Racial Profiling – Anmerkungen

von Prof. Dr. Thomas Ley, Frankfurt a. M.

Dass die deutsche Polizei eine dem Grundgesetz verpflichtete Institution ist, die dem „Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung“ unterliegt und aufgrund ihres Gewaltmonopols für die innere Sicherheit des deutschen Staates von zentraler Bedeutung ist, dürfte weithin ebenso unbestritten sein, wie die Tatsache, dass sie in den letzten Jahren durch die Zuwanderung von Menschen aus fremden Ländern und Kulturen vor große Herausforderungen gestellt war und auch zukünftig gestellt sein wird.

Vor dem Hintergrund der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse wird seit einigen Jahren kritisiert, dass die Polizei bei Kontrollen insbesondere solche Menschen kontrolliert, die eine andere Hautfarbe oder andere Fremden zugeschriebene äußerliche (phänotypische) Merkmale des Fremden aufweisen. Geäußert wird diese Kritik nicht nur von Menschenrechtsorganisationen, sondern auch von Betroffenen- bzw. Opferorganisationen und von Menschen, die sich als Opfer rassistischer Polizeikontrollen zu Wort melden. Zudem ist Racial Profiling ein politisches Thema, das im parlamentarischen Raum verhandelt wird und aufzeigt, wie schnell die Polizei zum „Politikum“ werden kann.

Die Polizei reagiert auf die geäußerte Kritik erwartungsgemäß zurückhaltend bis abwehrend. Und was sollte sie als Exekutive im demokratischen Rechtsstaat auch anderes tun, ist doch evident, dass die Kritiker ihr mehr oder weniger vorwerfen, gegen das Grundgesetz, die Menschenwürde, den Gleichbehandlungsgrundsatz, die informationelle Selbstbestimmung oder gegen Strafgesetze zu verstoßen. Und das sind schwerwiegende Vorwürfe , die geeignet sind, das Vertrauen in die Arbeit der Polizei zu beeinträchtigen, sodass sich die Frage stellt, ob diese Vorwürfe eine materiale Basis haben.

Dazu kann man zunächst sagen, dass in der Literatur wiederholt auf einen Fall von Racial Profiling hingewiesen wird , der sowohl beim Amtsgericht, beim Oberlandesgericht, beim Verwaltungsgericht und schließlich beim Oberverwaltungsgericht verhandelt wurde. Dieser Fall zeigt zum einen auf, dass Fälle von Racial Profiling sowohl staatsanwaltschaftlich als auch gerichtlich ernst genommen werden, wenn sie zur Anzeige gebracht werden. Er zeigt zum anderen auch, dass ein Sachverhalt auf gerichtlicher Ebene unterschiedlich bewertet werden kann und deswegen grundsätzlich auch abschließend entschieden werden muss.

Hinweise auf Racial Profiling liefern im deutschsprachigen Raum mehrere Studien über die Perspektive von Betroffenen von Polizeikontrollen , in denen aber die polizeilichen Kontrolleure nicht zu Wort kommen, also deren Perspektive nicht einbezogen wird , und damit methodisch auch keine Möglichkeit besteht, das Erleben der Betroffenen mit dem Erleben der Kontrolleure zu vergleichen, deren Kontrollpraxis als tendenziell rassistisch beschrieben wird.

Während es Studien gibt, in denen die subjektive Sicht der Betroffenen sichtbar wird, fehlen mikrosoziologische Studien über Polizeikontrollen, in denen die „direkte Interaktion“ zwischen den kontrollierenden Polizisten auf der einen und den kontrollierten Personen mit anderer Hautfarbe oder anderen Fremden zugeschriebenen äußerlichen Merkmale des Fremden auf der anderen Seite analysiert worden wäre. Solche Analysen würden voraussetzen, dass man als Beobachter die Möglichkeit hat, die Kommunikationen zu beobachten, die zwischen den kontrollierenden Polizisten und den Kontrollierten vor Ort stattfinden. Zusätzliche Erkenntnisse könnte man dann gewinnen, wenn es möglich wäre, die Kommunikation der einschreitenden Polizisten vor oder nach dem Einsatz zu beobachten. Denn nur dann ist es überhaupt möglich, dem Ver-denken der Polizisten, das auf der Ebene ihrer psychischen Systeme stattfindet , die für einen Beobachter intransparent sind, in etwa auf die Spur zu kommen.

