes als Straftat verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, gewalttätige Ausschreitungen im Zusammenhang mit Demonstrationen einzudämmen und den damit verbundenen ernsthaften Störungen des Gemeinschaftsfriedens entgegenzuwirken.

Die Vermummung sollte verboten werden, weil das Auftreten vermummter Demonstranten und der Ausbruch von Gewalttätigkeiten nach der Überzeugung des Gesetzgebers in einem eindeutigen Zusammenhang stehen. Vermummte – so der Gesetzgeber weiter – provozieren „die Bereitschaft zur Gewalt und die Begehung von Straftaten. Sie stellen bei einer Demonstration regelmäßig den Kern der Gewalttäter. Sie bestärkten diejenigen Demonstrationsteilnehmer, die ohnehin zur Anwendung von Gewalt neigten, in ihrer Gewaltbereitschaft und könnten in gleicher Weise auch Dritte schon durch ihr äußeres Erscheinungsbild („Schwarze Blöcke“) beeinflussen“[1]. Der Gesetzgeber ging von der Annahme aus, „dass beim Auftreten von Vermummten oder passiv bewaffneten Personen ein unfriedlicher Verlauf“ der Demonstration zu erwarten sei, und „dass heute Vermummung in aller Regel eine Vorstufe zum Gewaltausbruch darstelle“[2]. Der Gesetzgeber sah somit in der Vermummung eine abstrakte Gefährdung, die unter Strafe gestellt wurde.[3]

Die Tatbestandsmerkmale der Vermummung

Eine Straftat gem. § 17a Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 27 Abs. 2 Nr. 2 VersG begeht: „Wer an einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel, Aufzügen oder Veranstaltungen unter freiem Himmel in einer Aufmachung, die geeignet und den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern, teilnimmt oder den Weg zu derartigen Veranstaltungen in einer solchen Aufmachung zurücklegt.“

Die strafbare Vermummung setzt eine Aufmachung voraus, die zur Verhinderung der Feststellung der Identität geeignet und bestimmt ist.

Aufmachung umfasst hierbei alle Mittel der Unkenntlichmachung wie Verkleidung, Maskierung oder Bemalung. Nicht darunter fallen das (sozialadäquate) Hochhalten eines großflächigen Transparents bei einer Demonstration[4] oder das natürliche Verdecken oder Verändern des Gesichts – etwa durch das Schneiden von Grimassen oder Vorhalten der Hände.

Die Vermummung ist in der Regel dann geeignet (objektives Merkmal), die Feststellung der Identität zu verhindern, wenn die physiognomischen[5] Besonderheiten des Gesichts nicht mehr erkannt werden können.[6] Beispielsweise durch Bekleidungsgegenstände wie Kapuzenpulli und Fliesschal, Kopftücher, Schleier, Burkas und ähnliche Gewandungen, Tücher, Kapuzen und Schals, mit einer Sturmhaube, durch das Aufkleben falscher Bärte, Aufsetzen von Perücken, Tragen von (das Gesicht verdeckenden) Helmen, Sonnenbrillen oder Faschingsbrillen mit Nase, Maskierungen und Bemalungen.[7] Nicht ausreichend ist das Anlegen geschlechtsuntypischer Kleidung (z. B. Mann in Frauenkleid). Ebenso nicht ausreichend ist das Verkleben von Fingerkuppen zur Erschwerung erkennungsdienstlicher Maßnahmen. Unbeachtlich für die Frage der Eignung und damit irrelevant ist der Eintritt des Erfolges, d. h. das Erkanntwerden trotz Vermummung lässt die Eignung der Vermummung nicht entfallen.[8]

Die Aufmachung ist dann zur Verhinderung der Feststellung der Identität bestimmt (subjektives Element), wenn sie gerade zu dem Zweck getragen wird, die Feststellung der Identität zu verhindern oder zumindest zu erschweren. Durch die subjektive Absicht erfolgt die Abgrenzung zum alltäglichen, sozialadäquaten Tragen von Kleidungsstücken, wie Schals oder Pullover mit Kapuzen im Winter oder Sonnenbrillen und Basecaps im Sommer zum Sonnenschutz. Auf die Absicht der Verwendung zur Verhinderung der Identität kann in der Regel nur aufgrund äußerer Umstände geschlossen werden. Die Tatsache, dass ein vernünftiger anderer Grund für die Vermummung fehlt, ist ein wesentliches Indiz für die Verhinderungsabsicht. So deuten Kapuzen, Sonnenbrillen und hochgezogene Schals vor dem Mund und über die Nase bei hochsommerlichen Temperaturen regelmäßig auf eine Vermummung hin und dienen somit nicht primär dem Temperaturschutz.

