Rechtmäßigkeit des Verbringungsgewahrsams

Eine Darstellung rechtlicher Aspekte für die polizeiliche Praxis

Von Polizeioberkommissar Marko Saric, PP Münster

A. Einleitung und Zielsetzung

Die Ingewahrsamnahme zählt seit jeher zu den Standardmaßnahmen und ist insoweit aus dem präventiven Tätigkeitsfeld der Polizei nicht mehr wegzudenken. Hierbei stellt sie eine der eingriffsintensivsten Maßnahmen dar. Im Alltagsgeschäft der Polizei können sich allerdings Konstellationen ergeben, in denen zwar die Voraussetzungen einer Ingewahrsamnahme nach § 35 PolG NRW vorliegen, die Gefahr im Einzelfall jedoch auch durch eine weniger intensive Rechtsfolge abgewehrt werden kann. In solchen Situationen greift die Polizei deshalb auf den sog. „Verbringungsgewahrsam“ zurück, welcher seit Jahrzehnten fester Bestandteil polizeilicher Praxis ist.

Dabei werden Personen oder Personengruppen mittels eigens dafür bereitgestellter Fahrzeuge (zumeist Streifenwagen oder Bussen) von einem zu einem anderen Ort verbracht, um eine von dieser Person oder Personengruppe ausgehende konkrete Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwehren. Regelmäßig ergeht gegen diese Personen im Vorfeld ein Platzverweis nach § 34 Abs. 1 S. 1 PolG NRW. In seltenen Fällen schließt sich der Verbringungsgewahrsam auch an ein bereits erlassenes Aufenthaltsverbot nach § 34 Abs. 2 S. 1 PolG NRW an.[2] Die Dauer der Verbringung selbst hängt dabei stark vom Einzelfall ab. Im Unterschied zur klassischen Ingewahrsamnahme nach § 35 PolG NRW ist es den Personen nach dem Verbringen an einen anderen Ort wieder möglich, sich frei zu bewegen.

Hinsichtlich der rechtlichen Konstruktion dieser Maßnahme herrscht bis heute Rechtsunsicherheit. Für Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte ist diese Frage vor allem wegen der Gefahr einer Strafbarkeit nach §§ 221, 239, 240 StGB sowie beamten- und disziplinarrechtlichen Konsequenzen interessant. Vor diesem Hintergrund ist eine einheitliche, insbesondere rechtssichere Anwendung dieses Instrumentes in der polizeilichen Praxis notwendig.

Ziel dieser Ausarbeitung ist es daher zunächst, die rechtlichen Fragestellungen rund um den Verbringungsgewahrsam darzustellen und diese einer rechtlichen Lösung zuzuführen. Herleitung und Anwendung der Maßnahme sollen aufgezeigt werden.

B. Rechtliche Einordnung des Verbringungsgewahrsams

Mangels expliziter Ermächtigungsgrundlage im Polizeigesetz NRW, wird der Verbringungsgewahrsam in der polizeilichen Praxis bisher uneinheitlich hergeleitet und konstruiert. Zusätzlich ist der Verbringungsgewahrsam im Schrifttum seit mehr als 30 Jahren umstritten.[3] Daher werden zunächst grundrechtliche Aspekte des Verbringungsgewahrsams polizeispezifisch dargestellt und anschließend erläutert, auf welche Weise der Verbringungsgewahrsam im Polizeigesetz NRW begründet werden kann.

I. Grundrechtseingriff

In der Diskussion über die grundrechtlichen Bezüge des Verbringungsgewahrsams stehen zwei Grundrechte im Mittelpunkt: Die Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bzw. Art. 104 Abs. 1 GG und die Freizügigkeit gemäß Art. 11 Abs. 1 GG. Vereinzelt werden auch die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG und sogar die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG in die Überlegungen miteinbezogen.[4] Ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG liegt dann vor, wenn Personen zu reinen Objekten staatlichen Handels degradiert werden.

