Wege in den Extremismus und Terrorismus – Radikalisierungsfaktoren
Prof. Dr. Stefan Goertz , Bundespolizei, Hochschule des Bundes, Lübeck
1. Einleitung
Die letzten Monate und Jahre zeigen: Die Übergänge von Radikalen zu Extremisten sind fließender geworden. Ein aktuell von der Politik und den Medien breit thematisiertes Beispiel dafür sind die „Querdenker“. Zahlreiche Radikalisierungsprozesse finden – noch stärker befeuert durch die Coronapandemie – seit einigen Jahren immer mehr online statt. Die meisten Radikalisierungsprozesse führen – im Bild einer Treppe gesprochen – nicht zum Anschlag, nicht zur Gewalt, sie enden auf einer niedrigeren Stufe, häufig bei enthemmter Sprache in den Sozialen Netzwerken. Aber diese enthemmte Sprache wiederum kann andere radikalisieren und diese könnten dann extremistische Gewalt anwenden.
Sozialwissenschaftliche und psychologische Radikalisierungsforschung untersucht folgende Fragen:
- Warum und wie entfernen sich Menschen von demokratischen Prinzipien, aus der demokratischen Mitte der Gesellschaft und wenden Gewalt an, um extremistische Ziele zu erreichen?
- Was motiviert und radikalisiert diese Menschen?
- Wie verläuft der Weg, bzw. ein Weg in den Extremismus? Sind in verschiedenen Radikalisierungsverläufen Ähnlichkeiten zu erkennen? Welche wiederkehrenden Muster können identifiziert werden, auf deren Basis dann staatliche und zivilgesellschaftliche Gegenmaßnahmen entwickelt werden können?
Grundsätzlich ist festzustellen, dass es keine idealtypischen Radikalisierungsprozesse gibt, keinen Standardablauf, jeder Radikalisierungsverlauf ist immer individuell. Mögliche Radikalisierungsfaktoren sind Erfahrungen des Scheitern, Sinnkrisen, der Verlust eines Partners, eines Freundes, eines Familienmitglieds, Gewalterfahrungen, Arbeitslosigkeit, fehlender sozialer und emotionaler Halt und Freund-Feind-Dualismen. Für zahlreiche Radikalisierungsverläufe der letzten Jahre – in allen unterschiedlichen Phänomenbereichen von Extremismus – verantwortlich waren in unterschiedlicher Ausprägung und Kombination 1) extremistische Ideologie/Ideologieelemente und Narrative, 2) der soziale Nahbereich, die peer group („brüderliche Gemeinschaft“, Zugehörigkeitsgefühl) sowie 3) Internet-Inhalte. Diese drei wesentlichen Radikalisierungsfaktoren werden hier untersucht.
2. Ideologie, Ideologieelemente, Narrative und Verschwörungstheorien
2.1 Rechtsextremismus – Ideologieelemente
Nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz stellt der Rechtsextremismus in Deutschland kein einheitliches Phänomen dar: „Nationalistische, antisemitische, rassistische und fremdenfeindliche Ideologieelemente treten in verschiedenen Ausprägungen auf. Rechtsextremisten gehen davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Nation oder Rasse über den Wert eines Menschen entscheide. Dieses Werteverständnis steht in einem fundamentalen Widerspruch zum Grundgesetz“.
Entscheidende Bestandteile der neonationalsozialistischen Weltanschauung sind Nationalismus und Rassismus. Für einen Großteil der deutschen Rechtsextremisten ist nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden festzustellen, dass vor allem der Nationalsozialismus verharmlost oder gar verherrlicht wird. Bei den meisten Rechtsextremisten spielt Antisemitismus eine zentrale Rolle. Antisemitismus äußert sich in unterschiedlicher Weise, zum Beispiel in der Idee einer weltumspannenden geheimen Verschwörung des Judentums oder indem Juden kollektiv für die Handlungen des Staates Israel verantwortlich gemacht werden.
Bei den Ideologieelementen von Rechtsextremisten spielt in der Regel ein autoritär geprägtes Staatsverständnis eine wichtige Rolle, dies wird häufig kombiniert mit einer Ablehnung der in Demokratien üblichen Gewaltenteilung. Neonazis beispielsweise fordern in Anlehnung an den historischen Nationalsozialismus einen „Führerstaat“, in dem alle staatliche Macht auf die Entscheidungen einer Einzelperson zurückgeführt wird.
Neben Antisemitismus stellen Rassismus, Anti-Asyl und Islam-/Muslimfeindlichkeit weitere entscheidende Ideologieelemente und Narrative von Rechtsextremisten dar.
Islamfeindliche Agitation ist nicht nur auf den Bereich des Rechtsextremismus beschränkt. Auch jenseits der rechtsextremistischen, vornehmlich auf Rassismus begründeten Islamfeindlichkeit gibt es Gruppierungen und Einzelpersonen, die Muslimen die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit nicht zugestehen wollen. Diese Gruppierungen und Einzelpersonen setzen pauschalisiert „den“ Islam als Weltreligion gleich mit Islamismus und islamistischem Terrorismus und stellen die Religion des Islam als „faschistische Ideologie“ dar, von der eine erhebliche Gefahr für unsere Gesellschaft ausgehe.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz analysiert Islamfeindlichkeit bzw. Muslimfeindlichkeit als Aktionsfeld von Rechtsextremisten, das seit der „Flüchtlingskrise“ stark zugenommen hat. Islamfeindlichkeit bei Rechtsextremisten ist hierbei nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden „nicht allein auf bloße Ressentiments und das Aufgreifen rechtspopulistischer Thesen zurückzuführen, sondern wurzelt vielmehr in ausgeprägten ideologischen Grundüberzeugungen, insbesondere in dem von Rechtsextremisten konstruierten Ideal einer ethnisch homogenen ‚Volksgemeinschaft‘. Rechtsextremisten versuchen, Überfremdungsängste bzw. Vorurteile gegenüber der Religion des Islam bzw. Muslimen selbst zu erzeugen oder entsprechende Vorbehalte zu schüren, um so die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Sie verbreiten die These einer vermeintlich ‚drohenden Islamisierung‘ Europas. Die Übergänge zwischen extremistischer und populistischer Islamfeindlichkeit sind hierbei oft fließend“.
