Zur Einführung von Bodycams bei der Polizei

Erwartungen und Zielkonflikte

Dr. Matthias Jung[1] und Apl. Prof. Dr. Thomas Ley[2]

Mit der Einführung von sogenannten Bodycams verbinden sich unterschiedliche Ziele und Erwartungen, die nicht ohne Weiteres miteinander in Einklang zu bringen sind. Daraus resultieren mögliche Zielkonflikte, die sich nicht beseitigen, sondern höchstens ausbalancieren lassen. Sie sollen im Folgenden beschrieben werden.

1 Videoprotokolle von Konfliktinteraktionen: Methodologische Vorbemerkungen zu Möglichkeiten und Grenzen

Videoprotokolle ermöglichen es, den Verlauf von Konfliktinteraktionen im Detail nachzuvollziehen, insbesondere im Hinblick auf Prozesse der Eskalation und Deeskalation. Ohne technische Aufzeichnungen wäre man, wie Anne Nassauer und Nicolas M. Legewie feststellen, bei der Erforschung dieser Prozesse auf die Erinnerung von Betroffenen und Zeugen angewiesen, die im Normalfall die Situation nur höchst selektiv wiedergeben können.[3] Als Daten für die Analyse stünde kein lückenloses Protokoll der Situation als solcher zur Verfügung, sondern, soziologisch ausgedrückt, nur die jeweiligen Situationsdefinitionen der Beteiligten und Anwesenden, also das, was ihnen in der Situation unter der Bedingung „von emotionaler Erregung und Stressreaktionen“[4] relevant erschien. Videoaufzeichnungen gestatten einen distanzierten Blick auf ein Konfliktgeschehen, es besteht die Möglichkeit eines wiederholten und verlangsamten Abspielens, und so lassen sich für den Verlauf wichtige Details entdecken, die der Aufmerksamkeit ansonsten entgangen wären, weil sie unscheinbar sind oder dem Erwartungshorizont eines Beobachters nicht entsprechen.[5] Aber selbst wenn die Technik das Problem einer genauen Aufzeichnung der Wirklichkeit zu lösen vermag, löst sie doch nicht das Problem der Rekonstruktion des protokollierten Geschehenen, also die hermeneutische Aufgabe der Interpretation.

Grundsätzlich gestatten Videokameras eine genaue Protokollierung von Geschehnissen, Abläufen, Handlungen, Interaktionen und Äußerungen, das heißt eine audiovisuelle Fixierung der Flüchtigkeit der Praxis in einem für nichttechnische Aufzeichnungen unerreichbaren Detaillierungsgrad.[6] Die gerätevermittelte Aufzeichnung als eine „nicht-intelligente, rein technische Prozedur ohne eigene interpretierende oder erkennende Subjektivität“[7] bedeutet eine enorme Entlastung für diejenigen, die sie einsetzen, und das insbesondere dann, wenn sie das von ihnen Wahrgenommene erst nachträglich protokollieren können, weil sie in die zu protokollierende Situation als Handelnde involviert waren. Solche Protokolle sind durch das Nadelöhr der Situationsdefinitionen der Protokollierenden gegangen, basieren also darauf, was diese von einer Situation erfasst und als bedeutsam erachtet haben. Die Situationsaspekte dagegen, welche nicht Teil ihrer Definitionen, aber möglicherweise wichtig für den weiteren Verlauf des Geschehens waren, können so von vornherein überhaupt nicht in den Blick geraten. Technisch vermittelte Aufzeichnungen verfügen damit über einen Grad an Genauigkeit, der wahrnehmungsbasierten Protokollen weit überlegen ist. Für Polizisten kommt diese Entlastungsfunktion insbesondere in Einsatzsituationen zum Tragen, in denen sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf Beschreibungen der Situation richten können, sondern auf deren handlungspraktische Bewältigung richten müssen.

Obgleich aber die Aufzeichnungen einer Videokamera keinen subjektiven, der Wahrnehmungsverarbeitung geschuldeten Selektivitäten unterliegen, dokumentieren auch sie nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit, und das ist insbesondere beim Einsatz von Bodycams folgenreich. Was sie abbilden und was nicht, hängt unter anderem ab von der Beschaffenheit des Equipments, den raum-zeitlichen Aufnahmebedingungen (Licht- und Geräuschverhältnisse) und von Beginn und Ende der Aufzeichnung (unter Einbezug der Pre-Recording-Funktion, also der rückwirkenden Speicherung einer Sequenz vor dem Aktivieren der Kamera) sowie von der perspektivischen Positionierung der Videokamera.

