Schleierfahndung reloaded – die Renaissance eines umstrittenen Rechtsinstituts

von Bernd Walter, Präsident eines Grenzschutzpräsidiums a.D., Berlin

Die EU-Kommission überraschte im Dezember 2021 die Fachwelt mit der Vorlage eines Vorschlages zur Novellierung des Schengener Grenzkodex sowie von drei weiteren Vorschlägen zur Verbesserung der grenzüberschreitenden Polizeikooperation.  Die Vorhaben sind gerade für die Polizeien in mehrfacher Hinsicht wegweisend. Sie zeigen nicht nur in bemerkenswerter Deutlichkeit die sicherheitspolitischen Defizite des derzeitigen Schengen-Systems auf, sondern werten die Schleierfahndung als nationale Ausgleichsmaßnahme auf.

Die Sicherheitslage im Schengen-Raum

Die kontrollfreie Reisefreiheit aufgrund des Wegfalls der Binnengrenzkontrollen im System der Schengen-Staaten gehört zurecht zu den wichtigsten Errungenschaften der europäischen Integration und zählt zur DNA der EU. Das Integrationsvorhaben wurde aber spätestens durch die beispiellose Flüchtlingskrise im Jahr 2015, durch terroristische Anschläge im europäischen Hoheitsgebiet und die COVID-19-Krise wiederholt auf den Prüfstand   gestellt und verlor an Balance und Resilienz, so dass mehrere Mitgliedstaaten unkoordiniert wieder Binnengrenzkontrollen einführten.  So musste die EU-Kommission bekennen, dass diese Entwicklung das Klima des Vertrauens, das zur Aufrechterhaltung eines Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen erforderlich ist, untergraben hat[1] und auch bei der Tagung des Europäischen Rates am 18. und 19. Februar 2016 wurde daher die Wichtigkeit der Herstellung eines normalen funktionierenden Schengen-Raums in konzertierter Weise betont.[2]

Nur sukzessive haben sich die Gremien der EU eingestanden, dass von Anfang an auf dem Weg zu einem zusammenwachsenden Europa die negativen Begleitfolgen des Prozesses der Binnengrenzöffnung als Folge von ausstehenden validen Sicherheitsprognosen offensichtlich falsch eingeschätzt wurden. Tatsächlich hat der Prozess der Grenzöffnung und der damit verbundene Wegfall der Binnengrenzkontrollen innerhalb des Schengen-Verbundes die Sicherheitstopografie in Zentraleuropa nachhaltig verändert, da er die weitere Internationalisierung der Organisierten Kriminalität und den Kriminalitätsimport förderte, die Mobilität reisender Straftäter zusätzlich erleichterte sowie die Umleitung der Ströme der irregulären Migration zur Folge hatte. Auch hat man wohl auch die Wirksamkeit der so genannten Ausgleichsmaßnahmen für den Wegfall der Binnengrenzkontrollen  wie z.B. Verbesserung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, die Schaffung eines gemeinsamen Fahndungssystems (SIS) und Standardisierung und Verbesserung der Außengrenzkontrollen überschätzt, denn die irreguläre Migration sowohl in die EU hinein, aber auch als Sekundärmigration zwischen den beteiligten Staaten nimmt laufend zu  und wird von der Bevölkerung als zusätzliche Bedrohung empfunden wird.

Anfang Oktober des Jahres 2021 trat eine signifikante Änderung der Sicherheitslage an der deutsch-polnischen Grenze ein. Die meisten festgestellten Personen, die illegal die Grenze überschritten, verfügten über belarussische Visa oder Einreisestempel und bewiesen nachdrücklich, dass der belarussische diktatorische Regierungschef Lukaschenko das absichtliche Verbringen von irregulären Migranten aus den Herkunftsländern des Nahen Osten in den Außengrenzbereich der EU als Mittel der politischen Erpressung benutzt, um das Grenzregime an der Außengrenze zu destabilisieren.  Die Bundespolizei registrierte allein in den ersten vier Oktoberwochen 2021 5.280 illegale Einreisen auf der Belarus-Route, doppelt so viele wie im September.  So war es nahezu zwangsläufig, dass die Bundespolizei zusätzlich acht Hundertschafen zur Ausweitung der Schleierfahndung in den deutsch-polnischen Grenzraum verlegte, um der der irregulären Migration mit belarussischem Bezug zu begegnen.

Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebietes

Allein schon wegen der Bedeutung eines kontrollfreien Binnenraums für die Durchsetzung der europäischen Idee rangierten seit Mitte der neunziger Jahre des vorigen Millenniums Fragen der Zulässigkeit möglicher Polizeikontrollen im jeweiligen Hoheitsgebiet im Vordergrund des sicherheitspolitischen Interesses.  Im Mittelpunkt der Initiativen stand als Grundlagendokument der Schengener Grenzkodex (SGK), der nun mehr seit 2016 nach mehreren zwischenzeitlichen Diskussionen in einer kodifizierten Fassung vorliegt[3] und die Kriterien für das Überschreiten der Binnengrenzen regelt.