Aufmachungen, die erkennbar der Meinungsäußerung oder künstlerischen Zwecken dienen, werden jedoch nicht vom Vermummungsverbot erfasst, weil sie den Gesamtumständen nach nicht auf Identitätsverschleierung gerichtet sind.[9] Dies können beispielsweise Totenmasken bei Versammlungen zum Thema „Tod“ sein oder Masken bekannter Politiker bei Demonstrationen gegen deren Politik, insbesondere, wenn diese nur kurzfristig, thematisch begrenzt getragen werden. Wenn zwischen dem Tragen von bestimmten Masken und dem Thema der Versammlung kein klarer thematischer Zusammenhang besteht, kann grundsätzlich von einer verbotenen Vermummung ausgegangen werden.

Keine Absicht zur Identitätsverschleierung ist auch dann anzunehmen, wenn der Veranstalter der Polizei die Identität der „Vermummten“ zuvor bekannt gibt. Das Vorhandensein eines vernünftigen Grundes für die Aufmachung schließt jedoch nicht aus, dass diese auch zur Verhinderung der Identitätsfeststellung getragen wird, in diesen Fällen liegt dann auch ein Verstoß gegen das Vermummungsverbot vor. Dies ist beispielsweise stets bei einem „Schwarzen Block“ zu bejahen, selbst wenn die Vermummung auch der Einschüchterung Andersdenkender dient.

Entwicklung in der Rechtsprechung

Strittig in der Rechtsprechung der Bundesländer ist, ob auf die grundsätzliche Feststellung der Identität durch beliebige Personen oder nur auf die spezielle Feststellung der Identität durch die Polizei zum Zwecke der Strafverfolgung abzustellen ist. Das Kammergericht (KG) Berlin[10] vertritt die Auffassung, das Vermummungsverbot stehe nicht unter dem Vorbehalt, dass nur Vollstreckungsbehörden gegenüber die Identität nicht verschleiert werden darf, sondern gelte uneingeschränkt wegen der abstrakten Gefahr, die von einer Vermummung bei einer Demonstration ausgeht.[11] Diese Auffassung vertreten auch das OLG Düsseldorf[12] und das OLG Dresden[13].

Eine gegenteilige Meinung vertritt hingegen das LG Hannover[14] und das LG Freiburg[15] und begrenzt das Vermummungsverbot ausschließlich auf die Feststellung der Identität durch die Polizei zu Strafverfolgungszwecken.

Rechtsauffassung LG Hannover und LG Freiburg (Vermummung als antifaschistischer Selbstschutz)

Das LG Hannover hatte eine bekannte, dem linken Spektrum zugeordnete Versammlungsteilnehmerin, die sich vermummt hatte, freigesprochen, da sie ihre Vermummung ausschließlich im Bereich einer dem rechten Spektrum zugeordneten Gaststätte getragen hatte, aus der heraus in die linksgerichtete Versammlung hinein fotografiert wurde. Vor und nachdem der Aufzug an der dem rechten Spektrum zugeordneten Gaststätte vorbeigezogen war, legte die linksgerichtete Versammlungsteilnehmerin ihre Vermummung wieder ab.