In zeitlicher Hinsicht wird vor allem die sogenannte „Interpunktionsproblematik“[8] virulent, also unterschiedliche Ansichten bezüglich der Frage, was in einem Interaktionsverlauf die initiale Aktion und was die darauf bezogene Reaktion gewesen ist. Vor allem bei konfliktiven Verläufen betrifft dies die Frage, wer „angefangen“ hat und wem die Konflikthaftigkeit der Interaktion zuzuschreiben ist. Wenn die Kamera nicht dauerhaft aufzeichnet, sondern ihrer Aktivierung ein Angemessenheitsurteil des sie führenden Polizisten vorausgeht, dann gibt der Beginn der Aufzeichnung nicht den Beginn der Interaktion wieder, und es bleibt unklar, welche Entwicklung sie bis zum Zeitpunkt der Aktivierung genommen hat. Die Wirklichkeit wird von dem Polizisten also einseitig „angeschnitten“, und daher wäre wichtig, dass die Ankündigung der Videoaufzeichnung mitprotokolliert ist, sodass man anhand des Protokolls nachvollziehen kann, welche Reaktion auf diese Ankündigung erfolgte. Die Möglichkeiten der Manipulation, die sich dabei den polizeilichen Einsatzkräften bieten, liegen auf der Hand: Das Gegenüber kann provoziert werden, bis die Situation eskaliert, und eine dann erfolgende Ankündigung des Einsatzes der Videokamera führt, besonders in emotional hoch aufgeladenen Situationen, auf Seiten des Gegenübers zu Abweichungsverstärkungen.

Positioniert ist die Bodycam polizeiseitig und gibt keine „Totale“ wieder, sondern fokussiert auf das Gegenüber. Allerdings gibt es eine Asymmetrie bezüglich der Aufzeichnung optischer und akustischer Informationen, denn während die Bildaufzeichnung primär das Gegenüber erfasst, protokolliert die Tonaufzeichnung auch die Stimme des kameratragenden Polizisten, und zwar aufgrund der größeren Nähe zum Mikrofon unter Umständen besser als die des Gegenübers. Aus der Aufnahmeperspektive von A ist es zwar grundsätzlich möglich, Gesichtsausdruck, Mimik, Gestik oder Körperhaltung von B aufzuzeichnen, eine Aufzeichnung der non-verbalen Kommunikation von A aus der Perspektive von B erfolgt indes nicht, und deshalb ist eine relevante Dimension für die Rekonstruktion der Interaktion von A und B das gesprochene Wort;[9] dabei ist für die Rekonstruktion des interaktiven Geschehens nicht nur das wichtig, was von wem wie gesagt wurde, sondern auch, was nicht gesagt wurde.[10]

Allerdings protokolliert die Bodycam nicht nur ein Geschehen, das ohne sie genauso ablaufen würde, sie ist vielmehr auch ein Faktor, der diesen Ablauf beeinflussen kann. Interaktionsimmanent fungiert sie als symbolischer Stellvertreter eines Dritten, der nicht unmittelbar in die Interaktion interveniert, sie aber dokumentiert und damit die Grundlage für eine nachträgliche Bewertung schafft. Die Antizipation dieser Bewertung geht im Normalfall in die Situationsdefinitionen der Beteiligten ein und ist, abhängig von ihrer Einschätzung der Relevanz dieses Faktors, für ihr Handeln folgenreich. Der zum Beispiel in Zusammenhang mit der Eigensicherung der Polizisten erwünschte Disziplinierungseffekt setzt rational kalkulierende Akteure voraus, die in der Unmittelbarkeit der Situation Kosten und Nutzen ihres Handelns abwägen und sich mäßigen können, weil sie wissen, dass sie möglicherweise belangt werden. Eine solche Rationalitätsunterstellung ist indes unrealistisch in hoch emotionalen Situationen oder auch dann, wenn bei den Akteuren kognitive Einschränkungen vorliegen, etwa durch den Gebrauch von Alkohol oder Betäubungsmitteln. In den Situationsdefinitionen beider Seiten, sowohl des Polizisten wie seines Gegenübers, kann die Bodycam bewertet werden beispielsweise als Hilfsmittel, als Verbündeter, als Provokation, als Kontrollinstrument oder auch als Gerät zur Veranschaulichung einer Machtasymmetrie oder Handlungseinschränkung, und entsprechend kann sie als Objekt befürwortet oder abgelehnt werden.