Artikel 22 des Kodex regelt  zwar  mit schnörkelloser Eindeutigkeit, dass die Binnengrenzen unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen  überschritten werden dürfen, sah sich aber alsbald mit offensichtlich nicht vorausgesehenen Kollateralkonsequenzen konfrontiert, denn der Abbau der Binnengrenzkontrollen zwischen den Schengener Vertragsstaaten und der damit verbundene Wegfall der Filterfunktion der Grenzkontrollstellen führte zu einer nicht einkalkulierten Zunahme der grenzüberschreitenden Kriminalität und einer kaum zu kontrollierenden irregulären Migration. Nach langwierigen Stilübungen wurden durch Artikel 23 des SGK die Regularien für die Möglichkeit zusätzlicher Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebietes eingefügt. Artikel 23 lit. a) SGK billigt den nationalen Sicherheitsbehörden zu, nach Maßgabe ihres nationalen Rechts weiterhin von ihren polizeilichen Befugnissen Gebrauch zu machen, sofern die Ausübung solcher Befugnisse nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hat. Dies ist dann der Fall, wenn die polizeilichen Maßnahmen  keine Grenzkontrollen zum Ziel haben, auf allgemeinen polizeilichen Informationen und Erfahrungen in Bezug auf mögliche Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit beruhen und insbesondere auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität abzielen, in einer Weise konzipiert sind und durchgeführt werden, die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet und auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden.

Dass diese Regelung nicht sonderlich praxisgerecht ist, sollte alsbald die Zukunft erweisen. Die strittige Kompatibilität von Polizeikontrollen im Hoheitsgebiet und die Forderungen des Unionsrechts nach Kontrollfreiheit an den Binnengrenzen beschäftigten seit Jahren als Dauerthema die nationalen Gerichte und den Europäischen Gerichtshof (EuGH) und stehen ständig im Mittelpunkt des Interesses der Kommission,  denn diese wachte von Anfang an über die strikte Einhaltung des freien Personen- und Warenverkehrs und bedachte jede  nicht unionsgerechte zusätzliche Inlandskontrolle mit der Drohung der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren.

Die wechselvolle Entstehungsgeschichte der Schleierfahndung

Die Forderung des Art. 22 SGK, dass die Binnengrenzen ohne Personenkontrollen überschritten werden dürfen, setzt ungeschrieben einen effektiven und nachhaltigen Außengrenzschutz voraus. Dieses Versprechen konnte die EU bis heute nicht einlösen, so dass sich die Mitgliedstaaten nicht nur mit einer nicht einkalkulierten Zunahme der grenzüberschreitenden Kriminalität, sondern auch mit den Folgen einer kaum zu kontrollierenden irregulären Migration konfrontiert sehen.  In Deutschland reagierten der Bund und die Landesgesetzgeber auf die Negativfolgen mit der Einführung einer Eingriffsermächtigung, die ohne Vorliegen konkreter Gefahren oder Verdachtsmomente Identitätsfeststellungen, Befragungen und ggf. Anschlussmaßnahmen wie Inaugenscheinnahme oder Durchsuchungen von Sachen sowie die Datenerhebungen in Bezug auf das Phänomen der unerlaubten Einreise ermöglichen. Ziel der Regelung ist es, die Begehung von Straftaten im Zusammenhang mit der unerlaubten Einreise, insbesondere auch begünstigt durch banden- und/oder gewerbsmäßiges Einschleusen von Ausländern, durch Erhöhung des Verfolgungs- bzw. Fahndungsdrucks für die Täter zu einem unkontrollierbaren Risiko werden zu lassen.  Dieses Substitut für weggefallene stationäre Grenzkontrollen wurde unter dem   Terminus Schleierfahndung medial hoffähig, litt aber von Anfang an unter definitorischen Unschärfen.  So wird in der Fachliteratur fallweise von verdachtsunabhängigen, anlassunabhängigen, ereignisunabhängigen, lagebildorientierten oder lagebildabhängigen Personenkontrollen gesprochen.  Tatsächlich handelt es sich um einen untechnischen Sammelbegriff, der unterschiedliche Deutungen zulässt, aber gleichwohl eine Umsetzung der nach Art. 23 SGK zulässigen Kontrollen im Hoheitsgebiet ist.

Geburtshelfer der gesamten Entwicklung ist die nunmehrige bayerische Bestimmung in Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 Polizeiaufgabengesetz,[4] die bereits 1995 eingeführt wurde. Sie erlaubt ohne weitere Voraussetzungen die Identitätsfeststellung im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 km sowie auf Durchgangsstraßen und in öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs zur Verhütung oder Unterbindung des unerlaubten Aufenthalts und zur Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. In Verbindung mit Abs. 2 erlaubt die Bestimmung neben der Identitätsfeststellung auch das Festhalten des Betroffenen und dessen Durchsuchung sowie der von ihm mitgeführten Sachen, wenn die Identität auf andere Weise oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Die Gesetzesbegründung unterstreicht die Notwendigkeit der Regelung: „Darüber hinaus erfordert der im Rahmen der Verwirklichung des Schengener Durchführungsübereinkommens angestrebte Abbau der Binnengrenzkontrollen zwischen den Schengener Vertragsstaaten und der damit verbundene Wegfall der ‚Filterfunktion‘ der Grenzkontrollstellen als Ausgleichsmaßnahme eine verstärkte Fahndungstätigkeit auf den Routen und in den Einrichtungen des internationalen Verkehrs im Binnenland. Vor dem Hintergrund rasch angewachsener, international verflochtener Kriminalität und angesichts der gewachsenen Mobilität der Verbrecher besteht eine neue Herausforderung für die Polizei, der mit neuen Fahndungskonzepten begegnet werden muss. Eine wesentliche Bedeutung kommt dabei dem Einsatz mobiler Fahndungstrupps auf den Durchgangsstraßen und in den öffentlichen Einrichtungen des internationalen Verkehrs (z. B. Flughäfen, Bahnhöfe) mit dem Ziel zu, deren Funktion für die grenzüberschreitende Kriminalität zu stören und einschlägige Straftaten (z. B. Kfz-Verschiebung, Rauschgifthandel, Schlepperunwesen) zu unterbinden.“[5]