Das LG Hannover begründet seine Begrenzung des Vermummungsverbots ausschließlich auf die Feststellung der Identität durch die Polizei zu Strafverfolgungszwecken damit, dass zwar dem Gesetzeswortlaut nach nur allgemein gefordert sei, dass die Vermummung den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern. Jedoch sei es nach dem Sinn und Zweck des Vermummungsverbotes erforderlich, dass die Identifizierung durch die Strafverfolgungsbehörden verhindert werden soll. Diese Auslegung sei aus verfassungsrechtlichen Gründen zwingend. Denn würde die Vorschrift nicht in dem genannten Sinne teleologisch reduziert werden, so würde die Vorschrift de facto eine Bestrafung der Teilnahme an einer nicht verbotenen Versammlung (bzw. eine Belangung wegen einer Ordnungswidrigkeit) und damit einen Verstoß gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit i. S. d. Art. 8 Abs. 1 GG bewirken. Das systematische Hineinfotografieren in Demonstrationszüge des jeweiligen politischen Gegners würde so nämlich dazu führen, dass im Falle nachfolgender Repressalien mit Hilfe dieser Fotos die Demonstrationsteilnehmer vor der Alternative stünden, entweder Repressalien seitens der politischen Gegner hinzunehmen oder aber eine Bestrafung seitens der Strafverfolgungsbehörden wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot zu riskieren. Die einzig noch verbleibende Alternative bestünde dann in einem Verzicht auf Teilnahme an einer solchen Demonstration. Damit aber würde die Gefahr bestehen, dass politische Demonstrationen linker und rechter Gruppierungen auf Dauer de facto durch das systematische Hineinfotografieren in diese Demonstrationszüge durch politische Gegner unterbunden würden, gegen das es – so lange der Gesetzgeber das Fotografieren von Demonstrationszügen und einzelner Demonstrationsteilnehmer während der Demonstration sowie die Verwendung oder Weitergabe solcher Fotos nicht sanktioniert – keinen anderen Schutz als die Vermummung geben kann. Letztlich würde so die strafrechtliche Verfolgung von Vermummungen einzig mit dem Ziel, das Anfertigen von Fotos des jeweiligen politischen Gegners zu verhindern, dazu führen, dass sich die Strafverfolgungsbehörden unwillentlich zum Werkzeug der jeweiligen politischen Gegner machen, deren Ziel das Verhindern solcher Demonstrationen ist.

Das LG Freiburg hatte in seiner jüngsten Entscheidung vom 14.07.2021 ähnlich entschieden und einen Versammlungsteilnehmer, der zuvor vom AG Freiburg[16] wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot verurteilt wurde, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, da der Angeklagte nicht mit dem erforderlichen Vorsatz, seine Identifikation zu verhindern, gehandelt habe. Der Angeklagte hatte an einer Versammlung gegen eine angemeldete Demonstration der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) teilgenommen. Hierbei war er mit einer schwarzen ins Gesicht gezogenen Mütze, einem blauen über den Kopf gezogenen Kapuzenpullover und einen blauen Schal bekleidet, welcher über den Mund bis zur Nasenwurzel hochgezogen war, sodass vom Gesicht nur noch die Augenpartie erkennbar und dadurch die Identifizierung unmöglich war. Nach Auffassung des LG Freiburg wurde die Kapuze auch zum Schutz vor dem andauernden Nieselregen über den Kopf und sein Schal zum Zwecke des Kälteschutzes über die Nase gezogen. Zur Tatzeit herrschte eine Temperatur von 3,7° bis 7,1° C.

Zudem sei der Angeklagte nicht dauerhaft vermummt gewesen. Er war auch unvermummt gefilmt worden, was er bemerkt haben musste, da er angeleuchtet und dabei teilweise in die Kamera des filmenden Polizeibeamten geblickt hat. Des Weiteren hätte sich der Angeklagte aus Angst vor einer Identifizierung durch die „Nazis“ vermummt, da er nicht von den Teilnehmern des AfD-Aufzuges, der in unmittelbarer Nähe an dem Angeklagten vorbeizog, fotografiert oder gefilmt habe werden wollen (antifaschistischer Selbstschutz). Er habe befürchtet, dass ein Foto von ihm in der rechten Szene bzw. auf entsprechenden Websites verbreitet und er dann einer zusätzlichen Gefährdung ausgesetzt sein würde, zumal er als Anhänger der linksextremen Szene bekannt sei.

Zudem zeigte sich der Angeklagte gegenüber der Polizei kooperativ. Denn auf Bitte eines Polizeibeamten bewegte sich der Angeklagte, deutlich auf dem Polizeivideo erkennbar, auf die Kamera und somit den Polizeibeamten zu und nannte dann in unmittelbarer Nähe der Kamera – mit gesenkter Stimme – seinen Namen und seine Anschrift. Die Kammer konnte angesichts dieser Umstände nicht ausschließen, dass sich der Angeklagte nur zur Vermeidung seiner Identifikation durch den politischen Gegner „vermummt“ hat und insofern gerade nicht den für § 27 Abs. 2 Nr. 2 VersG erforderlichen Vorsatz hatte.