 

2 Ziele und mögliche Zielkonflikte bei der Einführung der Bodycam

2.1 Ziele und Funktionen

Die drei vorrangigen Ziele, die mit der Einführung der Bodycam erreicht werden sollen und denen unterschiedliche Wirkungshypothesen entsprechen, sind die folgenden: Gefahrenabwehr, Überwachung/Kontrolle des polizeilichen Handelns sowie Beweismittelsicherung. Mit Robert K. Merton[11] könnte man sagen, dass die verschiedenen Wirkungshypothesen jeweils eine Funktion als die manifeste der Bodycam behaupten und die jeweils anderen Funktionen darauf bezogen latente sind. Diese können die manifeste Funktion unterstützen oder konterkarieren, werden aber im Normalfall ausgeblendet oder nicht antizipiert.

2.1.1 Gefahrenabwehr

Die Gefahrenabwehr bezieht sich vorrangig auf die Eigensicherung und den Selbstschutz der Polizisten vor dem Hintergrund der Annahme, dass sich die Bodycam disziplinierend auf ihre Gegenüber auswirkt.[12] Zu unterscheiden ist dabei zwischen dem präventiven Aspekt der Eskalationsvermeidung einerseits und der Herbeiführung einer Deeskalation andererseits.

Rein klassifikatorisch könnte man unter „Gefahrenabwehr“ auch einen Einschüchterungs- bzw. Abschreckungseffekt anführen, der darauf beruht, dass ein potentieller Straftäter im Wissen um die Aufzeichnung seines Handelns die Begehung einer Straftat unterlässt.[13] Dieser gefahrenpräventive Effekt basiert auf der antizipierten Funktion der Bodycam zur Beweismittelsicherung und setzt voraus, dass die aufgenommene Seite nicht überführt werden will und in der Aufnahmesituation unterstellt, dass sie auf der Grundlage der Aufzeichnung überführt werden kann. Von daher wäre ein Wissen um die methodischen Grenzen der Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit auf der materialen Basis von Videoaufnahmen in präventiver Hinsicht kontraproduktiv, und mit Heinrich Popitz[14] könnte man von einer „Präventivwirkung des Nichtwissens“ in Bezug auf faktisch bedingte Grenzen des methodisch Rekonstruierbaren sprechen – Nichtwissen wäre also, bezogen auf die Bodycam, eine Ermöglichungsbedingung erfolgreicher Prävention.

Überhaupt ist ein präventiver Effekt des Einsatzes der Bodycam keineswegs zwingend. Denn B, dem von A die Aufzeichnung mit der Bodycam angekündigt wird, kann dem Einsatz der Kamera widersprechen, sodass im Sinne Niklas Luhmanns ein Konflikt entsteht, der seiner eigenen systemischen Logik folgt, was die Möglichkeit einschließt, dass es nicht bei einer sprachlichen Auseinandersetzung bleibt, sondern die Widerspruchsinteraktion gewaltförmig eskaliert,[15] wenn B sich körperlich gegen den Einsatz der Bodycam wendet.[16] Dann wird aus einem Konflikt ein Kampf, der durch physische Gewalt entschieden wird.[17]

Der Gefahrenabwehr soll auch der Umstand dienen, dass das Tragen der Bodycam (wie auch das der Uniform und der Dienstwaffe) die Autorität der Polizisten stärken soll, genauer ihre Amtsautorität.[18] Durch die Möglichkeit des Einsatzes von Aufzeichnungstechnik soll ein konformes Verhalten der Gegenüber bewirkt werden, der Bodycam-Einsatz ist in dieser Hinsicht also, mit Popitz gesprochen, eine „Methode instrumenteller Machtausübung“[19], die auf Drohung basiert: „Eine Person (…) – der Drohende – gibt einem anderen – dem Bedrohten – zu erkennen oder setzt als bekannt voraus: Wenn du, was ich will (gefordertes Verhalten), nicht tust (abweichendes Verhalten), werde ich dir Schaden zufügen bzw. dafür sorgen, daß dir Schaden zugefügt wird (angedrohte Sanktion); wenn du tust, was ich will (konformes Verhalten), wirst du dem Schaden entgehen (Sanktionsverzicht)“[20]. Dabei ist es nicht notwendig, dass Drohungen verbal erfolgen, denn „gestische oder mimische Intentionssignale sind oft wortlos verständlich“[21], und so kann die bloße Sichtbarkeit der Bodycam bereits ausreichen, um verhaltenssteuernd zu wirken.