Die Einführung der Schleierfahndung wurde in der Fachliteratur, aber auch von Menschenrechtsorganisationen unter unterschiedlichen Aspekten heftig kritisiert. Befürwortende Stellungnahmen waren die Ausnahme. Die ursprünglichen kontroversen gesellschaftspolitischen und rechtswissenschaftlichen Diskussionen sind angesichts der virulenten Sicherheitslage längst verstummt und werden nur noch gelegentlich thematisiert, denn die Verfassungsgerichte mussten einräumen, dass die Ratio der Schleierfahndung   inhaltlich eindeutig an die Gefahren anknüpft, die durch den Wegfall der Grenzen  entstanden sind und die offenkundig immer stärker die innere Sicherheit bedrohen..[6] Endgültig beendet wurde die Diskussion durch ein Urteil des Bundesverfassungsgericht zur automatisierten Kfz-Kontrolle[7]womit abermals die Erkenntnis des vormaligen preußischen Juristen und Staatsmanns Julius Hermann von Kirchmann belegt wurde, wonach durch drei berichtigende Worte des Gesetzgebers ganze Bibliotheken zu Makulatur werden. Das Gericht erkannte darauf, dass die in diesem Fall bayerische Vorschrift der Schleierfahndung verfassungsrechtlich durch das Ziel gerechtfertigt sei, als Ausgleich für den Wegfall von Grenzkontrollen einer hierdurch erleichterten Begehung bestimmter Straftaten entgegenzutreten. Da es sich um eine Befugnis handele, die allein final durch eine weit gefasste Zwecksetzung definiert ist, komme eine Rechtfertigung daher nur unter besonderen Bedingungen in Betracht.  Die Schleierfahndung wurde vom Gesetzgeber eingeführt, um den unionsrechtlich bedingten Wegfall der innereuropäischen Grenzkontrollen zu kompensieren (vgl. Bayerischer Landtag, Drucks 13/36, S. 4). Für diese war nach innerstaatlichem Recht anerkannt, dass sie ohne weiteren Anlass durchgeführt werden dürfen. Dass der Staat an seinen Grenzen ohne weitere Voraussetzungen Kontrollen vornehmen darf, um zu entscheiden, wer ein- und ausreist, gehöre zum überlieferten Instrumentarium zur Sicherung der Territorialhoheit und zur Gewährleistung von Recht und Sicherheit auf dem jeweiligen Staatsgebiet. Wenn die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des Unionsrechts die Grenzen öffnet und auf Grenzkontrollen verzichtet, sei es im Grundsatz gerechtfertigt, wenn als Ausgleich hierfür zur Gewährleistung der Sicherheit die allgemeinen Gefahrenabwehrbefugnisse spezifisch erweitert werden.  Dem stehe nicht entgegen, dass die Kontrollen nicht auf Grenzgänger begrenzt sind und damit auch Personen betreffen, die die Grenze nicht überschritten haben. Sie sollen und können nur ein die Sicherheit betreffender Ausgleich, nicht aber eine andere Form der Grenzkontrolle sein.

Die nationale Umsetzung – Einheitlichkeit sieht anders aus

Auch wenn sich die Innenministerkonferenz  auf  der  206. Sitzung grundsätzlich für eine flächendeckende Einführung der Schleierfahndung   ausgesprochen hat, da sie sich als  probates Mittel bei der Verfolgung der grenzüberschreitenden Kriminalität und bei der Aufdeckung illegaler Grenzübertritte und Verstöße gegen das Aufenthaltsrechts, aber auch bei der Feststellung islamistischer Gefährder und der Verfolgung international agierender Banden erwiesen hat, bietet die  Rechtswirklichkeit ein disparates Bild.  Bedingt durch die Länderhoheit für die Polizei haben sich aus der ursprünglichen Fassung sowohl als Folge der zwischenzeitlichen Rechtsprechung als auch aufgrund politischer Einflussnahme unterschiedliche Modelle herausgebildet haben, die kaum zu vergleichen sind und den Einsatz der Schleierfahndung als bundesweite Fahndungsstrategie erschweren.  Dies spiegelt sich insbesondere in der rechtstechnischen Ausgestaltung wider. Einige Bundesländer bewerten die Schleierfahndung  als Unterfall der Identitätskontrolle[8] oder schufen  eigene Paragraphen,[9]  andere beschränkten sich auf Befragungsbefugnisse [10] und einige  wenige schufen Eingriffsbefugnisse, die mit der ursprünglichen Ratio der Schleierfahndung nur das Tatbestandsmerkmal gemeinsam haben, dass sie an das Merkmal der Ortshaftung anknüpfen.[11]  So unterschiedlich wie die rechtstechnische Ausgestaltung sind auch die Folgemaßnahmen  und die Genehmigungsvorbehalte ausgestaltet.