Die „Neue Rechte“ und die „Identitäre Bewegung“ (IBD) als einer ihrer Akteure verbreiten in den Sozialen Medien die Ideologie des „Großen Austauschs“. Hierbei spannen sich die rechtsextremistischen Themen von verschwörungstheoretischen bis sozialdarwinistisch-neoliberalen Themen. Anders als die „Alte Rechte“ inszenieren sich die Mitglieder und Anhänger der „Identitären Bewegung“ als „rebellische, junge geistige Elite gegen das Establishment“ . Die Sprache ist gewalttätig, die Rede ist von Bürgerkrieg und der allgegenwärtigen Gefahr, als Bevölkerung „ausgetauscht“ zu werden, Wortneuschöpfungen wie „Ethnomasochismus“ und Anspielungen werden eingesetzt, um den Rahmen des Sagbaren zu erweitern.
Der Rassismus der „Identitären Bewegung“ ist verklausulierter als derjenige der „Alten Rechten“. Statt von „Rassen“ sprechen Neurechte wie die „Identitären“ von „Kulturen“. Vermeintlich werden diese „Kulturen“ als „gleichwertig“ beschrieben. Jede habe das Recht, sich „frei von äußeren Einflüssen“ zu entwickeln. Das „Ethnopluralismus-Konzept“ der „Neuen Rechten“ bzw. der „Identitären Bewegung“ ersetzt die Hierarchie der „Rassen“ durch die Idee der gleichrangigen „Ethnien“, die als „organische Einheiten“ gedacht werden. Das „Vermischungsverbot“ ist hier die zentrale Gemeinsamkeit mit dem biologistischen Rassismus, wie er vom Nationalsozialismus vertreten wurde. Dieses Konzept wird von der „Neuen Rechten“ und den „Identitären“ als „Ethnopluralismus“ betitelt. Individuen werden einem „Volk“ und einem bestimmten Flecken Erde zugeschrieben, mit dem sie „naturgemäß“ verknüpft sind. Die „Identitären“ halten nur eine bestimmte Interpretation einer nationalen/regionalen oder europäischen Kultur für legitim. Sie ignorieren Widersprüche wie Gegenkulturen, aber auch die Tatsache, dass sich Kulturen in stetem Wandel und Austausch mit anderen Kulturen befinden bzw. der Begriff „Kultur“ an sich nicht trennscharf ist. Für diese Form des Ethnopluralismus sind „eigene“ und „fremde“ Kulturen fest vorgegeben, werden von bestimmten Menschen in bestimmten Regionen getragen und sollen nicht verändert werden.
Vor allem die Fixierung der IBD auf eine „ethnische Homogenität“ als zentraler Wert für Gesellschaft und Demokratie belegt, dass die Ideologie der IBD die grundgesetzlich geschützte Menschenwürde und das Demokratieprinzip verletzt. So vertritt die IBD einen völkischen Staatsvolk-Begriff, der dem Verständnis des Grundgesetzes gemäß Art. 116 GG widerspricht. Weiter definiert die IBD „Staatsvolk“ als „Kultur-, Abstammungs- und Solidargemeinschaft“, wobei sie der Ethnie als der maßgeblichen Grundlage für Kultur und gesellschaftliche Zusammenarbeit den Vorrang einräumt. Daher spricht die IBD allen Migranten mit fremder bzw. außereuropäischer Herkunft jede Möglichkeit ab, Teil der deutschen Bevölkerung zu werden. Diese Positionen sind nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Ethnischen Minderheiten die Zugehörigkeit zum Staatsvolk zu verwehren richtet sich gegen die Menschenwürde des Art. 1 GG und verstößt gegen das Demokratieprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 und 2 GG, das eine freie und gleiche Teilhabe aller Staatsbürger voraussetzt.
2.2 „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sowie „Querdenker“ – Ideologieelemente
„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ lehnen aus verschiedenen Motiven und mit verschiedenen Begründungen – u. a. unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, Verschwörungsmythen oder ein selbst definiertes Naturrecht – die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und deren Rechtssystem ab, sprechen den Politikern als demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation ab oder definieren sich gar komplett als außerhalb der Rechtsordnung stehend, was zu Verstößen gegen die Rechtsordnung geführt hat und weiter führen wird. Verschiedene Ideologieelemente und Narrative dieses Extremismusphänomenbereiches haben staatsfeindliche und verschwörungstheoretische Grundzüge, die eine Anschlussfähigkeit an antisemitische Erklärungsmuster, die auch im Phänomenbereich „Rechtsextremismus“ eine wichtige Rolle spielen, haben. Die Bandbreite antisemitischer Einstellungen und Äußerungen unter „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ reicht von Schuldzuweisungen Einzelner, die „die Juden“ für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich machen, über offen antisemitische und oftmals über Codes und Chiffren transportierte Verschwörungstheorien, wonach z. B. der Erste Weltkrieg von „den Juden“ geplant worden sei, bis hin zur Leugnung des Holocaust.
Die baden-württembergische Verfassungsschutzpräsidentin Bube gab im Zuge der öffentlichen Erklärung der Erhebung von „Querdenken 711“ zum „Beobachtungsobjekt Extremismus“ am 9.12.2021 an, dass der „legitime Protest gegen staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie einer grundsätzlichen Staats- und Politikfeindlichkeit in bedenklichem Ausmaß“ weiche. „Seit Beginn des Protestgeschehens stellen wir bei den zentralen Akteuren der ‚Querdenker‘ eine zunehmende Diffamierung staatlichen Handelns fest, die immer wieder in abwegigen Vergleichen mit der Diktatur des Nationalsozialismus und einer Verharmlosung des Holocaust gipfelt. Sie schüren mit falschen Behauptungen gezielt Hass auf den Staat – das ist demokratiefeindlich“, erklärte der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl. „Dabei sind verstärkt auch Anleihen an die ursprünglich aus den USA stammende antisemitische und staatsfeindliche Verschwörungsideologie ‚QAnon‘ festzustellen. Das betrifft sowohl die Präsenz von wahrnehmbaren ‚QAnon‘-Codes bei Versammlungen als auch Äußerungen des ‚Querdenken‘-Führungspersonals. Extremistische Verschwörungsmythen können der Nährboden für Gewalthandlungen sein – etwa, wenn zum Widerstand gegen vermeintliches Unrecht aufgerufen wird. Das halten wir für hoch gefährlich“, betonte die baden-württembergische Verfassungsschutzpräsidentin.
2.3 Islamismus – Ideologieelemente
Der Islamismus zielt nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden darauf ab, die fdGO teilweise oder vollständige abzuschaffen. Der Islamismus auf der Ideologie, dass Religion nicht nur eine persönliche, quasi private Angelegenheit sei, sondern auch das gesellschaftliche Leben sowie die politische Ordnung eines Staates bestimme. Die islamistische Ideologie postuliert die Existenz einer gottgewollten und somit „wahren“ (und zugleich absoluten) Ordnung, die in ihrer Wertigkeit vor allen von Menschen gemachten Ordnungssystemen rangiert. Mit ihrer extremistischen Interpretation des Islam stehen Islamisten nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz in Widerspruch zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen der Volkssouveränität, der Trennung von Staat und Religion, der freien Meinungsäußerung und der allgemeinen Gleichberechtigung. Ein wesentliches ideologisches Element des Islamismus ist außerdem der stark ausgeprägte Antisemitismus.