2.1.2 Überwachung/Kontrolle des polizeilichen Handelns

Mit dem Einsatz der Bodycam kann ferner die Erwartung verbunden werden, dass mit ihr das Handeln der Anwender überwacht wird und sich Übergriffe auf ihre Gegenüber auf diese Weise verhindern lassen. Wie bei der Gefahrenabwehr wird hier von einer disziplinierenden Wirkung der Bodycam ausgegangen, die aber ihre Anwender und nicht deren Gegenüber adressiert. Zu bedenken ist dabei, dass Disziplinierung nicht per se etwas Positives oder Wünschenswertes ist, sondern es auch darauf ankommt, ob das durch Disziplinierung induzierte Verhalten der jeweiligen Situation angemessen ist oder nicht. Polizeibeamte, die in der Bodycam primär ein Mittel zu ihrer eigenen Überwachung und Kontrolle sehen, werden sich entsprechend dieser Situationsdefinition verhalten. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Aufzeichnung akustischer Informationen zu. Während die Kamera auf das Gegenüber und seine Handlungen gerichtet ist und die Gestik und Mimik der polizeilichen Einsatzkräfte nicht dokumentieren kann, nimmt das Mikrofon auch das gesprochene Wort von ihnen auf, das nicht nur für die Interaktion mit dem Gegenüber zentral ist, sondern auch für die Verständigung der Polizisten untereinander über die Einschätzung des Einsatzes und die antizipierte „Beschwerdemacht“[22] ihrer Gegenüber.

2.1.3 Beweismittelsicherung

Bezogen auf diese Funktion sind zwei Dimensionen zu unterscheiden. Zum einen soll, wie schon beschrieben, die Bodycam generalpräventive Effekte haben und potenzielle Straftäter von Straftatbegehungen abhalten. Zum anderen aber soll die Beweismittelsicherung dazu der Entlastung der Anwender „von unberechtigten Strafanzeigen bzw. Beschwerden“[23] dienen, denn diese Vorwürfe können sich in Ansehung der Aufnahmen gegebenenfalls schnell als haltlos erweisen. Der Einsatz der Bodycam zu diesem letztgenannten Zweck wird auch von den Anwendern befürwortet.[24] Relevant wird der Einsatz insbesondere dann, wenn „über die verbale Dimension der Interaktion hinaus die nonverbale Dimension von Gestik und Mimik sowie Positionierung der beteiligten Personen zueinander“[25] für das Verständnis notwendig ist; allerdings lässt sich die Frage nach dem Erkenntniswert einer Videoaufzeichnung zu Beweissicherungszwecken nur am konkreten Fall und nicht pauschal beantworten.[26]

Eine Verwendung der Bodycam zu Beweiszwecken könnte außerdem als Hinweis darauf gewertet werden, dass den Aussagen von Polizisten vor Gericht nicht mehr per se eine hohe Glaubwürdigkeit zuerkannt wird, dass sich also Richter bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen nicht mehr „an außerprozessualen Rollen“[27] orientieren.