Ein weiteres Manko besteht in der Tatsache, dass die jeweiligen Gesetzgebungsvorhaben überwiegend von parteipolitischem Kalkül der jeweiligen Koalition bestimmt waren. In Berlin, obwohl Hotspot der irregulären Migration, wurde die von der CDU/SPD-Koalition im Jahre 1999 geschaffene Regelung im Jahre 2004 von der rot-roten Koalition wieder aufgehoben. Mit einer Wiedereinführung ist nicht zu rechnen, obwohl die Bundeshauptstadt nur eine Autostunde von der polnisch-deutschen Grenze entfernt liegt.  Begründet wurde dies mit der relativen „Bedeutungslosigkeit“, da sie in viereinhalb Jahren nur acht Mal angewandt wurde. Der eigentliche Grund wurde allerdings nicht genannt; das Instrument war nämlich von einer Genehmigung des Polizeipräsidenten abhängig, ein Aufwand, den die Praxis aus nachvollziehbaren Gründen scheute. Mit einer Wiedereinführung ist nach derzeitigem Sachstand nicht zu rechnen. Auch bei den aktuellen Regelungen in Schleswig-Holstein wird offenbar, dass die Einführung der Schleierfahndung vorrangig rechtspolitische Manövriermasse unter Koalitionären ist. So wurde die im Jahre 2006 eingeführte Schleierfahndung nach §§ 180, 181 Landesverwaltungsgesetz alter Fassung nach dem Regierungswechsel 2017 gegen heftige Kritik aus Polizeikreisen abgeschafft, um nach erneutem Regierungswechsel in modifizierter Form wieder eingeführt zu werden. In Nordrhein-Westfalen wählte man nach jahrelanger Enthaltsamkeit mit dem Regierungswechsel bei der Gesetztechnik einen anderen Weg. Unter der Überschrift „Polizeiliche Anhalte- und Sichtkontrollen (strategische Fahndung)“ darf die Polizei nach § 12a Absatz 1 Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen im öffentlichen Verkehrsraum Personen anhalten und befragen sowie die zur Feststellung der Identität erforderlichen Maßnahmen nach § 12a Absatz 2 treffen. Fahrzeuge und mitgeführte Sachen dürfen in Augenschein genommen werden. Die Polizei darf verlangen, dass mitgeführte Sachen sowie Fahrzeuge einschließlich an und in ihnen befindlicher Räume und Behältnisse geöffnet werden. Unter den Voraussetzungen der §§ 39 und 40 PolG sind weitere Durchsuchungsmaßnahmen von Personen und Sachen zulässig. Ansonsten ist die Maßnahme nur zulässig, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass in diesem Gebiet Straftaten der in Satz 1 bezeichneten Art begangen werden sollen und die Maßnahme zur Verhütung diese Straftaten und verhältnismäßig ist.  Inhaltlich ist die Maßnahme an drei Voraussetzungen gebunden. Sie muss entweder der Verhütung von Straftaten von erheblicher Bedeutung im Sinne von § 8 Abs. 3 PolG  oder zur Verhütung terroristischer Straftaten nach § 8 Abs. 4 PolG  oder der Verhütung gewerbs- oder bandenmäßig begangener grenzüberschreitender Kriminalität oder zur Unterbindung des unerlaubten Aufenthalts dienen. Ein besonderes Kennzeichen der Norm sind die gegenüber Vergleichsnormen bei anderen Gesetzgebern detaillierten Verfahrensvorschriften. Nach § 12a Abs. 2 Satz 1 PolG ist die Maßnahme schriftlich zu beantragen und bedarf der schriftlichen Anordnung durch die Behördenleitung oder deren Vertretung. Umfasst das festgelegte Gebiet die Zuständigkeit mehrerer Behörden, so trifft die Anordnung das Landesamt für Zentrale Polizeiliche Dienste. Die Anordnung ist zeitlich und örtlich auf den in Absatz 1 genannten Zweck zu beschränken und   darf die Dauer von 28 Tagen nicht überschreiten. Eine Verlängerung um jeweils bis zu weiteren 28 Tagen ist zulässig, soweit die Voraussetzungen für eine Anordnung weiterhin vorliegen. In der Anordnung sind die tragenden Erkenntnisse für das Vorliegen der Voraussetzungen nach Absatz 1 Satz 1, die Art der Maßnahme einschließlich zeitlicher und örtlicher Beschränkung und die Begründung der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme nach Absatz 1 Satz 4 anzugeben.

Bundespolizei und Schleierfahndung – eine erfolgreiche Symbiose

Besonders umfangreich sind aufgrund der besonderen grenzsicherheitsbezogenen Aufgabenstellung die Regelungen zur Schleierfahndung bei der Bundespolizei.  Das Bundespolizeigesetz sieht verschiedene Ermächtigungsgrundlagen vor.   Die Bestimmung des § 22 Abs. 1a BPolG erlaubt der Bundespolizei, im Bahnbereich und auf Verkehrsflughäfen zweckgebunden zur Verhinderung oder Unterbindung der unerlaubten Einreise das Anhalten, die Befragen und die Prüfung mitgeführter Ausweis- und Grenzübertrittspapiere sowie die Inaugenscheinnahme mitgeführter Sachen. Tatbestandsvoraussetzung im Bahnbereich ist die auf Lageerkenntnisse oder grenzpolizeiliche Erfahrung gestützte Prognose, dass die Verkehrsmittel zur unerlaubten Einreise genutzt werden. Die Befugnis nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG erlaubt es der Bundespolizei, im Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von dreißig Kilometern zur Verhinderung oder Unterbindung der unerlaubten Einreise in das Bundesgebiet oder zur Verhütung von Straftaten mit Grenzbezug die Identität einer Person festzustellen. Hieran können sich bei Bedarf Begleit- und Folgemaßnahmen anschließen, wie z.B. das Durchsuchen der Person oder ihrer Sachen.