Um dies zu verhindern, hat die Polizei stets die Umstände des Einzelfalls in ihre Überlegungen einzubeziehen. Die Rechtsprechung führt insoweit aus, dass „jedenfalls […] auch die Tages- und Jahreszeit, die konkreten Witterungsverhältnisse an dem betreffenden Tag, das Alter und mögliche gesundheitliche Beeinträchtigungen […] in die polizeiliche Abwägung einzubeziehen“ seien.[5] Daneben ist die Beschaffenheit des Verbringungsorts von erheblicher Bedeutung. Das heißt, die Möglichkeit sich dort zu orientieren, vor allem ein Verkehrsmittel zu finden, und sich zu verpflegen. Werden die genannten Aspekte in hinreichendem Maße berücksichtigt, sollte die Maßnahme eines Verbringungsgewahrsams nicht mit der Menschenwürde in Konflikt stehen.[6]

Der Verbringungsgewahrsam beeinträchtigt den Betroffenen in seinem Bleiberecht, das als negative Freizügigkeit auch den Schutz des Art. 11 Abs. 1 GG genießt.[7] Aufgrund der regelmäßig kurzen Fahrt von ca. 30 Minuten wird den Personen jedoch die Möglichkeit gegeben, innerhalb weniger Stunden an den Ausgangsort zurückzukehren. Auch wenn keine Verkehrsmittel zur Verfügung stehen.[8] In den Schutzbereich der Freizügigkeit gemäß Art. 11 Abs. 1 GG wird insoweit zwar eingegriffen, jedoch ist dieser Eingriff aufgrund der kurzen Dauer verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

Durch den Verbringungsgewahrsam liegt hingegen stets ein Eingriff in die Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2, 104 Abs. 1 GG vor, da betroffene Personen im Fahrzeug festgehalten werden. Während dieses Transportprozesses wird die Bewegungsfreiheit etwaiger Adressaten in jede Richtung hin aufgehoben bzw. auf einen eng umgrenzten Raum beschränkt. Entscheidend ist hierbei allerdings die jeweilige Ausprägung dieses Eingriffs. Es muss deswegen gefragt werden, wann durch den Verbringungsgewahrsam im Einzelfall die Grenze von einer Freiheitsbeschränkung nach Art. 2 Abs. 2 S. 2, 104 Abs. 1 GG, hin zur Freiheitsentziehung nach Art. 2 Abs. 2 S. 2, 104 Abs. 2 bis 4 GG überschritten wird.

Die Rechtsprechung nimmt allein beim Vorliegen eines unfreiwilligen Ortswechsels sowie dem Vorliegen eines Zwangselementes, sei es der Einsatz unmittelbaren Zwangs oder dessen unmittelbare Androhung, eine Freiheitsentziehung nach Art. 2 Abs. 2 S. 2, 104 Abs. 2 bis 4 GG an.[9] Sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung herrscht Einigkeit darüber, dass etwaige Maßnahmen zur Subsumierung einer Freiheitsentziehung von einer gewissen (Mindest-)Dauer von mehreren Stunden stattfinden müssen, die ganz flüchtige Eingriffe überschreitet.[10]

Entscheidender Aspekt ist dabei die Eingriffsintensität des Verbringungsgewahrsams.[11] Maßgebliches Kriterium zur Ermittlung dieser Intensität, ist wiederum die Dauer der Maßnahme. Die Rechtmäßigkeit des Verbringungsgewahrsams muss sich somit an dieser rechtsdogmatischen Abgrenzung messen lassen. Die Literatur tendiert dabei zu einer weiten Auslegung des Art. 104 Abs. 2 GG und nimmt eine Freiheitsentziehung bei einer Dauer der Verbringung von zwei bis drei Stunden an.[12] Die Rechtsprechung geht im Lichte von Art. 5 EMRK hingegen von einer restriktiveren Auslegung des Art. 104 Abs. 2 GG aus und fordert einen Zeitraum, der jedenfalls nicht mehr unbedeutend ist.[13] Dies sei jedenfalls dann anzunehmen, wenn die Dauer der Unterbringung mehr als vier Stunden überschreitet.[14] Auf das Motiv oder den (sei es repressiven, sei es präventiven, sei es fürsorglichen) Zweck des Freiheitsentzugs komme es dabei nicht an.[15] Somit stellt sich in der polizeilichen Praxis für den jeweiligen Einzelfall die Frage, ab welcher Dauer der Maßnahme ein freiheitsentziehender Charakter einer solchen anzunehmen ist. Dabei zu berücksichtigen ist auch, dass im Rahmen des Verbringens die Intention der Polizei schwerpunktmäßig nicht auf die Begründung eines etwaigen Gewahrsamverhältnisses gerichtet ist. Vielmehr sollen Personen an einen Ort verbracht werden, an dem sie keine konkrete Gefahr mehr verursachen können. Der Rechtsprechung ist hier zu folgen und eine damit einhergehende restriktivere Anwendung der Voraussetzungen des Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG. Daher sollte im Falle der Anordnung des Verbringungsgewahrsams spätestens dann vom Vorliegen einer freiheitsentziehenden Maßnahme nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 Abs. 2 bis 4 GG ausgegangen werden, wenn ohne wesentliche zeitliche Zäsur mehr als vier Stunden zwischen dem erstmaligen Festhalten von Personen und dem Erreichen der gewünschten Destination der Adressaten vergehen.