Neben mikrosoziologischen Interaktionsstudien gibt es ebenfalls keine aktuellen Untersuchungen zu Einstellungen von Polizisten gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe oder anderen „auf eine vermeintliche Rasse bezogenen äußeren Erscheinungsmerkmalen von Personen.“

Aufgrund des skizzierten Forschungsstandes kann man folglich nicht sagen, was genau es mit Racial Profiling im Polizeialltag auf sich hat, welche Einstellungen Polizisten zu Menschen mit anderer Hautfarbe oder anderen zugeschriebenen äußerlichen Merkmalen des Fremden haben , welche individuellen oder kollektiven Vorurteile in der Polizeipraxis existieren. Was man indes begründen ist, ist die Relevanz einer Polizeiforschung, die sich diesem Thema zuwendet.

Unabhängig von diesem Forschungsstand gibt es Beobachter, die von der Existenz eines institutionellen Rassismus sprechen. Diese Kritik richtet sich dabei sowohl gegen den Normsetzer (den Gesetzgeber), der z. B. ein Polizeiaufgabengesetz beschlossen hat, als auch gegen die Normanwender (die Polizei), da die gesetzliche Legitimation zur Durchführung verdachtsloser Personenkontrollen „immer auch ein Einfallstor für die Anwendung rassistischer Vorurteile (…) bei Kontrollentscheidungen und anderen Handlungsroutinen“ (Dieckmann, 2019, S. 24) ist.

Dass sich die polizeilichen Normanwender in einer für die Kritiker von Racial Profiling schwierigen Position befinden, ergibt sich strukturell aus ihrer Aufgabe zur Durchsetzung von positivem Recht in einer durch Migration bzw. Zuwanderung komplexer gewordenen Gesellschaft. Denn wenn die Polizei zum Zweck der Migrationskontrolle verdachtslose Personenkontrollen durchführen soll, also kontrollieren soll, ob jemand illegal einreist oder sonstige Verstöße gegen das Aufenthaltsrecht vorliegen, wird sie nicht umhin kommen, die Menschen zu kontrollieren, bei denen sie davon ausgeht, dass es sich um Menschen handeln könnte, bei denen keine Einreiseerlaubnis oder kein Aufenthaltsrecht vorliegt. Um diese Aufgabe bewältigen zu können, muss die Polizei im situativen Vorfeld einer Kontrolle entscheiden, wen sie kontrolliert. Und hier ist es unvermeidbar, dass sie diese Entscheidungen auf dem Hintergrund bewährter Erfahrungen treffen wird und sich hierbei an dem orientiert, was sie wahrnehmen kann. Am Aussehen der Person, an ihrem Aufenthaltsort, ihrer Kleidung und an ihrem Verhalten. Dabei kann es durchaus sein, dass bei der Definition der Situation auch die Intuition bzw. das Bauchgefühl von Bedeutung ist für eine Kontrollentscheidung, auch wenn einem die Relevanz dieses ‚vagen’ (subjektiven) Entscheidungsfaktors aus einer juristischen Perspektive suspekt erscheinen muss und daher von den Kontrollierenden auch nicht offiziell darstellbar ist.

Dass für einen Beobachter einer Polizeikontrolle der Eindruck von Racial Profiling entstehen kann, wenn beispielsweise in einer Bahnhofsvorhalle trotz der Anwesenheit von mehreren Menschen mit nicht schwarzer Hautfarbe ein Mensch mit schwarzer Hautfarbe kontrolliert wird, ist systemtheoretisch damit zu erklären, dass er als Beobachter perspektivenbedingt nicht über die Informationen verfügt, die es ihm ermöglichen würden, zu einer anderen Beschreibung zu kommen. Entscheidend für die unterschiedlichen Zurechnungen können folglich beobachter- bzw. perspektivenbedingte Informationsunterschiede sein. Informationsunterschiede, die (jenseits ideologischer Positionen) zu einer anderen Bewertung der Situation führen können und zugleich darauf aufmerksam machen, dass die kontrollierenden Polizisten angesichts ihrer polizeilichen „Definitionsmacht“ eine große ethische Verantwortung für einen angemessenen Umgang mit den Kontrollierten haben.

Literatur- und Internetquellen

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