Die Möglichkeit zur Durchführung lagebildabhängiger Befragungen wird durch die Bundespolizei als Folge der zunehmenden Verschärfung der Migrationskrise und als Substitut für die vorübergehende  Einführung stationärer Grenzkontrollen zunehmend stärker  genutzt. So führte die Bundespolizei 2019 253.546 (Inland 145.883, Luftgrenze 107.663) Kontrollen nach § 22 Abs. 1a BPolG durch.

Ferner wurden 2019  insgesamt 2.264 400 Identitätsfeststellungen zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Bundesgebiet oder zur Verhütung von grenzbezogenen Straftaten nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG durchgeführt.[12]

Schleierfahndung und Unionsrecht – keine Liebesbeziehung

Bei der Einführung der Schleierfahndung war den unterschiedlichen Gesetzgebern wohl nicht klar, dass er seine Rechtsnorm geschaffen hat, die zunehmend häufiger nicht nur die Untergerichte, sondern auch die Verfassungsgerichte und den Europäischen Gerichtshof zu einer kritischen Auseinandersetzung zwingen.  Besonders betroffen ist die Bundespolizei, die dieses Rechtsinstitut besonders intensiv   nutzt und deren Bedienstete sich häufiger vor Gericht wiederfinden als ihnen lieb ist. Die erkennenden Richter nutzen die Gelegenheit, um sich intensiv mit den Fragen auseinander zu setzen, ob die Normen wegen Racial Profiling gegen das Diskriminierungsverbot verstoßen oder als verbotene Ersatzgrenzkontrolle gegen Unionsrecht verstoßen. Das rechtliche Spannungsfeld, in dem sich die Schleierfahndung bewegt, resultiert aus den unterschiedlichen Rechtsregimen der EU und innerhalb der Mitgliedstaaten. Der Schengener Grenzkodex (SGK) hat durch  Art. 288 Abs. 2 des Vertrages über die EU allgemeine und unmittelbare Geltung in jedem Mitgliedstaat und geht aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts den nationalen Rechtsbestimmungen vor.[13]

Die Mitgliedstaaten  haben einen Rechtsrahmen zu schaffen, der sicherstellt, dass Maßnahmen der Schleierfahndung nicht die gleiche Wirkung wie Grenzkontrollmaßnahmen haben.[14] Einen Orientierungsrahmen geben die Richter des EuGH vor, die in bereits in mehreren Urteilen feststellten, dass Art. 67 Abs. 2 AEUV   und Art.  22 und 23 SGK so auszulegen sind, dass nationalen Befugnisse zur Personenkontrolle in Grenznähe detaillierte normative   Einschränkungen und Begrenzungen enthalten müssen, um nicht die gleiche Wirkung wie Ersatzgrenzkontrollen zu entfalten.[15]  Vielmehr seien  weitere ermessenslenkende Konkretisierungen zur Intensität, Häufigkeit und  Selektivität der polizeilichen Kontrollen erforderlich.[16] Eine ermessenslenkende Vorschrift wie z.B. die Ausländerverordnung zu Art. 50 Abs. 1 des niederländischen Ausländergesetzes wird für ausreichend gehalten.  So differenziert die niederländische Regelung nach Fortbewegungsmittel und legt u.a. zeitlich-räumliche Grenzen fest, z.B. „in Zügen höchstens 30 Minuten nach Übertritt“ oder „auf ein- und derselben Straße oder Wasserstraße höchstens neunzig Stunden pro Monat und höchstens sechs Stunden pro Tag“.

Die deutschen Regelungen z.B. für die Bundespolizei[17] bestimmen aktuell, dass die Kontrollen nicht auf Dauer angelegt sein dürfen, sondern unregelmäßig zu unterschiedlichen Zeiten, an unterschiedlichen Orten und stichprobenartig unter Berücksichtigung des Reiseaufkommens erfolgen sollen. Sie sollen auf der Grundlage ständig aktualisierter Lagebilder   in Abstimmung mit anderen involvierten Behörden durchgeführt werden und Gegenstand der regelmäßigen Dienst- und Fachaufsicht sein. Zwischenzeitlich hat indes das Bundesverwaltungsgericht[18] festgestellt, dass der Erlass des Bundesinnenministeriums vom 7. März 2016 eine unionsgerechte Durchführung der Identitätskontrollen ermöglicht. Zur Rechtssicherheit bei den anwendenden Beamten trägt es allerdings nicht bei, dass deutsche Gerichte unterschiedliche Maßstäbe anlegen. Während der VGH Baden-Württemberg zur Auffassung kam, dass die Regelungen zur Schleierfahndung im Bundespolizeigesetz nicht mit dem Unionsrecht kompatibel seien,[19] kam das Oberverwaltungsgericht des Saarlandes zu einer gegenteiligen Auffassung.[20]  Selbst Gerichte der ersten Instanz sind sich einig. Während das VG Stuttgart in einer Entscheidung die deutschen Regelungen wegen Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht und dessen Vorrangigkeit für nicht anwendbar erklärt,[21]  flüchten sich andere Gerichte in die Möglichkeit, die Causa dem EuGH nach Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung vorzulegen.[22]