II. Ermächtigungsgrundlage

Die Frage nach der rechtlichen Grundlage für die Maßnahme des Verbringungsgewahrsams ist in Theorie und Praxis von zentraler Bedeutung. Der Variantenreichtum der aus der Rechtslehre herrührenden Lösungen wird dabei aus dem Umstand gespeist, dass sich in dieser Frage auch Kombinationen aus verschiedenen polizeilichen Befugnisnormen bilden lassen.[16] Zusammengefasst existieren drei substantiierte Konstruktionen:

1. Die vollstreckungsrechtliche Lösung

Teilweise wird angenommen, der Verbringungsgewahrsam stelle seinem Wesen nach Verwaltungszwang zur Durchsetzung eines Platzverweises nach §§ 34 Abs. 1, 50 Abs. 1, 55 Abs. 1 PolG NRW dar.[17] Gegen diese Annahme sprechen jedoch rechtsdogmatische Gedanken des Vollstreckungsrechts. Beim Verbringungsgewahrsam wird nicht nur das Verbot umgesetzt, an einem bestimmten Ort zu verbleiben, sondern auch das Gebot, sich an einen bestimmten Ort zu begeben, an dem die Polizei den Betroffenen zurücklässt. Eine Anordnung, die den Adressaten dazu verpflichtet, einen bestimmten Ort aufzusuchen, lässt der Wortlaut des § 34 Abs. 1 PolG NRW jedoch nicht zu.[18] Der Regelungsgehalt des Platzverweises erschöpft sich darin, dem Bürger aufzuerlegen, einen bestimmbaren Bereich vorübergehend nicht mehr zu betreten. Die Polizei kann die Person jedoch nicht an einen anderen Ort verbringen, da eine solche Maßnahme den vollstreckbaren Regelungsgehalt des ursprünglich erlassenen Verwaltungsaktes überschreitet. Ein Platzverweis, der dem Betroffenen vorgibt, wohin er sich zu begeben hat, ist wegen Ermessensüberschreitung rechtswidrig.[19] Die vollstreckungsrechtliche Lösung scheidet damit aus.