2.4 Linksextremismus – Ideologieelemente
Der Linksextremismus verfolgt nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden das Ziel, die Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland und damit die freiheitliche Demokratie abzuschaffen und durch ein kommunistisches oder ein „herrschaftsfreies“, anarchistisches System zu ersetzen. Linksextremismus betrachtet Gewalt, bezeichnet als „revolutionäre Gewalt“ der „Unterdrückten gegen die Herrschenden“ als „legitimes“ Mittel und setzt dieses häufig ein. Die linksextremistischen Ideologieelemente richten sich insbesondere gegen durch das Grundgesetz garantierte Grundrechte, die parlamentarische Demokratie, die Gewaltenteilung, die Volkssouveränität, das Rechtsstaatsprinzip und den Pluralismus.
3. Der soziale Nahbereich, das Milieu, die peer group
3.1 Rechtsextremismus
Die deutschen Verfassungsschutzbehörden beziffern das Personenpotenzial Rechtsextremismus für das Jahr 2020 – im aktuellen Verfassungsschutzbericht aus dem Juni 2021 – mit 33.300. Davon werden 13.300 als gewaltorientiert eingestuft. Von diesen 33.300 Rechtsextremisten sind nach Angaben der Verfassungsschutzbehörden 13.250 in Parteien organisiert. In „parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen“ zählen die deutschen Verfassungsschutzbehörden aktuell 7.800 Rechtsextremisten, in der Kategorie „weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial“ 13.700 Rechtsextremisten.
Zum sozialen Nahbereich, zum Milieu, zur peer group des Rechtsextremismus in Deutschland gehören im Parteienspektrum die NPD, „Die Rechte“, „Der III. Weg“, „Der Flügel“ und die „Junge Alternative“ der AfD. Daneben Neonazis, „weitgehend unstrukturierte, meist subkulturell geprägte Rechtsextremisten, die „Artgemeinschaft“, der rechtsextremistische Teil der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ und die Neue Rechte („Institut für Staatspolitik“, das Magazin „Compact“ und der Verein „Ein Prozent“), dazu gehörend die Identitäre Bewegung. Daneben rechtsextremistische Kampfsportturniere wie „Kampf der Nibelungen“, rechtsextremistische Bürgerwehren und Bruderschaften und rechtsextremistische Musikveranstaltungen.
In Bezug auf „Corona-Proteste“, Corona-Kleinkundgebungen, „Corona-Spaziergänge“ sowie Versammlungen im Kontext der Corona-Pandemie und staatlicher Gegenmaßnahmen stellte das deutsche Bundesamt für Verfassungsschutz im August 2020 fest, dass ab dem Frühjahr 2020 „mehrere rechtsextremistische Protagonisten“ dazu aufgerufen hatten, „sich an den Demonstrationen gegen die Beschränkungsmaßnahmen organisationsübergreifend zu beteiligen und bei Kundgebungen außerhalb des rechtsextremistischen Spektrums Präsenz in der Öffentlichkeit zu zeigen“.
Die deutschen Verfassungsschutzbehörden beobachten im rechtsextremistischen Spektrum in Deutschland seit spätestens dem Jahr 2018 ein Erstarken der rechtsextremistischen Kampfsportszene. So waren nach Auffassung des Bundesamtes für Verfassungsschutz entsprechende Veranstaltungen gekennzeichnet von einer „zunehmend professionellen Organisation“. Nach Einschätzung der deutschen Verfassungsschutzbehörden ist aktuell das größte und wichtigste Kampfsportturnier der rechtsextremistischen Szene das seit 2013 jährlich stattfindende Kampfsportformat „Kampf der Nibelungen“ (KdN). An der KdN-Veranstaltung am 13.10.2018 nahmen circa 850 Besucher aus dem gesamten Bundesgebiet sowie aus Frankreich, Italien, Österreich, der Schweiz, Tschechien und der Ukraine teil, womit das Kampfsportturnier einen neuen Besucherrekord erreichte (im 2017 waren dies noch 500 Zuschauer und Kämpfer). Kampfsportkomponenten hatten auch andere rechtsextremistische Veranstaltungen. So erfolgten bei den beiden „Schild & Schwert“-Festivals Kampfsportdarbietungen. Auch Mitglieder der rechtsextremistischen Partei „Der III. Weg“ zeigten in den letzten Monaten und Jahren ein wachsendes Interesse an der Ausübung von Kampfsport. So fanden im Rahmen der rechtsextremistischen Arbeitsgemeinschaft „Körper & Geist“ bereits wenige Wochen nach „TIWAZ“ eine Kampfsportvorführung bei der Parteiveranstaltung „Jugend im Sturm“ am 7.7.2018 in Kirchheim (Thüringen) statt.
Festzustellen ist, dass verschiedene rechtsextremistische Veranstalter in Deutschland Kampfsport zu einer prägenden Komponente ihrer Veranstaltungen gemacht und entsprechende Sportereignisse ausgerichtet haben. Die rechtsextremistischen Kampfsportgruppierungen wie KdN, „Wardon“, „Black Legion“ und „White Rex“ vom russischstämmigen Hooligan Denis Kapustin stellen ihre rechtsextremistischen Kampfsportler als Vorbilder in Sachen „Wille“, „Fleiß“ und „Disziplin“ dar und wollen sie nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz als Gegensatz zum „faulenden politischen System“ der „Versager“, „Heuchler“, und „Schwächlinge“ verstanden wissen.
Rechtsextremistische Musik und Musikveranstaltungen haben eine wichtige Bedeutung für die rechtsextremistische Szene, aber auch für Einzelpersonen, die dabei sind, sich in Richtung Rechtsextremismus bzw. in Richtung rechtsextremistische Gewaltbereitschaft und Gewalt zu radikalisieren. Durch rechtsextremistische Liedtexte werden rechtsextremistische, menschenverachtende, rassistische und antisemitische Ansichten, Feindbilder und Ideologieelemente verbreitet und gefestigt. Die deutschen Verfassungsschutzbehörden analysieren, dass die Teilnahme an rechtsextremistischen Musikveranstaltungen jungen Szeneangehörigen ein besonders identitätsstiftendes Gemeinschafts- und Stärkegefühl bietet und diese Veranstaltungen Orte rechtsextremistischer Radikalisierung sind.