Der Ausweg aus dem Dilemma – Aufwertung der polizeilichen Kontrollen im Hoheitsgebiet

Im Bestreben der Kommission, jedwede Beeinträchtigung des freien Personenverkehrs zu unterbinden, verfolgte sie alle Versuche der Mitgliedstaaten, Polizeikontrollen im Hoheitsbereich als Substitut für wegegefallene Grenzkontrollen einzurichten, mit Argwohn und scheute auch nicht vor der Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren zurück.  Mit zunehmender Verschärfung der Migrationskrise zwi­schen Herbst 2015 und Frühjahr 2016   sah sich die Kommission jedoch zunehmend stärker mit der Tatsache konfrontiert, dass die Mitgliedstaaten statt eines Rückgriffs auf Polizeikontrollen im Hoheitsbereich vermehrt vorübergehend stationäre Kon­trollen nach Art. 25 ff. SGK an einigen ihrer europäischen Bin­nengrenzen wiedereinführten.  Erstmalig traten Zweifel an der Resilienz und Balance des Schengen-Systems auf und die Kommission sah sich zu der Feststellung veranlasst, dass der Schengen-Raum einer anderen Realität gegenübersteht als zum Zeitpunkt seiner Gründung. Die Instabilität in Europas Nachbarstaaten und die Folgen mehrerer terroristischen Anschläge, der Ankunft einer großen Zahl irregulärer Migranten und der Ausbruch der COVID-19-Pandemie hätten den Schengen-Raum unter Druck gesetzt und zur Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen mit erheblichen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Kosten für die EU geführt.

Auf der Suche nach Lösungsmöglichkeiten setzte bei der Kommission ein Umdenken ein. Wurden anfangs  nationale Polizeikontrollen als mögliche Gefährdung der politischen Forderung nach völliger Kontrollfreiheit im Binnenraum bewertet und bei Beschwerden von Bürgern über systematische Kontrollen in Binnengrenzgebieten  gedroht, unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EuGH[23]  alle zur Verfügung stehenden Mittel bis hin zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahren auszuschöpfen wird, um die ordnungsgemäße Anwendung des EU-Rechts durchzusetzen, stellte man nunmehr fest,  dass die Wiedereinführung von Kontrollen an den  Binnengrenzen  nur ein  letzter Ausweg sein  kann und nur dann in Betracht gezogen werden kann, wenn sich alle anderen Maßnahmen zur Minderung der festgestellten Bedrohung als  ungeeignet erwiesen haben.[24]

Dies war der Auslöser für einen entscheidenden Paradigmenwechsel der Kommission, indem sie nunmehr in einem Durchführungsbeschluss[25]  grenznahe Polizeikontrollen nicht mehr als Bedrohung der bisherigen Schengen-Philosophie, sondern als weniger einschränkende Maßnahme im Vergleich zu befristeten Grenzschließungen bewertete. Der Beschluss zur Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den jeweiligen Binnengrenzen ist als letztes Mittel nur dann zu treffen, wenn den festgestellten Bedrohungen nicht hinlänglich durch solche den grenzüberschreitenden Verkehr weniger einschränkende Maßnahmen begegnet werden kann Mit diesem Beschluss entkleidete die Kommission die nationalen Schleierfahndungsmaßnahmen endgültig des Verdachts, ein Vehikel zur Einführung klassischer Grenzkontrollmaßnahmen durch die Hintertür zu sein. Vielmehr wurde ihr Stellenwert als notwendige Ausgleichsmaßnahme im Schengen-System anerkannt und einer Anpassung an die veränderte Sicherheitslage erstmalig Aufmerksamkeit geschenkt.

In einer Begleitempfehlung der Kommission,[26]   werden in einer bisher nicht praktizierten Deutlichkeit die sicherheitspolitischen Schwachstellen in der bisherigen Kontrollpraxis aufgezeigt und die Intensivierung der Polizeikontrollen im gesamten Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, einschließlich der Grenzgebiete und die Durchführung polizeilicher Kontrollen entlang der Hauptverkehrsrouten wie Autobahnen und Eisenbahnstrecken in einer Empfehlung als notwendig und gerechtfertigt angesehen.  Diesen Kontrollen wurde höhere Wirksamkeit als den stationären Kontrollen an den Binnengrenzen zugebilligt, insbesondere da sie flexibler als statische Grenzkontrollen an bestimmten Grenzübergangsstellen sind und leichter neuen Gefahren angepasst werden können. Unter diesem Gesichtspunkt sollte daher auch der Einsatz von Kontroll- und Überwachungssystemen zur automatischen Nummernschilderkennung für Gefahrenabwehr- und Strafverfolgungszwecke gefördert werden.  Erstmalig wurde anerkannt, dass Grenzgebiete spezifische Risiken im Hinblick auf grenzüberschreitende Kriminalität aufweisen und auch von bestimmten Straftaten betroffen sein können, die im gesamten Hoheitsgebiet begangenen werden, beispielsweise Einbrüche, Fahrzeugdiebstahl, Drogenhandel, unerlaubte Sekundärmigration von Drittstaatsangehörigen, Schleusung von Migranten und Menschenhandel. Auch könne in Grenzgebieten ein erhöhtes Risiko von Verstößen gegen die Vorschriften über die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Hoheitsgebiet auftreten.