Rechtsauffassung KG Berlin (Vermummung als abstraktes Gefährdungsdelikt)

Das AG Tiergarten hatte zunächst eine mit Schal und Kapuze vermummte Demonstrantin freigesprochen. Diese hatte sich in einer von der Polizei erfolgten Umschließung als Teil einer Gegendemonstration zu einem NPD-Aufmarsch befunden und sich jeweils beim Annähern des NPD-Aufzugs vermummt, indem sie ihr Gesicht mit einem schwarzen Fließtuch verhüllte; zudem zog sie die Kapuze ihres Pullovers über den Kopf, so dass von ihrem Gesicht nur noch die Augen zu sehen waren. Die Angeklagte wollte damit erreichen, dass sie für die von ihr erwarteten Film- und Fotoaufnahmen aus der NPD-Demonstration heraus nicht zu erkennen war. Nachdem der NPD-Aufzug nach einigen Minuten vorübergezogen war, nahm die Angeklagte sowohl die Kapuze als auch das Fließtuch wieder von ihrem Kopf, so dass sie für die Polizeibeamten wieder erkennbar war und ihr war bewusst, dass sie so unvermummt durch die Polizei gefilmt wurde.

Das KG Berlin hob den Freispruch am 07.10.2008 auf und verurteilte die vermummte Demonstrantin. Das KG Berlin vertrat die Auffassung, dass das AG Tiergarten mit seinen Ausführungen den Regelungsgehalt der §§ 17 a Abs. 2 Nr. 1, 27 Abs. 2 Nr. 2 VersammlG verkannt hatte, denn eine solche Auslegung der Normen sei weder nach dem Wortlaut noch nach dem Willen des Gesetzgebers geboten. Maßgebend für die Interpretation eines Gesetzes sei (ausschließlich) der in ihm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers.[17] Danach genüge es für ein Verbot, so das KG Berlin, dass die Vermummung objektiv geeignet und den objektiven Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität des so aufgemachten Demonstrationsteilnehmers zu verhindern. Weitere Merkmale enthält der Tatbestand nicht.

Das Vermummungsverbot nach § 17 a Abs. 1 VersammlG steht nämlich nicht unter dem Vorbehalt, dass nur Vollstreckungsbehörden gegenüber die Identität nicht verschleiert werden darf, sondern gilt uneingeschränkt wegen der abstrakten Gefahr, die von einer Vermummung bei einer Demonstration ausgeht. Denn die Entstehungsgeschichte des Gesetzes zeigt, so die weiteren Argumente des KG Berlin, dass der Wille des Gesetzgebers auf diese Art der Regelung gerichtet war. Mit der Einführung des Vermummungsverbotes als Straftat verfolgte der Gesetzgeber das Ziel, gewalttätige Ausschreitungen im Zusammenhang mit Demonstrationen einzudämmen und den damit verbundenen ernsthaften Störungen des Gemeinschaftsfriedens entgegenzuwirken. Die Vermummung wurde verboten, weil das Auftreten vermummter Demonstranten und der Ausbruch von Gewalttätigkeiten nach der Überzeugung des Gesetzgebers in einem eindeutigen Zusammenhang stehen[18].

Eine Aufmachung zur Verhinderung der Identitätsfeststellung ist dann verboten, wenn die Aufmachung den Umständen nach darauf gerichtet ist, die Feststellung der Identität zu verhindern. Weitere Voraussetzungen oder Einschränkungen enthält der Gesetzeswortlaut nicht. Weder bedarf es der zusätzlichen Feststellung, dass die Vermummung auch zur Friedensstörung geeignet ist, noch ist es erforderlich, dass die Verhinderung der Identifikation durch die Strafverfolgungsbehörden alleinige oder vorrangige Motivation sein muss. Maßgeblich ist allein die Tatsache der Vermummung, die sich aus der bereits dargestellten Entstehungsgeschichte des Gesetzes ergibt.