Rechtsextremistische Musik ist ein entscheidendes Medium, um rechtsextremistische Ideologieelemente in die Szene zu transportieren und zu radikalisieren. Die Liedtexte beinhalten oftmals Aufrufe zum „Kampf gegen die bestehende Ordnung“ (die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland) und Verschwörungsmythen werden verbreitet. Ebenso wird in der rechtsextremistischen Musik gegen Feindbilder gehetzt, vor allem gegen Flüchtlinge, Migranten, Juden, die USA, Homosexuelle und „Linke“. Teilweise finden sich in den Texten auch Gewaltaufrufe, was den gewaltbejahenden Charakter zumindest von Teilen dieser Musikszene belegt. Direkte Aufrufe zur Gewalt sind in den letzten Jahren jedoch seltener geworden, da die Verfasser um die möglichen rechtlichen Folgen wissen. Eine neuere Entwicklung stellen Liedtexte dar, in denen eine feindselige Atmosphäre geschaffen wird, ohne die Feindbilder direkt zu benennen, stattdessen arbeiten sie mit Anspielungen. Teilweise enthalten solche Liedtexte gewaltverherrlichende Passagen und allgemeine Bekenntnisse zu „Kampf und Krieg“. Darüber hinaus greifen rechtsextremistische Bands Lieder oder Gedichte aus dem Nationalsozialismus auf, was auf eine neonazistische Gesinnung der Musiker hinweist.
3.2. „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sowie „Querdenker“
Die Verfassungsschutzbehörden stufen diese Szene insgesamt als staatsfeindlich ein. Aktuell sind ihr deutschlandweit etwa 20.000 Personen (im Jahr 2019 noch 19.000) zuzurechnen, bei rund 1.000 davon handelt es sich zugleich um Rechtsextremisten. Von diesen 20.000 Personen werden ca. 2.000 als gewaltorientiert bewertet. Darunter fallen gewalttätige Szeneangehörige sowie Personen, die beispielsweise durch Drohungen oder gewaltbefürwortende Äußerungen und entsprechende ideologische Bezüge auffallen. Die Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ besteht zu etwa drei Vierteln aus Männern. Bundesweit gibt es rund 28 Gruppierungen, unter anderem den „Staatenbund Deutsches Reich“ mit „Gliedstaaten“, „Bismarcks Erben“ mit der Untergliederung „Vaterländischer Hilfsdienst“ (VHD) und die „Verfassunggebende Versammlung“.
Die Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ wird nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz vor allem durch persönliche Kontakte bestimmt. Trotz vieler Einzelgruppierungen ist diese Szene weitestgehend unstrukturiert. Dabei konstatieren die deutschen Verfassungsschutzbehörden, dass in der Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ regelmäßig Streitigkeiten und Zerwürfnisse auftreten. Daher lösen sich dort regelmäßig Zusammenschlüsse auf und entstehen neue. Also gibt es in dieser extremistischen Szene, diesem Milieu, eine hohe Fluktuationsrate.
Michael Ballweg, der Gründer und Geschäftsführer einer Software-Firma aus Stuttgart, hat im Frühjahr 2020, zu Beginn der staatlichen Corona-Hygienemaßnahmen, „Querdenken 711“ gegründet. Der Zusatz „711“ kommt von der Telefonvorwahl Stuttgarts (0711). „Querdenken 711“ ist die Stuttgarter Ortsgruppe von „Querdenken“. Querdenken ist deutschlandweit in neun Regionen organisiert und hatte zwischenzeitlich 68 Ableger. Auch diese lokalen Gruppen tragen jeweils die Telefonvorwahl im Namen, also zum Beispiel „Querdenken 089 München“. Allein im Zeitraum von Frühjahr bis Oktober 2020 hat „Querdenken“ eigenen Angaben zufolge deutschlandweit mehr als 100 Demonstrationen und Versammlungen organisiert, an denen mehrere Hunderttausend Menschen teilgenommen haben sollen. „Querdenken 711“ bezeichnet sich selbst als (Freiheits-)“Initiative“, teilweise auch als Bewegung.
Seit dem Sommer 2020 grenzen sich zahlreiche Teilnehmer/-innen der Querdenker-Demos aus der „bürgerlichen Mitte“ nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden nicht mehr von Rechtsradikalen, Rechtsextremisten, „Reichsbürgern“ und Verschwörungsgläubigen ab und die Verfassungsschutzbehörden stellen seither einen Trend zu einer manifesten Radikalisierung innerhalb der Corona-Demonstrationen fest. Gewaltdelikte gegen Journalisten und Polizisten sind seitdem deutlich angestiegen.
3.3 Islamismus
Die deutschen Verfassungsschutzbehörden gingen im aktuellen Verfassungsschutzbericht aus dem Sommer 2021 für das Jahr 2020 von 28.715 Islamisten in Deutschland aus, davon waren 12.150 Salafisten. Zu den islamistischen Organisationen und Gruppen gehören Millî Görüs, als Sprachrohr der „Millî Görüş“-Bewegung die türkische Tageszeitung „Millî Gazete“, die „Islamische Gemeinschaft Millî Görüş e. V.“ (IGMG), die Muslimbruderschaft, die „Tablighi Jama’at“ und die über 12.000 Salafisten.
Die deutschen Verfassungsschutzbehörden analysieren, dass Erbakan als zentrale Ziele von „Millî-Görüs“ „die Schaffung einer „neuen großen Türkei“ in Anlehnung an das Osmanische Reich propagierte, die „Überwindung des Laizismus“ sowie – letztlich mit weltweitem Anspruch – die Errichtung einer „islamischen Gesellschaftsordnung“. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stellt fest, dass die letzte Konsequenz dieser Sichtweise die Ablehnung westlicher Demokratien ist. Eine der „Millî Görüş“-Bewegung zuzuordnende Organisation ist die „Ismail Ağa Cemaati“ (IAC). Die „Ismail Ağa Cemaati“ (IAC) ist der weitverzweigten mystischen Bruderschaft der Naqshbandiya zuzuordnen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stellt fest, dass die IAC allgemein als einer der radikaleren Zweige der Bruderschaft gilt. Im Zentrum ihrer Ideologie steht die Einführung eines weltweiten Gesellschaftssystems, das sich an den Vorgaben der Scharia als der von Gott gesetzten, verbindlichen Ordnung für das menschliche Miteinander orientiert. Eine Gesellschaftsordnung, die auf nicht-göttlichen Regeln und Gesetzen beruht, wird von ihr als „unislamisch“ angesehen. Dadurch wird auch jeglicher Dialog zwischen den Religionen abgelehnt. Das erklärte Ziel dieser Auslandsvertretungen ist einerseits die Verbreitung der „Millî Görüş“-Ideologie und andererseits die Unterstützung der Mutterpartei, z. B. bei den im Juni 2015 erfolgten Parlamentswahlen und den im November 2015 durchgeführten Neuwahlen in der Türkei. Die „Deutschlandvertretung der SP“ wurde im Jahr 2013 gegründet.