Zukunftsmusik – Novellierung des Schengener Grenzkodex und verbesserte Polizeikooperation

Im Dezember 2021 legte die Kommission mehrere Verbesserungsvorschläge, wobei die schon lange diskutierte Novellierung des Schengener Grenzkodex hervorstach.[27]  Sollten die Vorschläge vom Rat und dem Europäischen Parlament angenommen werden, werden sie eine durchgreifende Neuorientierung nicht nur im Grenzmanagement, sondern auch in der grenzüberschreitenden Polizeikooperation einläuten. Gleichzeitig hat die Kommission damit inzident zugegeben, dass die bisherige Fassung nicht für ausreichend erachtet wird, den neuartigen Herausforderungen gerecht zu werden. Als diese werden der Terrorismus, die Instrumentalisierung von Migranten, irreguläre Migrationsbewegungen und gravierende Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit identifiziert. Mit der Novellierung soll das bisherige Regelungssystem von Schengen wieder ins Gleichgewicht gebracht werden, denn ein funktionierendes Schengen-System beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten, der effizienten Außengrenzkontrolle und alternativen Sicherheitsmaßnahmen im Hoheitsbereich der Mitliedstaaten bei gleichzeitigem Verzicht auf Binnengrenzkontrollen. Ein besonderes Augenmerk gilt der als besonders besorgniserregende Phänomen bewerteten Instrumentalisierung von Migranten, womit alle staatlichen Versuche gemeint sind, die Bewegungen von Drittstaatangehörigen an die Außengrenzen der EU zu initiieren und zu erleichtern, um die EU oder einen Mitgliedstaat zu destabilisieren.

Grundsätzlich wird der Verstärkung   polizeilicher Kontrollen im Hoheitsgebiet und der Verbesserung der grenzüberschreitenden Kooperation der Sicherheitsbehörden der Vorzug gegenüberbeabsichtigter Schließungen der Binnengrenzen durch stationäre Kontrollen der Vorzug eingeräumt.

Dieser deutliche Paradigmenwechsel kommt in der Neufassung des Art. 23 zum Ausdruck, der die Kontrollen innerhalb des Hoheitsgebietes regelt. War die Zielrichtung bisher vorrangig die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität, werden nunmehr als zusätzliche Ziele auch die Bekämpfung des irregulären Aufenthalts und die Eindämmung der Ausbreitung von Epidemien genannt. Die bisherige Forderung, dass die Kontrollen auf Stichproben zu beschränken sind, entfällt ersatzlos, womit auch einer der wesentlichen Kritikpunkte in der nationalen Rechtsprechung und Rechtsprechung des EuGH gegenstandslos werden wird.

Komplementär zur Novellierung des SGK legte die Kommission weitere wegweisende Vorschläge vor. Um die Resilienz des Schengen-Systems wiederherzustellen, beabsichtigt die Kommission ferner die Herausgabe eines Polizeikooperationskodex, mit dem die bisherigen unterschiedlichen Varianten der Polizeizusammenarbeit überwunden und diese erleichtert werden soll, um kriminellen Gruppierungen eine Ausnutzung oder Umgehung der unterschiedlichen nationalen Rechtssystemen zu verwehren.  Die bisherigen Regelungen werden als fragmentiert, überholt oder wenig praktikabel analysiert. Die Zielvorstellungen umfassen u.a. die Bereinigung der Regeln für die grenzüberschreitende Rechtsdurchsetzungsmaßnahmen durch die Förderung gemeinsamer Polizeistreifen und anderer Verbundmaßnahmen, die Schaffung einheitlicher Koordinationsplattformen und die Erweiterung der Möglichkeiten der schon bestehenden gemeinsamer Einrichtungen. Die Möglichkeiten der Nacheile auf das Gebiet des Nachbarstaates sollen erweitert werden. Weitere Initiativen betreffen die Optimierung des Informationsaustausches durch Interoperabilität des technischen Equipments sowie die Intensivierung gemeinsamer Aus- und Fortbildungsvorhaben   und Austauschprogramme für Bedienstete, die in grenzüberscheitenden Einsatzbereichen tätig werden sollen. Die Initiative bildet zusammen mit dem Vorschlag für eine Richtlinie zur Verbesserung des Informationsaustausches sowie dem Vorschlag für einen Beschluss zum automatischen Datenaustausch ein Paket.

Die späte Rechtfertigung der Schleierfahndung

Die nunmehrige Entscheidung der Kommission für die nachhaltige Nutzung  der Schleierfahndung im Rahmen von Polizeikontrollen zur Unterbindung der grenzüberschreitenden Kriminalität und der irregulären Migration sowie die Vorlage ergänzender Beschlüsse zur Verbesserung der Polizeikooperation sind die Konsequenz  aus den erheblichen strukturellen Problemen des Außengrenzschutzes sowie die Antwort auf die inkonsistente Praxis der Mitgliedstaaten bei der Wiedereinführung stationärer Binnengrenzkontrollen und  entspringen einem nüchternen Kosten-Nutzen-Kalkül in Hinblick auf  mögliche wirtschaftliche, soziale und politische Folgen von  stationären Binnengrenzkontrollen. Bei der derzeitigen Zerstrittenheit der EU-Partner ist weder in der Migrations- und Asylpolitik noch bei beim wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erwarten. Es liegt nunmehr am EuGH, ob er sich aufgrund einer Zusammenschau aller beabsichtigten Neuerungen davon überzeugen lässt, dass polizeiliche Kontrollen im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates dem Anspruch auf weitgehende Kontrollfreiheit für den Personen- und Warenverkehr nicht entgegenstehen.