2.2 Interferenzen und Zielkonflikte

2.2.1 Interferenzen von Gefahrenabwehr und Kontrolle der Anwender

Die Funktion der Bodycam als Instrument der Gefahrenabwehr setzt voraus, dass die Anwender selbst situativ darüber entscheiden können, ob sie eine Interaktion aufzeichnen oder nicht, innerhalb einer Interaktion ist die Möglichkeit der Aufzeichnung (und deren Ankündigung) also ein wichtiges Mittel zur Beeinflussung ihres Verlaufs. Geht es aber um die Überwachung des polizeilichen Handelns, so hat dies trivialerweise zur Voraussetzung, dass die Kamera permanent aufzeichnet, und nicht nur dann, wenn Polizisten den Einsatz für angemessen halten. Das Wissen um die ständige Dokumentation ihres Handelns hat Einfluss auf dieses (und das soll ja im Sinne der Kontrolle auch so sein), kann aber unerwünschte Konsequenzen haben und unter Umständen zu einem hyperkorrekten Verhalten führen, beispielsweise zu einer juristisch-technokratischen Wortwahl, wenn eine kolloquiale Sprache angebracht wäre, also zu einem Verhalten, von dem antizipiert wird, dass es den erwarteten Erwartungen der Vorgesetzen entspricht, das aber nicht adressaten- und situationsadäquat ist und eine Schwächung polizeilicher Autorität zur Folge haben kann. Worauf es ankommt, ist mit anderen Worten nicht das Beharren auf formaler Amtsautorität, sondern eine glaubwürdige personale Autorität, die sich in einem respektvollen und authentischen, aber bestimmten und situationsangemessenen Auftreten ausdrückt.[28] Das Wissen um die ständige Dokumentation ihres Handelns kann sich außerdem in Situationen, die rasches Handeln erfordern, ungünstig auf die Spontaneität der Polizisten auswirken, vor allem wenn ihre Vorgesetzten etwaige Fehler nicht als Lernchance begreifen.[29]

Der Handlungsspielraum der Polizisten wird im Hinblick auf kleine, pragmatisch-situativ angemessene Regeldehnungen eingeschränkt, was nicht nur gelingendes polizeiliches Handeln erschweren, sondern auch das Bemühen um eine Beruhigung der Situation und um Deeskalation im Sinne der Eigensicherung konterkarieren kann. Johannes Feest und Erhard Blankenburg verwenden zur Charakterisierung dieser Abweichungen im Anschluss an Luhmann den prägnanten, aber nicht unmissverständlichen Begriff der „brauchbaren Illegalität.“[30]

Die Einschränkung des polizeilichen Handlungsspielraums gilt vor allem dann, wenn die kontrollierte Seite eine Videoprotokollierung der Interaktion einfordern kann. Auch wenn sich diese Verhaltensanpassung nicht notwendig negativ auf die Situationsbewältigung auswirken muss, kann sie zu einem nicht situationsgerechten Verhalten führen, weil die Kontrollierten zwar konform im Hinblick auf die (vermuteten) Erwartungen ihrer Vorgesetzten handeln, diese Konformität aber nicht zweckmäßig ist für die Erfordernisse der Situation. Die polizeilichen Einsatzkräfte führen eine Art schauspielerisches Rollenspiel auf,[31] was ihre Glaubwürdigkeit unterminiert und den situativen Erfolg gefährdet. Durch eine Bodycam Amtsautorität vermitteln zu wollen, ist einerseits eine riskante, scheiterungsanfällige Strategie, während auf der anderen Seite die Bodycam dazu angetan ist, personale Autorität zu desavouieren. Werden neue Befugnisse und Techniken wie die Bodycam dazu verwendet, die Amtsautorität zu stärken und gegen Widerstände durchzusetzen, befeuert dies Matthias Weber zufolge „Eskalationen, deren Dynamik sich dadurch auszeichnet, dass immer mehr desselben Interventionsprinzips helfen soll“[32].

Wenn aber die Gegenüber der Polizisten um die Kontrollfunktion der Bodycams wissen, kann dies den Effekt haben, dass sie in diesen keine Instrumente autoritativer Einschüchterung sehen, sondern im Gegenteil so etwas wie Verbündete, die ihnen gegebenenfalls zu ihrem Recht verhelfen können. In diesem Zusammenhang sei an das oben zu den manifesten und latenten Funktionen Ausgeführte erinnert: Wird, wie beispielsweise von der Deutschen Polizeigewerkschaft, als manifeste Funktion der Bodycam die Eigensicherung postuliert,[33] dann wird die latente Funktion ausgeblendet, die darin besteht, dass die Bodycam auch dann, wenn sie explizit zum Zweck der Eigensicherung eingesetzt wird, Aufnahmen produziert, die prinzipiell das polizeiseitige Handeln auch jenseits der von den Polizisten verfassten Berichten kontrollierbar werden lassen.