Die im Jahr 1928 vom ägyptischen Islamisten Hassan Al Banna gegründete Muslimbruderschaft („Al Ikhwan Al Muslimin“) gilt als älteste und zugleich einflussreichste islamistische Bewegung unter Sunniten. Sie ist nach eigenen Angaben in mehr als 70 überwiegend muslimischen Ländern in unterschiedlicher Ausprägung vertreten. Zahlreiche islamistische Organisationen, beispielsweise die ägyptischen Gruppierungen „Al Gama’a Al Islamiya“ und „Al Jihad Al Islami“ sowie die palästinensische HAMAS, sind im Laufe der Zeit aus der Muslimbruderschaft hervorgegangen. Die Muslimbruderschaft propagiert seit ihrer Gründung die Rückkehr zu den „wahren“ Werten des Islam und kündigte die Schaffung eines „wahrhaft islamischen Staates“ an. Auch in Deutschland nutzen die Anhänger der Muslimbruderschaft nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz eine Vielzahl „Islamischer Zentren“ für ihre Aktivitäten. Die mit mehreren Hundert Mitgliedern wichtigste Organisation von Anhängern der Muslimbruderschaft ist in Deutschland die „Islamische Gemeinschaft in Deutschland e. V.“ (IGD). Hervorgegangen ist sie aus der im Jahr 1958 gegründeten Moscheebauinitiative, die das „Islamische Zentrum München e.V.“(IZM) errichtet hat. Der Hauptsitz der IGD befindet sich in Köln. Daneben unterhält sie Zentren in Braunschweig, Frankfurt am Main, Marburg, München, Münster, Nürnberg und Stuttgart. Eigenen Angaben zufolge koordiniert sie ihre Aktivitäten zudem mit einer Vielzahl weiterer Moscheevereine. Als Gründungsmitglied der FIOE verfolgt die IGD deutschland- und europaweit eine an der Muslimbruderschaft-Ideologie ausgerichtete Strategie der Einflussnahme im politischen und gesellschaftlichen Bereich.
Den Salafismus kennzeichnet ein besonders heterogener Phänomenbereich, der ineinander übergehende salafistische Strömungen beinhaltet. Viele politische Salafisten lehnen Gewalt als Mittel zur Erreichung ihrer politischen Ziele nicht grundsätzlich ab. Jihadistische Salafisten befürworten eine offene, unmittelbare und sofortige Gewaltanwendung gegen jeden, der vom „wahren Islam“ abgefallen ist. Besonders prägendes Merkmal der jihadistischen Salafisten in Europa ist ihre ideologische, organisatorische und strategisch-taktische Nähe zu internationalen jihadistischen Bewegungen wie dem IS und der Al Qaida.
Nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden verzeichnen salafistische Gruppierungen in Deutschland seit Jahren signifikant steigende Anhängerzahlen. Im Jahr 2016 betrug die Zahl der Salafisten 9.700, im Jahr 2015 8.350. Aktuell zählen die deutschen Verfassungsschutzbehörden in Deutschland 12.150 Salafisten. Seit 2011 hat sich das Personenpotenzial der Salafisten in Deutschland somit verdreifacht. Die deutschen Verfassungsschutzbehörden analysieren den salafistischen Phänomenbereich als islamistische Ideologie und extremistische Gegenkultur mit einem abgrenzenden Lebensstil durch markante Alleinstellungsmerkmale (Kleidung und Sprache). Dabei wollen Salafisten eine eingeschworene Gemeinschaft mit intensivem Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen, was insbesondere Menschen anzieht, die sich von der Mehrheitsgesellschaft marginalisiert fühlen. Vor allem ungefestigte Personen, die auf der Suche nach einem Lebenssinn, nach Orientierung und Sicherheit sind, werden durch das klare und eindeutige salafistische Regelwerk angesprochen, welches das tägliche Leben bis in seine Details hinein bestimmt. Das Individuum wird durch salafistische Propaganda zu einem Teil einer angeblichen Elite, zum Vorkämpfer des „wahren Islam“, ausgezeichnet durch seine moralische Überlegenheit gegenüber einer „Welt des Verdorbenen“.
3.4 Linksextremismus
Die Zahl von Linksextremisten in Deutschland stieg von 33.000 im Jahr 2018 auf 34.500 im Jahr 2019 auf 35.400 im Jahr 2020. Von diesen 35.400 Linksextremisten stufen die deutschen Sicherheitsbehörden aktuell 9.600 als gewaltorientiert ein.
Charakteristisch für die linksextremistische Szene in Deutschland, Europa und weltweit ist ihre ausgeprägte Heterogenität. Diese zeigt sich im Hinblick auf die verschiedenen ideologischen Ausprägungen, den Organisationsgrad, die bevorzugten Aktionsformen sowie anhand der Einstellung zur Frage, ob Gewalt ein konkretes, legitimes Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele ist. Mehr als jeder vierte Linksextremist ist als gewaltorientiert einzuschätzen. Zu dieser Gruppe zählen vor allem Autonome, Anarchisten sowie eine Minderheit des dogmatischen Spektrums.
Die Verfassungsschutzbehörden führen augenblicklich unter anderem folgende linksextremistische Beobachtungsobjekte: Die „Interventionistische Linke“ (IL) (ca. 1000 Mitglieder), „…ums Ganze! – kommunistisches Bündnis“ (ca. 300 Mitglieder), „Perspektive Kommunismus“ (ca. 120 Mitglieder), „Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union“ (ca. 1.000 Mitglieder), Rote Hilfe e.V.“ (ca. 11.000 Mitglieder), „Deutsche Kommunistische Partei“ (ca. 2.850 Mitglieder), „Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands“ (ca. 2.800 Mitglieder) und als extremistische Strukturen innerhalb der Partei Die Linke die „Kommunistische Plattform der Partei DIE LINKE“ (ca. 1.120 Mitglieder), die „Sozialistische Linke“ (ca. 1.000 Mitglieder), die „Antikapitalistische Linke“ (ca. 1.060 Mitglieder) sowie „marx21“ (ca. 450 Mitglieder).