Nunmehr ist das Paradoxon eingetreten, dass die ehedem umstrittene Schleierfahndung zum entscheidenden Rechtsinstrument wird, um die Balance und Resilienz des Schengen-Systems bei außerordentlichen Sicherheitsstörungen zu gewährleisen, da ansonsten die Wiedereinführung der Binnengrenzkontrollen mit ihren unerwünschten Folgen die unerwünschte Alternative wäre.  Für die Sicherheitslage in der Bundesrepublik wird es entscheidend sein, inwieweit sich die Absichten der Kommission angesichts der disparaten Umsetzung der Schleierfahndung bei Bund und Ländern umsetzen lassen. Erforderlich wäre das Bekenntnis von Bund und Ländern zu einer einvernehmlichen „Schleierfahndungsstrategie“. Damit ist jedoch nicht zu rechnen, da die Maßnahme als Gegenstand der weitgehenden Polizeihoheit der Länder   unverändert Gegenstand politischer Kontroversen ist, in einigen Bundesländern nur bruchstückhaft umgesetzt wurde und in der Bundeshauptstadt völlig fehlt.  Eine Vereinheitlichung ist auch nicht zu erwarten, zumal sich das Polizeirecht von Bund und Ländern immer weiter auseinanderentwickelt und die  noch im vorangegangenen Koalitionsvertrag geforderte Erarbeitung eines Musterpolizeigesetzes  sang- und klanglos nach langwierigen und nicht immer streitfreien Vorgesprächen zu den Akten geschrieben wurde.


[1] COM(2021) 277 final v. 2.6.2021, S. 1.

[2] EUCO 1/16, S. 4

[3] Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl. L 77 v. 23.3.2016, S. 1.

[5] Bayerischer Landtag, Drucks 13/36, S. 4.

[6] U.a. BT-Drs. 13/10790, S. 4; Landtag Mecklenburg-Vorpommern Plen. Prot. 2/59 v. 23.4.1997; LReg. Hessen LT-Drs. 15/848, S. 4.9 Beschluss des Ersten Senats vom 18. Dezember 2018 – 1 BvR 142/15 –

[8] So Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 PAG Bayern, § 181 Abs. 1 Nr. 5 LVerwG Schleswig-Holstein, S 27 Abs. 1 Nr. 7 PolG Baden-Württemberg, § 12 Abs. 1 Nr. 5,6 PolG Brandenburg, § 14 Abs. 1 Nr. 5 PAG Thüringen, § 19 Abs. 1 Nr. 5 PolG Sachsen, § 18 Abs. 2 Nr. 6 HSOG Hessen.

[9] So § 27a Nr. 2 SOG Mecklenburg, § 12a PolG Nordrhein-Westfalen, § 9a Abs. 1 PolG Saarland.

[10] So § 9a Abs. 4 POG Rheinland-Pfalz, § 12 Abs. 6 POG Niedersachsen, § 14 Abs. 3 SOG Sachsen-Anhalt

[11] So § 13 Abs. 5 PolG Bremen, § 13 Abs. 2 PolDVG Hamburg.

[12] BT-Drs. 19/19458 S. 3.

[13] EuGH, Urt. v. 15.07.1964 – 6-64 (Costa/Enel).

[14] EuGH, Urt. V. 21.06.2017- C-9/16

[15] Vgl. EuGH, Urteil v. 22. Juni 2010-Rs. C-188/10 u.a. (Melki und Abdeli)  (juris);  Urteil v. 19. Juli 2012 -Rs. C-278/12 (juris).

[15] EuGH, Urt. v. 21.06.2017- C-9/16 (Adil) (juris).

[16]Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 21.6.2017, C-9/16.

[17] Erlass zur Anwendung von § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG, GMBl. 10/2016, S. 203.

[18] Beschluss v. 13.12.2019 Az. 6 B 30/19.

[19] VGH Baden-Württemberg Urteil vom 13.2.2018, 1 S 1468/17.

[20] Oberverwaltungsgericht des Saarlandes Urteil vom 21.2.2019, 2A 806/17.

[21] VG Stuttgart, Urteil v. 11. April 2019- 1 K 2888/18-(juris).

[22] Aktuell AG Kehl, EuGH-Vorlage v. 28. Juni 2019-2 Cs 308 Js 15425/18 (juris).

[23] EuGH, Urteil v. 22. Juni 2010-Rs. C-188/10 u.a. (Melki und Abdeli) (juris).

[24] KOM(2011) 561 endgültig v. 16.9.2011, S. 11.

25 Durchführungsbeschluss (EU) 2017/246 des Rates vom 7. Februar 2017.

[26] Empfehlung (EU) 2017/820 der Kommission v. 12.5.2017.

[27] Proposal for a Regulation oft the European Parliament and oft the Council   amending Regulation (EU) 2016/399 on a Union Code on the rules governing the movement of persons across borders v. 14.12.2021 COM/2021/891 final.