Der Gesetzgeber ging von der Annahme aus, „dass beim Auftreten von Vermummten oder passiv bewaffneten Personen ein unfriedlicher Verlauf“ der Demonstration zu erwarten sei und „dass heute Vermummung in aller Regel eine Vorstufe zum Gewaltausbruch darstelle“[19]. „Nach den auch in der Anhörung bestätigten praktischen Erfahrungen indiziere und provoziere das Auftreten Vermummter die Bereitschaft zur Gewalt und Begehung von Straftaten. Vermummte stellten bei einer Demonstration regelmäßig den Kern der Gewalttäter. Sie bestärkten diejenigen Demonstrationsteilnehmer, die ohnehin zur Anwendung von Gewalt neigten, in ihrer Gewaltbereitschaft und könnten in gleicher Weise auch Dritte schon durch ihr äußeres Erscheinungsbild (‚Schwarze Blöcke’) beeinflussen“[20]. Ziel des Gesetzgebers war es jedoch nicht, mit der Änderung des Versammlungsgesetzes lediglich hoheitlich handelnden Personen die Möglichkeit zu sichern, Versammlungsteilnehmer zu identifizieren, sondern eine allgemeine Regelung zum Verhindern abstrakter Gefahren zu schaffen. Die Annahme, dass Vermummungen kausal für das Entstehen gewaltsamer Auseinandersetzungen bei Versammlungen sind, wird selbst von Kritikern der gesetzlichen Regelung eingeräumt.

Die dargestellte Rechtsprechung und Begründung des KG Berlin wurde in den folgenden Jahren vom OLG Dresden (Beschluss v. 23.09.2013) und vom OLG Düsseldorf (Beschl. v. 28.3.2017) aufgegriffen und bestätigt.

Der dargestellten Rechtsauffassung vom 07.10.2008 widerspricht eine gegenteilige Entscheidung des KG Berlin vom 11.12.2012[21], nicht. Das KG Berlin hatte 2012 die Verurteilung eines Vermummten durch das AG Tiergarten und das LG Berlin mit dem Verweis aufgehoben, dass es dem Verurteilten an der erforderlichen Absichtshandlung (Kälteschutz statt Vermummungsabsicht) fehlen könnte.

Denn im oben genannten Fall nahm der Angeklagte am Nachmittag des 27. November 2010 an einer bis zum Ende friedlich verbliebenen Demonstration teil. Die angemeldete Versammlung wurde von Polizeibeamten zum Schutz gegen mögliche Ausschreitungen begleitet. Etwa 150 bis 200 Meter vor dem Endpunkt der Demonstrationsstrecke bemerkten die Polizei den Angeklagten, der sich kurz zuvor die Kapuze seiner schwarzen Jacke, die er damals unter seinem dunklen Anorak getragen hatte, bis zu den Augen über den Kopf und seinen dunkelbraunen Schal soweit über die Nase gezogen hatte, dass sein Gesicht bis auf die Augenpartie verdeckt war. Es herrschte eine Temperatur um -3°C. Dem Angeklagten war „aus der Erfahrung als Teilnehmer von früheren Demonstrationen bewusst, dass eine so weit gehende Gesichtsbedeckung bei Versammlungen unter freiem Himmel wegen der Schwierigkeit des möglicherweise erforderlichen Identitätsnachweises verboten war. Er wusste, dass die den Zug begleitenden Polizeibeamten zur Verhinderung von derartigen Vermummungen präventiv einschreiten dürfen. “Gleichwohl entschied der Angeklagte sich für diese „Form des Kälteschutzes“, da er der Auffassung war, der Gesetzgeber dürfe ihm hinsichtlich der „zum Kälteschutz“ getroffenen Vorkehrungen keine verbindlichen Vorschriften machen, jedenfalls müsse er diese nicht beachten, „wenn sein Motiv allein darin liegt, unangenehm kalte Witterungseinflüsse konsequent von sich fern zu halten.“

„Die Feststellungen des angefochtenen Urteils belegen zwar rechtsfehlerfrei, so das KG Berlin, dass der Angeklagte an einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel in einer Aufmachung teilgenommen hat, die geeignet war, die Feststellung seiner Identität zu verhindern. Jedoch vermögen sie nicht zu belegen, dass die Aufmachung auch darauf gerichtet war, die Identitätsfeststellung zu verhindern. Auf die Verhinderung der Identitätsfeststellung gerichtet ist die Aufmachung erst dann, wenn der Versammlungsteilnehmer durch sie die Feststellung der Identität verhindern will, mithin absichtlich handelt.“

Fazit und Bewertung

Unstrittig in der aktuellen Rechtsprechung ist, dass für die Verwirklichung der Strafnorm des Vermummungsverbots, eine Vorsatzhandlung (Absicht) hinsichtlich der Verhinderung der Identitätsfeststellung gegeben sein muss.