2. Lösung über die Standardmaßnahme der Ingewahrsamnahme

Als Rechtsgrundlage für den Verbringungsgewahrsam kommen sowohl der Sicherheitsgewahrsam nach § 35 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW als auch eine Ingewahrsamnahme zur Durchsetzung eines Platzverweises nach §§ 35 Abs. 1 Nr. 3, 34 Abs. 1 PolG NRW in Betracht. Die Lösung über die Standardmaßnahme der Ingewahrsamnahme wird insbesondere in der Rechtsprechung favorisiert.[20] Sie stößt jedoch auch in der Rechtslehre auf große Zustimmung.[21] Eine direkte Anwendung der Standardbefugnis wird in der Regel allerdings weder von den Verwaltungsgerichten, noch in der Literatur postuliert.[22] Der Verbringungsgewahrsam stelle vielmehr eine Minusmaßnahme der jeweiligen Variante der Ingewahrsamnahme dar.[23] Rechtsmethodisch steckt hinter dieser Konstruktion ein argumentum a maiore ad minus (Erst-Recht-Schluss).[24] Diese Konstruktion wird in der Literatur[25] jedoch auch vereinzelnd abgelehnt. Es sei schon zweifelhaft, ob die Verbringung des Maßnahmeadressaten gegenüber der herkömmlichen Ingewahrsamnahme stets oder jedenfalls in der überwiegenden Zahl der Fälle als milderes Mittel, und damit als Minusmaßnahme zu qualifizieren sei. Grund hierfür sei, dass der Verbringungsgewahrsam in unterschiedlicher Weise durchgeführt werden könne. Das Urteil über seine Eingriffsintensität hänge somit entscheidend von den Umständen des Einzelfalls ab (Entfernung zum Ausgangsort, Witterungsverhältnisse, Uhrzeit, physische Konstitution des Betroffenen usw.). Die Zulässigkeit einer „Minusmaßnahme“ sei daran zu knüpfen, dass ihre Wirkrichtung mit derjenigen der rechtlich geregelten schwerwiegenderen Maßnahme identisch sei. Hiervon sei mit Blick auf den Verbringungsgewahrsam sowie dem herkömmlichen Polizeigewahrsam nicht auszugehen.[26] Diese Überlegungen überzeugen im Ergebnis nicht. Die Zulässigkeit etwaiger Minusmaßnahmen bestimmt sich nicht danach, ob Minus- und schwerwiegendere Maßnahme dieselbe Wirkrichtung haben. Grundgedanke der Minusmaßnahmen ist, dem Adressaten eine ihn weniger beeinträchtigende Rechtsfolge aufzuerlegen, als die schwerwiegendere Maßnahme es zulassen würde, um seine rechtlichen Interessen zu schützen. Zielrichtung der Polizei ist stets die Gefahrenabwehr oder die  (effektive) Strafverfolgung. Als jeweilige Wirkrichtung muss die Rechtsfolge gesehen werden, da das rechtliche Wirken polizeilicher Maßnahmen sich letztlich darin manifestiert, welches Tun, Dulden oder Unterlassen dem Bürger auferlegt werden kann.

Somit sind Ziel- und Wirkrichtung polizeilicher Maßnahmen zwar zwei Seiten derselben Medaille, jedoch muss dennoch zwischen ihnen unterschieden werden. Als praxisrelevantes Beispiel sei hier auf Minusmaßnahmen der Polizei in Zusammenhang mit dem abschließenden Regelwerk des Versammlungsrechts verwiesen.[27] Um gerade diese mildere Beeinträchtigung zu gewährleisten, muss die Wirkrichtung bzw. Rechtsfolge der Minusmaßnahme sich von derjenigen der Standardmaßnahme unterscheiden, um die subjektiven Rechte bzw. Grundrechtspositionen des Adressaten zu schützen. Wenn die Voraussetzungen für eine Ingewahrsamnahme (ungeachtet der Tatbestandsvariante) und somit auch die Voraussetzungen für eine Freiheitsentziehung nach Art. 2 Abs. 2 S. 2, 104 Abs. 2 bis 4 GG erfüllt sind muss es erst recht möglich sein, den Adressaten im Rahmen einer lediglich freiheitsbeschränkenden Maßnahme an einen anderen Ort zu verbringen. Anderes wäre nur zu diskutieren, wenn der Verbringungsgewahrsam die Dauer von 4 Stunden überschreitet und so ebenfalls als freiheitsentziehende Maßnahme zu qualifizieren wäre. Diese Überlegung kann jedoch dahinstehen, da in der Praxis die Verbringung selten die Dauer von 30 bis 60 Minuten überschreitet.[28] Der Gedanke, den Verbringungsgewahrsam als wesensgleiches Minus zur (Standard)-Ingewahrsamnahme nach § 35 PolG NRW zu deklarieren, um die Interessen etwaiger Adressaten zu berücksichtigen, erscheint daher im Lichte rechtsstaatlicher Polizeiarbeit legitim und sachgerecht. Zu diesem Ergebnis kommt, neben der ständigen Rechtsprechung[29], auch die Landesregierung Nordrhein-Westfalen.[30]

3. Lösung über die Generalklausel

Eine weitere Möglichkeit der Herleitung des Verbringungsgewahrsams eröffnet der Rückgriff auf die Generalklausel nach § 8 Abs. 1 PolG NRW.[31] D ie Rechtsprechung kommt jedoch unter der Annahme eines freiheitsentziehenden Charakters des Verbringungsgewahrsams zu dem Schluss, dass die §§ 9 bis 46 PolG NRW als lex specialis die Freiheitsentziehung von Personen abschließend regeln. Darüber hinaus sei eine polizeiliche Generalklausel aufgrund der in Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG niedergelegten Anforderungen an Freiheitsentziehungen kein Befugnistyp, der diese besonders intensive Form der Beschränkung körperlicher Bewegungsfreiheit zu tragen imstande sei.[32]