Ein neuer und aktueller Trend von linksextremistischer Gewalt ist in der Analyse der deutschen Verfassungsschutzbehörden Gewalt von konspirativ agierenden Kleingruppen. Die Vorbereitung und Durchführung der Taten verläuft sehr planvoll und isoliert vom Rest der Szene im kleinsten Kreis und auch die Zielauswahl hat sich verändert. Dazu verschieben sich die Angriffe von einer institutionellen auf eine persönliche Ebene. Die Opfer werden gezielt ausgesucht und mit hoher Aggressivität angegriffen. Immer häufiger werden nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz auch schwere Körperverletzungen bis hin zum Tod der Opfer als mögliche Folge in Kauf genommen. Das Bundesamt für Verfassungsschutz stellt fest, dass es Linksextremisten „im Kern um Einschüchterung und die Schaffung eines Klimas der Angst für politische Gegner und Andersdenkende geht. Die unmittelbar oder mittelbar Betroffenen sollen von einem konkreten Handeln oder der freien Meinungsäußerung abgehalten werden. Dies kann die Teilnahme an Veranstaltungen, das Agieren für eine Partei oder Gruppierung oder das Verbreiten politischer Ansichten sein. In anderen Fällen soll durch erhebliche Straftaten der ‚Preis‘ für politische oder wirtschaftliche Entscheidungen ‚in die Höhe getrieben‘ und so Einfluss auf die Entscheidungsträger genommen werden“. In mehreren Bundesländern gibt es seit Monaten Hinweise darauf, dass sich innerhalb der gewaltorientierten linksextremistischen Szene klandestin operierende Kleingruppen herausbilden. Diese begehen eigene Tatserien und schotten sich aufgrund ihrer gesteigerten Gewaltbereitschaft vom Rest der linksextremistischen Szene ab. Das Bundesamt für Verfassungsschutz konstatiert, dass innerhalb solcher abgeschotteter Personenkreise der bisherige Szenekonsens einer „Vermittelbarkeit und Zielorientiertheit von Gewalt nur gegen Dinge und ohne Gefährdung Unbeteiligter keine Rolle mehr“ spiele. Weiter betont das Bundesamt für Verfassungsschutz, dass Widerspruch aus den übrigen Teilen der linksextremistischen Szene gegen die zunehmende Gewalt weitgehend ausbleibe. Stattdessen werde Gewalt als vermeintlich legitime „Gegenwehr“ gerechtfertigt. Enthemmte Sprache und weitreichende Aussagen bis hin zur Androhung schwerer Gewalt oder in Einzelfällen auch der subtilen Bedrohung mit dem Tod werden nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden stillschweigend von den übrigen Linksextremisten toleriert.
4. Das Internet
Bundesinnenministerin Faeser kündigte Mitte Dezember 2021 an, den Messenger-Dienst Telegram zur Einhaltung der Gesetze zwingen zu wollen. „Dort wird offen Hass und Hetze verbreitet“ […] „Es kann nicht sein, dass ein App-Betreiber unsere Gesetze ignoriert.“ Ihr Ministerium prüfe derzeit, ob über Plattformen wie Google oder Apple der Druck erhöht werden könne. „Diese Unternehmen haben die Telegram-Anwendung in ihren App-Stores und könnten sie aus dem Angebot nehmen, wenn Telegram permanent gegen Regeln verstößt“, sagte die Ministerin. Zudem könne die Bundesrepublik mit anderen europäischen Staaten auf die Vereinigten Arabischen Emirate zugehen, wo Telegram seinen Sitz hat. Gleichzeitig müsse im Inland der Ermittlungsdruck gegen Onlinehetzer erhöht werden. „Es muss für alle klar sein: Wer im Netz Hass und Hetze verbreitet, bekommt es mit der Polizei zu tun“, sagte Faeser. „Der Fahndungsdruck gegen Extremisten muss in ganz Deutschland gleich hoch sein.“
4.1 Rechtsextremismus
Rechtsextremistische Akteure im Internet sind nach Angaben der deutschen Sicherheitsbehörden heterogen und reichen von teils gewaltorientierten Einzelpersonen über lockere Personenzusammenschlüsse bis hin zu streng hierarchisch strukturierten rechtsextremistischen Gruppen und Organisationen. Im Internet können sich rechtsextremistische Gruppierungen oder ideologisch sympathisierende Einzelpersonen mühelos, schnell und grenzüberschreitend mit Gleichgesinnten vernetzen. Hierbei entstehende „Echokammern“ begünstigen in der Analyse des Bundesamtes für Verfassungsschutz wechselseitige Radikalisierungsprozesse. Rechtsextremistische Gruppierungen oder Einzelpersonen nutzen neben den gängigen Website-Formaten die gesamte Breite der virtuellen Infrastruktur wie beispielsweise soziale Netzwerke, Messenger, Foren und Boards. Darunter befinden sich sowohl eher konventionelle, kommerzielle Internetplattformen wie Facebook, Twitter und Steam als auch eher unkonventionellere Varianten wie eigene Foren, 4chan oder Gab.
Aktuell stellen die deutschen Verfassungsschutzbehörden fest, dass es aufgrund von verstärktem Deplatforming, speziell bei größeren sozialen Netzwerken, zu Abwanderungen von rechtsextremistischen Nutzern von konventionellen Plattformen weg und hin zu weniger reglementierten, anonym nutzbaren Ausweichplattformen kommt. Die Tendenz zu mehr Absicherung setzt sich in der Nutzung verschlüsselter Messenger fort. Neben Vernetzung und Interaktion mit Gleichgesinnten dient das Internet dazu, Propaganda zu verbreiten, Einzelpersonen einen virtuellen Raum zur Selbstdarstellung zu bieten und unter Ausnutzung häufig weitgehender Anonymität politische Gegner zu attackieren. Diese Aktivitäten können auch Radikalisierungsprozesse anderer Personen befördern. Insbesondere auf populären Internetplattformen wie YouTube, TikTok oder Instagram sind überproportional viele junge Menschen aktiv, sodass hier nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz die Gefahr besteht, dass gerade Jugendliche durch rechtsextremistisches Gedankengut und von rechtsextremistischen Influencern beeinflusst werden.