Strittig ist jedoch, ob eine Identitätsverhinderung aufgrund ihrer abstrakten Gefährdung (Förderung der Gewalttätigkeit und Animation Dritter hierzu) grundsätzlich ausreichend ist (Rechtsprechung KG Berlin, OLG Dresden und OLG Düsseldorf) oder ob zur Tatbestandsmäßigkeit ausschließlich die Verhinderung der Identitätsfeststellung zu Strafverfolgungszwecken (Straftat oder Ordnungswidrigkeit) gefordert ist (Rechtsprechung LG Hannover u. LG Freiburg). Hier wäre eine höchstrichterliche Entscheidung wünschenswert.

Unstrittig wiederum ist jedoch, dass die Vermummung geeignet sein muss, die Feststellung der Identität zu verhindern. Dies ist gegeben, wenn die physiognomischen Besonderheiten des Gesichts nicht mehr erkannt werden können. Keine Vermummung liegt vor, wenn sie künstlerischem Ausdruck dient oder dem Kälte- oder Wärmeschutz dient. Ob diese Kriterien vorliegen, bedarf der Bewertung der objektiven Umfeldbedingungen (Kälte, Minusgrade, Regen oder Sonnenschein und Wärme).

Im Fazit ist zu attestieren, dass zumindest im Geltungsbereich des (Bundes-) VersG, die Auslegung des KG Berlin v. 07.10.2008 – Vermummung allein genügt, denn sie fördert Gewalt und stellt somit eine abstrakte Gefährdung der Sicherheit und Ordnung dar – argumentativ vertreten werden kann.

 


[1] vgl. BT-Drs. 11/4359, Seite 14

[2] vgl. BT-Drs. 11/2834, S. 12

[3] KG, Urteil vom 07.10.2008 – (4) 1 Ss 486/07 (286/07)

[4] OVG Bautzen, Urt. v. 31.5.2018 – 3 A 199/17; KG Berlin, Urt. v. 12.6.2002 – (5) 1 Ss 424/00 (6/01); VG Leipzig, Urt. v. 17.6.2016 – 1 K 1273/15.

[5] Physiognomie: Äußeres Erscheinungsbild eines Lebewesens, insbesondere eines Menschen und hier speziell die für einen Menschen charakteristischen Gesichtszüge. (https://de.m.wikipedia.org 10.10.2021)

[6] Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, VersR, 5. Aufl. 2020, Kap.V 4.2.1, S. 248.

[7] vgl. OLG Rostock, Beschl. v. 28.8.2007 – 3 W 109/07 oder KG Berlin, Urt. v. 7.10.2008 – (4) 1 Ss 486/07 (286/07)

[8] so auch Ullrich, in NVersG, 2. Aufl. 2018, § 9 Rn. 18

[9] BVerfG, Beschl. v. 25.10.2007 – 1 BvR 943/02

[10] Das Kammergericht (KG) ist das höchste Berliner Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Es ist somit das „Oberlandesgericht (OLG)“ des Landes Berlin. Der Kammergerichtsbezirk umfasst das vollständige Gebiet des Bundeslandes Berlin. Zu dem Bezirk gehören ein Landgericht und elf Amtsgerichte.

[11] KG Berlin, Urt. v. 7.10.2008 – (4) 1 Ss 486/07 (286/07)

[12] OLG Düsseldorf, Beschl. v. 28.3.2017 – III-3 RVs 17/17, 3 RVs 17/17

[13] OLG Dresden Beschl. v. 23.9.2013 – 2 OLG 21 Ss 693/13

[14] LG Hannover, Urt. v. 20.1.2009 – 62 c 69/08; ebenso AG Wuppertal, Beschl. v. 2.12.2015 – 25 DS 521 Js 17/15 – 68/15

[15] LG Freiburg, 36/20 11 Ns 510 Js 21959/19

[16] AG Freiburg, 32 Cs 510 Js 21959/19

[17] vgl. BVerfGE 79, 106 (121) = NJW 1985, 1599

[18] vgl. BT-Drs. 11/4359, Seite 14

[19] vgl. BT-Drs. 11/2834, S. 12

[20] vgl. BT-Drs. 11/4359 S. 14

[21] KG Berlin, Beschluss vom 11.12.2012 – (4) 161 Ss 198/12 (310/12)