Auch in der Literatur wird die Lösung über eine polizeiliche Generalklausel fast ausnahmslos verworfen.[33] Der Rückgriff auf die Generalklausel solle scheitern, weil erstens die Standardbefugnisse (Ingewahrsamnahme, Platzverweisung) existieren,[34] zweitens eine abschließende Regelung freiheitsentziehender Maßnahmen in den Polizeigesetzen vorläge[35] und drittens – eng damit zusammenhängend – der Befugnistyp einer Generalklausel unvereinbar mit freiheitsentziehenden Maßnahmen sei.[36]

Insoweit sind die Ausführungen von Rechtsprechung und Literatur nicht zu beanstanden. Allerdings verkennen die zuvor gemachten Erwägungen, dass sich in der Regel die Rechtsnatur des Verbringungsgewahrsams nach den Kriterien der Rechtsprechung nicht als Freiheitsentziehung, sondern als Freiheitsbeschränkung von lediglich kurzer Dauer darstellt. Daher muss gefragt werden, ob sich bei Zugrundelegung dieser Annahme etwas anderes ergäbe. Vor dem Hintergrund der Annahme eines lediglich freiheitsbeschränkenden Charakters ist eine Sperrwirkung der lex specialis §§ 9 bis 46 PolG NRW zunächst nicht anzunehmen, da eine freiheitsbeschränkende Verbringung hinter der Ingewahrsamnahme zurückbleibt.[37] Gegen das Stützen auf die Generalklausel spricht jedoch weiterhin die großzügige, regelmäßige Anwendung dieses Instruments in der polizeilichen Praxis. Der Verbringungsgewahrsam ist eine Maßnahme, welche seit mehr als 30 Jahren nicht nur im Rahmen größerer Einsatzlagen, sondern auch im Bereich des Streifendienstes regelmäßig angewandt wird. Daher ist der Verbringungsgewahrsam als typische Maßnahme fester Bestandteil des polizeilichen Alltaggeschäfts. Teile der Literatur halten es daher zurecht für unzulässig, eine solch polizeitypische Maßnahme auf eine lex generalis zu stützen.[38] Der dogmatische Gedanke des Gesetzgebers von lex generalis im Gefahrabwehrrecht ist gerade der, dass das Leben eine endlose Anzahl an Sachverhaltskonstellationen parat hält und eben nicht jeder Fall vom Wortlaut des Gesetzes erfasst werden kann. Als sog. Auffangtatbestand bindet § 8 Abs. 1 PolG NRW die Polizei daher aufgrund seiner Spezialität und Subsidiarität an eine entsprechend strenge, restriktive Anwendung.[39] Folglich erscheint die rechtliche Konstruktion des Verbringungsgewahrsams über die polizeiliche Generalklausel nach § 8 Abs. 1 PolG NRW unzulässig.

C. Fazit und Handlungsempfehlung

Der Verbringungsgewahrsam ist seit mehr als 30 Jahren fester Bestandteil polizeilicher Arbeit und hat in zahlreichen Einsatzlagen großen praktischen Nutzen gezeigt. Die Rechtsfolge des Verbringens an einen anderen Ort ist jedoch nicht explizit im PolG NRW geregelt. Für die Polizei ergibt sich somit ein erhöhter Begründungsbedarf in Bezug auf die Rechtsgrundlage einer solchen Maßnahme. Im Gegensatz zur vollstreckungsrechtlichen Lösung und der Anwendung der Generalklausel kann die Lösung über die Standardmaßnahme der Ingewahrsamnahme in Form einer Minusmaßnahme überzeugen. In zukünftigen Fällen wird diese Lösung daher im Falle der Überprüfung durch die Verwaltungsgerichte Bestand haben. Für die Rechtmäßigkeit und der damit einhergehenden Begründetheit einer verwaltungsgerichtlichen Überprüfung der Maßnahme erscheinen vor allem zwei Faktoren relevant:

Zunächst sollte vor Durchführung der Maßnahme festgestellt werden, ob in der Rechtsfolge der Verbringung im konkreten Sachverhalt überhaupt ein wesensgleiches Minus zur Ingewahrsamnahme vorliegt. Dafür ist wiederum die Ausgestaltung des Grundrechtseingriffs in die Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in Form der Freiheitsbeschränkung immanent. Diese Abgrenzung legitimiert den Verbringungsgewahrsam in Form einer Minusmaßnahme zur klassischen Ingewahrsamnahme als freiheitsentziehende Maßnahme. Dazu sollte bereits während des Entscheidungsprozesses die Dauer der Verbringung prognostiziert werden. Wird dabei festgestellt das die Verbringung 4 Stunden voraussichtlich nicht überschreiten wird, stellt diese aufgrund der oben dargestellten Aspekte in der Regel lediglich eine Freiheitsbeschränkung dar. Dieses Ergebnis sollte im Falle einer späteren gerichtlichen Überprüfung schriftlich dokumentiert werden.

Anschließend stellt sich die Frage, ob die geplante Verbringung vor dem Hintergrund einer freiheitsbeschränkenden Maßnahme auch materiell rechtmäßig, insbesondere ob sie im Einzelfall auch verhältnismäßig ist. Hier bieten sich Ausführungen zur Erforderlichkeit des Verbringungsgewahrsams als Minusmaßnahme zur Ingewahrsamnahme an. Der Verbringungsgewahrsam beeinträchtigt den Betroffenen aufgrund seines in der Regel lediglich freiheitsbeschränkenden Charakters weniger als eine freiheitsentziehende Ingewahrsamnahme. Im Rahmen der Angemessenheit ist der Grundrechtseingriff in die Freiheit der Person in Form aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG der Freiheitsbeschränkung mit dem legitimen Ziel der Gefahrenabwehr abzuwägen. Dabei sind insbesondere die konkreten Tagesfaktoren (Alter der Personen, Witterung, Tageszeit, Temperatur, Infrastruktur, etc.) in die Abwägung miteinzubeziehen und besonders zu gewichten. In dieser Hinsicht ergeben sich jedoch weniger hohe Anforderungen, da die Voraussetzungen für eine stärker beeinträchtigende Ingewahrsamnahme bereits vorliegen.


[2] Schucht, DÖV 2011, 553.

[3] Schucht, DÖV 2011, 554; BeckOK PolR Nds/Waechter NPOG § 18 Rn. 56-58.

[4] Schucht, DÖV 2011, 555.

[5] OVG Bremen, Urt. v. 4.11.1986, 1 BA 15/86, NVwZ 1987, 235 (237).

[6] Hasse/Mordas, ThürVBl 2002, 101 (101 f.); s. aber auch Kappeler, DÖV 2000, 227 (233).

[7] Zur negativen Freizügigkeit: Pieroth/ Schlink, Staatsrecht, Bd. II: Grundrechte, 26. Aufl. 2010, Rn. 867.

[8] Vgl. dazu Hasse/Mordas, ThürVBl 2002, 101 (104).

[9] BVerfGE 105, 239/248; 94, 166/198; BGHZ 145, 297/303; Jarass/Pieroth, 16. Aufl. 2020, GG Art. 104 Rn. 11-13.

[10] VerfG (K), NVwZ 2011, 743 (746); BVerwGE 62, 325 (327 f.); Jarass/Pieroth, GG, Art. 104 Rn. 11; Müller-Franken, Art. 104 Rn. 33; A. Schieder, KritV 83 (2000), 218 (222); a.A. Wehowsky, Art. 104 Rn. 11; Gusy, NJW 1992, 457 (458 ff.), der dort noch auf die Eigenschaft als selbständige Hauptpflicht abstellte; ähnlich Rüping, Art. 104 Rn. 58.

[11] Gusy, in: Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Aufl. 2010, Art. 104 Rn. 19; Herzmann, Ausgangssperren auch in Deutschland, DÖV 2006, 678 (682).

[12] Schucht, DÖV 2011, 553: Etwa zwei Stunden; Hasse/Mordas, ThürVBl 2002, 101 (103): Länger als etwa zwei bis drei Stunden.