Rechtsextremistische Internetinhalte werden durch Einzelpersonen, Gruppen, Netzwerke, Parteien, Vereine und Stiftungen verbreitet. Rechtsextremisten nutzen Internetdienste zur Selbstdarstellung, Werbung, Vernetzung, politischen Einflussnahme und teilweise auch zur Verabredung von Straftaten. Nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden verwenden Angehörige und Sympathisanten der rechtsextremistischen Szene in Deutschland intensiv das Internet, um z.B. Kampagnen zu bewerben, für Veranstaltungen zu mobilisieren oder Aktionen zu planen. Soziale Netzwerke, Kurznachrichtendienste oder Videoplattformen bilden hierfür die zentralen Plattformen, auf denen sich die Szene bewegt, offen oder in geschlossenen Gruppen kommuniziert oder ihr rechtsextremistisches Gedankengut propagandistisch zu verbreiten versucht. Um rechtsextremistische Inhalte im Internet zu vermitteln, emotionalisieren Rechtsextremisten Sachverhalte und schüren Vorurteile. Daneben ermöglicht das Internet, leicht mit bisher nicht rechtsextremistisch geprägten Personen in Kontakt zu treten und sie für die eigenen rechtsextremistischen Ansichten zu gewinnen und zu radikalisieren.
4.2 „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sowie „Querdenker“
Die Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ ist sehr heterogen und setzt sich aus Einzelpersonen ohne organisatorische Einbindung, Klein- und Kleinstgruppierungen, länderübergreifend agierenden Personenzusammenschlüssen und virtuellen Netzwerken zusammen. Zur Verbreitung ihrer Ideologieelemente und ihrer Argumentationsmuster nutzen „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz vor allem das Internet und soziale Netzwerke. In Bezug auf die Strategien von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ sowie „Querdenkern“ in der Pandemie ist festzustellen, dass ich bislang unpolitische Personen im Sog dieser Pandemie durch radikale und extremistische Ideologieelemente sowie Verschwörungserzählungen – durch entsprechend präparierte Inhalte in der virtuellen Welt, aber auch durch Kontakte in der realen Welt –individuell radikalisieren (können).
Nach dem Tankstellenmord in Idar-Oberstein am 18.9.2021 sprachen verschiedene Bundespolitiker von „die Radikalisierung des Querdenkermilieus bereitet mir große Sorgen“ und einem „unfassbaren Maß an Radikalisierung“. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft sagte der mutmaßliche Täter nach der Tat aus, dass er die Corona-Maßnahmen ablehne. Zum Motiv habe er angegeben, dass ihn die Situation rund um die Pandemie stark belaste. Der Beschuldigte habe sich in die Ecke gedrängt gefühlt und „keinen anderen Ausweg gesehen“, als ein Zeichen zu setzen. Das Opfer schien ihm dabei „verantwortlich für die Gesamtsituation, da es die Regeln durchgesetzt habe“. Laut der Deutschen Presse-Agentur wurde aus Ermittlerkreisen bekannt, dass der Täter in den Theorien der Corona-Leugner „bewandert“ sei. „Er kennt die Quellen und hat auch angegeben, dass er sich da schlau gemacht hat.“ In den sozialen Netzwerken fanden sich vor und nach dem Mord in der Tankstelle in Idar-Oberstein zahlreiche Posts mit den Begriffen „Tribunale“, „Plant den Tag X, „Führt Todeslisten für später“, „Nürnberg 2.0“. „Bürgerkrieg“. Damit sollen Rachefantasien befeuert werden. Rufe nach Tribunalen und insbesondere Nürnberg 2.0 sind auch immer verdeckte Rufe nach der ultimativen Bestrafung der in ihren Augen „Schuldigen“: „Es sind Rufe nach Exekutionen“.
Aus Sicht des Thüringer Verfassungsschutzpräsidenten Stephan Kramer kam die Tat in Idar-Oberstein nicht überraschend. „Der kaltblütige Mord ist furchtbar, aber für mich keine Überraschung angesichts der steten Eskalation der letzten Wochen“, bemerkte Kramer. „Bedauerlich ist, dass es immer erst Tote geben muss, bevor die Gefahr ernst genommen wird.“
Mediale Hetze, persönliche Beleidigungen, enthemmte Sprache, Hasspostings und andere Arten der Herabwürdigung von Menschen können nach Angaben der Bundesregierung vor allem im Internet und dort auf allen bekannten sozialen Medienplattformen, Imageboards und Messenger-Diensten festgestellt werden. Die Postings werden sowohl offen, also bisweilen auch unter Klarpersonalien der sich derart artikulierenden Personen, als auch anonym veröffentlicht. Aufgrund der strenger gewordenen Sicherheitsrichtlinien und Verhaltenscodes („Netiquette“) von Plattformen wie z. B. Facebook, Twitter, YouTube und Instagram und deren zunehmend offensivem Löschungsverhalten ist eine Abwanderung hin zu szeneüblichen Plattformen und Messenger-Diensten mit weniger ausgeprägter Kontrolle und stark eingeschränktem Löschungsverhalten erkennbar. Hierzu zählen z. B. Telegram, Bitchute und VKontakte sowie Imageboards wie Kohlchan und 4chan. Das Spektrum der im Internet festzustellenden extremistischen Äußerungen mit dem Ziel der Diffamierung und Verunglimpfung bestimmter Personen oder Gruppen ist weitläufig und komplex. Schmähungen und Propaganda mit gewaltverherrlichenden Elementen zählen zum Standardrepertoire diverser extremistischer Akteure im Internet, so auch von „Reichsbürgern“, „Selbstverwaltern“ und „Querdenkern“.
4.3 Islamismus
Nach Angaben der Bundesregierung beobachten die deutschen Verfassungsschutzbehörden im Phänomenbereich Islamismus und islamistischer Terrorismus, dass Einzelpersonen, Gruppierungen und Organisationen versuchen, durch medial und digital verbreitete Herabwürdigungen bestimmter Gruppen zu Gewalt anzustacheln. Die „Ziele“ dieser Angriffe sind nach Angaben der Bundesregierung divers. So kann sämtliche Personen, Gruppierungen, Organisationen treffen, die nicht als Gleichgesinnte und dementsprechend als „Gegner“ wahrgenommen werden, treffen. Sunnitische Extremisten (z. B. Anhänger des „Islamischen Staates“ (IS) und der Al-Qaida) würdigen Schiiten, Christen, Juden, Jesiden, Buddhisten, Homosexuelle und andere herab. Schiitische Extremisten teilen einige dieser Feindbilder, beispielsweise Juden, würdigen ihrerseits aber auch Sunniten herab. In den Propagandaveröffentlichungen jihadistischer Gruppierungen wie z. B. des IS und seinen Filialen sowie von den Anhängern und Sympathisanten des globalen Jihads wird zur Gewalt gegen mehrere Gruppen aufgerufen, die gezielt herabgewürdigt und als Feinde des Islam und „der Muslime“ deklariert werden.