[13] BVerfG,- NVwZ 2011, 743 (746); vgl. auch BVerfG NJW 2004, 3697; BVerfG NJW 2018, 2619 (2621).

[14] BVerfG,- NVwZ 2011,743 Rn. 29.

[15] Müller-Franken, Art. 104 Rn. 33 f.; Kunig, Art. 104 Rn. 17, 19; auch Gusy, HGR IV, § 93 Rn. 16 ff.; Dürig,  Art. 104 Rn. 6; ausf. Heidebach, Grundrechtsschutz, S. 50 ff.; a.A. Rüping, Art. 104 Rn. 57; Hoffmann, DVBl. 1970, 473 (475).

[16] Schucht, DÖV 2011, 553.

[17] Deger, in: Wolf/Stephan, Polizeigesetz für Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2009, § 28 Rn. 6.

[18] Zutreffend: Gusy, PolR Nds Rn. 297 mwN; SBK PolG NRW/Keller Rn. 2

[19] Robrecht/Petersen, Thrö SächsVBl. 2006, 29 (32).

[20] BayObLG, Beschl. v. 6.7.1989, BReg 3 Z 22/89, NVwZ 1990, 196 f.; OVG Bremen, Urt. v. 4.11.1986, 1 BA 15/86, NVwZ 1987, 237.

[21] Hasse/Mordas, ThürVBl 2002, 130 (132); Prümm/Sigrist, Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2003, Rn. 253; Leggereit, NVwZ 1999, 263 (264 f.); Niethammer, BayVBl 1989, 449 (454).

[22] Schucht, DÖV 2011, 557.

[23] Vgl. nur Hasse/Mordas, ThürVBl 2002, 130 (132); Köbschall, Die Polizei 88 (1997), 263 (267).

[24] Schucht, DÖV 2011, 556.

[25] BeckOK PolR NRW/Ogorek, 19. Ed. 1.9.2021, PolG NRW § 34 Rn. 21.

[26] BeckOK PolR NRW/Ogorek, 19. Ed. 1.9.2021, PolG NRW § 34 Rn. 21, 22.

[27] NVwZ 1999, 263 (264).

[28] Vgl. Schucht, DÖV 2011, 556.

[29]  NVwZ 1999, 263 (263).

[30] LT-NRW – Drs. 17/12516: „Unter den beschriebenen Umständen wäre die Ingewahrsamnahme durch Festhalten in einer Gewahrsamszelle über einen längeren Zeitraum grundsätzlich ebenfalls in Betracht gekommen. Dies hätte die Betroffenen jedoch wesentlich schwerwiegender in ihren Rechten eingeschränkt. Insbesondere vor dem Hintergrund der anzunehmenden Dauer der Verbringung einer Vielzahl von Personen zur Gefangenensammelstelle sowie des Festhaltens an einem eng umgrenzten Ort (u. a. im Zusammenhang mit dem Transport sowie der Verwahrung in einer Gewahrsamszelle) war eine deutlich schwerwiegendere  Grundrechtsbeeinträchtigung anzunehmen. Die Freiheitsentziehung im Rahmen des Verbringungsgewahrsams kann somit in diesen konkreten Einzelfällen als weniger beschwerend für die in Gewahrsam genommenen Personen bezeichnet werden.“

[31] So auch Schucht, DÖV 2011, 553.

[32] Bisher die einzige Entscheidung die sich mit der Anwendung der Generalklausel im Falle des Verbringungsgewahrsams beschäftigt hat: LG Hamburg, Beschl. v. 14.6.1996, 608 Qs 18/96, NVwZ-RR 1997, 539.

[33] Anders nur – soweit ersichtlich – Schmitz, Straßen- und polizeirechtliches Vorgehen gegen Randgruppen (Bettler, Land- und Stadtstreicher), 2003, S. 275 f.; Baldarelli, Die Polizei 79 (1988), 61 (68 f.).

[34] Schucht, DÖV 2011, 553.

[35] Schucht, DÖV 2011, 553.

[36] Schucht, DÖV 2011, 553.

[37] Schucht, DÖV 2011, 553.

[38] Schucht, DÖV 2011, 559.

[39] Ausdruck dieser Grundsätze deutet der Gesetzgeber mit der Regelung des § 8 Abs. 2 PolG NRW an.