In den Auftritten jihadistischer Gruppierungen werden vor allem Nicht-Muslime und Atheisten verbal attackiert und verunglimpft und mit Angriffen, bis hin zur „Vernichtung“ bedroht. Zu dieser Gruppe zählt auch der israelische Staat bzw. die „Juden“, die in der Propaganda als einer der „Hauptfeinde“ der Muslime deklariert und u. a. im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien verleumdet werden. Menschen, die beispielweise die Ideologie des IS nicht gutheißen, werden als vom „wahren Glauben“ abgefallene Gruppen stigmatisiert, deren Bekämpfung erlaubt sei. Personen, die in der Öffentlichkeit oder in schriftlichen Beiträgen islamkritisch sind und beispielweise Mohamed-Karikaturen veröffentlichen, werden herabwürdigt und als Feinde des Islam und der Muslime verunglimpft. Auch Homosexuelle sind Ziel von islamistischer Hetze, weil ihnen ein „unmoralischer Lebenswandel“ vorgeworfen wird.
4.4 Linksextremismus
Die Bundesregierung betonte am 25.5.2020 in Bezug auf das Phänomen stochastischer Terrorismus, dass es im gewaltorientierten Linksextremismus seit Jahren „das verbreitete Phänomen der Herabwürdigung Andersdenkender bis hin zu konkreten Outings im Internet von behaupteten oder realen Rechtsextremisten sowie von anderen bei Linksextremisten verhassten Personen“ gibt und betont, dass diese „Form der Herabwürdigung“ sowohl in digitalen Medien und Szenemedien als auch in der Realwelt stattfindet. Akteure des Linksextremismus definieren nach Angaben der Bundesregierung vor allem Personen wegen ihrer politischen Einstellung (in der Regel Personen des rechten Spektrums) oder wegen ihres gesellschaftlichen Status (beispielsweise Amts- und Mandatsträger), aber auch z. B. Vertreter von Rüstungsfirmen und Wohnungsgesellschaften als Gegner, gegen die „in bestimmten Medien (zumindest) agitiert wird“. Darunter fallen auch Polizeibeamte. Gerade solche Outings können nach Auffassung des Bundesministerium des Innern und der deutschen Sicherheitsbehörden auch zu schweren Straftaten führen.
Linksunten.indymedia.org war bis zu ihrem Verbot durch den Bundesminister des Innern de Maizière am 25.8.2017 die einflussreichste Internetplattform gewaltbereiter Linksextremisten in Deutschland, die jahrelang als zentrales Medium zur Verbreitung von Beiträgen mit strafbaren und verfassungsfeindlichen Inhalten diente. Auf linksunten.indymedia.org wurde öffentlich zur Begehung von Gewaltstraftaten gegen Vertreter des Staates im Allgemeinen und Polizeibeamte im Besonderen sowie gegen politisch Andersdenkende und zu Sabotageaktionen gegen staatliche und private Infrastruktureinrichtungen aufgerufen. Quasi täglich propagierten Linksextremisten auf dem Webportal unter dem Schutz der Anonymität Tatbekennungen (Selbstbezichtigungen) zu deutschlandweit verübten Straftaten wie Körperverletzungen, Brandstiftungen und Angriffe auf Infrastruktureinrichtungen. Durch die erhebliche Reichweite der Internetplattform sollte ein möglichst großer Nachahmungseffekt erzielt werden, was in den Kontext der Strategie von stochastischem Terrorismus einzuordnen ist.
Auf dieser linksextremistischen Plattform fanden sich dort nach Angaben des Bundesinnenministers auch Anleitungen zum Bau von „Molotov-Cocktails“ und zeitverzögerten Brandsätzen. Das rechtsextremistische Pendant zu linksunten.indymedia.org, die Internetplattform „Altermedia Deutschland“, hatte der Bundesinnenminister am 27.1.2016 verboten. Im Januar 2020 lehnte das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig Klagen gegen das Verbot von linksunten.indymedia.org ab. Die strategische und inhaltliche Nachfolgerin von linksunten.indymedia.org, de.indymedia.org, wurde im Juli 2020 vom Bundesamt für Verfassungsschutz als Verdachtsfall im Bereich Linksextremismus eingestuft, wie der BfV-Präsident Thomas Haldenwang mitteilte. Für die Einstufung von de.indymedia.org durch die Verfassungsschutzbehörden gäbe es „hinreichend gewichtige tatsächliche Anhaltspunkte“ für verfassungsfeindliche Bestrebungen. Daraus folgt, dass die deutschen Verfassungsschutzbehörden seit Juli 2020 personenbezogene Daten in Bezug auf die Betreiber dieser Internetplattform auswerten und speichern können sowie unter strengen Voraussetzungen auch nachrichtendienstliche Mittel einsetzen dürfen.
5. Fazit
Jeder Radikalisierungsverlauf ist anders, jeder ist individuell. Die Analyse der extremistischen Attentäter sowie die Analyse der Extremisten, die in den letzten Jahren wegen geplanter politisch motivierter Straftaten verurteilt wurden, zeigt jedoch, dass die oben dargestellten drei Radikalisierungsfaktoren die wesentlichen sind, die in unterschiedlicher Ausprägung immer eine wichtige Rolle bei Radikalisierungsverläufen spielen.
Nach dem Stufenmodell von Moghadam führen die meisten Radikalisierungsprozesse nicht zu terroristischer Gewalt, die meisten der Radikalisierten bleiben auf Stufen unterhalb von Terrorismus stehen. Die Bundesregierung erklärte am 25.5.2020, dass im „Bundesamt für Verfassungsschutz das als ‚stochastischer Terrorismus‘ bezeichnete Phänomen in den jeweiligen Fachbereichen bearbeitet, die für die Bearbeitung der extremistischen Bestrebungen (Rechts-, Links-, Ausländerextremismus oder Islamismus) zuständig sind, die diese Methoden anwenden“. Sprich: Der Kontext enthemmte Sprache, extremistische Narrative als Radikalisierungsfaktor im Internet und mögliche Übergänge zum stochastischen Terrorismus sind nach Angaben der deutschen Sicherheitsbehörden in allen Phänomenbereichen von Extremismus zu erkennen.
Um die Prävention und Deradikalisierungsprogramme zu stärken müssen die Radikalisierungsforschung sowie der Austausch von Sicherheitsbehörden und Wissenschaft institutionell durch die Politik und die Behördenleitungen gestärkt werden. Je mehr wir über Radikalisierungsprozesse von Extremisten und Terroristen wissen, desto eher können wir diese Radikalisierungsprozesse vorbeugen und damit politisch motivierte Gewalt verhindern bzw. verringern.
Alle Quellenangben finden Sie in Polizei Info Report 2/2022.