2.2.2 Interferenzen von Gefahrenabwehr und Beweismittelsicherung

Ähnliches gilt für diese Konstellation: Die Verwendung der Bodycam als standardisiertes (und nicht bloß okkasionelles) Mittel zur Beweismittelsicherung erfordert ebenfalls eine permanente und nicht nur anlassinduzierte Aufzeichnung, und die damit verbundenen Faktoren, die das Handeln der Anwender beeinflussen, gelten ceteris paribus auch hier.

Dass die Anwender die Beweismittelsicherungsfunktion der Bodycam befürworten, weil diese sie von unberechtigten Vorwürfen entlasten kann, steht dem nicht entgegen, hier ist die Beweismittelsicherung jedoch gleichsam Beifang zu der Verwendung der Bodycam im Sinne der Gefahrenabwehr. Da man indes nie sicher wissen kann, welchen Verlauf ein Einsatz nehmen wird, kann man vorher auch nicht wissen, ob die Bodycam als Gefahrenpräventionsmittel wirkt oder als Beweissicherungstechnik relevant wird. So können in einer Situation, in der das Einschalten der Videokamera aus Gründen der Gefahrenabwehr erforderlich erscheint, die Aufzeichnungen bei Scheitern der Prävention auch zu Beweissicherungszwecken verwendet werden. Das dokumentierte Scheitern ist dann relevantes Material im Sinne der Beweissicherung. Umgekehrt macht eine erfolgreiche Gefahrenprävention eine Beweissicherung bezogen auf diesen Einsatz überflüssig.

2.2.3 Interferenzen von Kontrolle/Überwachung und Beweismittelsicherung

Hier sind die wenigsten Interferenzen zu erwarten, denn beide Funktionen setzen eine permanente Aufzeichnung des Geschehens voraus. Polizeibeamte, die die Kamera zu Beweismittelsicherungszwecken einsetzen, werden versuchen, selbst nach Möglichkeit rechtlich angemessen zu handeln, weil sie antizipieren können, dass auch ihr protokolliertes Handeln einer juristischen Bewertung vor Gericht unterzogen werden kann.

3 Fazit

Die erhofften Effekte, die mit den drei Funktionen der Bodycam – Gefahrenabwehr, Kontrolle des polizeilichen Handelns, Beweismittelsicherung – verbunden werden, haben eine Voraussetzung gemeinsam: Sie unterstellen, dass die videotechnisch aufgenommenen Personen davon ausgehen, dass sich auf der Grundlage der Aufnahmen prinzipiell etwas Belastendes gegen sie rekonstruieren lässt. Wüssten dagegen die Aufgenommenen, dass erstens im Sinne der oben genannten Einschränkungen durchaus nicht alle Aufnahmen gelingen und sie zweitens keineswegs leicht auszuwerten sind, könnte sich der Einsatzwert der Bodycam erheblich verringern – erinnert sei an die angeführte „Präventivwirkung des Nichtwissens“ (Popitz). Insofern kann die Polizei eigentlich nicht an einer Diskussion über die Grenzen der Rekonstruierbarkeit von Bodycam-Aufzeichnungen interessiert sein, da vollkommene Transparenz für ihre Arbeit dysfunktional wäre.

Literatur

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[1] Privatdozent an der Goethe-Universität Frankfurt am Main/ Institut für Soziologie/Fachbereich Gesellschaftswissenschaften

[2] Goethe-Universität Frankfurt am Main/Institut für Soziologie Ministerialrat im Thüringer Ministerium für Inneres und Kommunales Leitung der Geschäftsstelle des Landespräventionsrates und der Stabsstelle Polizeiliche Extremismusprävention

[3] Nassauer/Legewie, 2020, S. 137–138.

[4] Ebd., S. 138.

[5] „Die technische Aufzeichnung realer Konflikte ist aus einer Reihe von Gründen sinnvoll: So können wir auf Details stoßen, die wir sonst gar nicht sähen, auf die zu achten wir nicht vorbereitet waren oder von denen wir gar nicht wussten, dass es sie gibt. Sie ermöglicht uns einen analytischeren Standpunkt, weil wir uns von unseren alltäglichen Wahrnehmungsmustern und den Klischees unserer Alltagssprache über Gewalt lösen können. Sie erlaubt uns, eine Situation immer wieder abzuspielen, den ersten Schock (oder den Überdruss, das lüsterne Interesse und Ähnliches) zu überwinden und dann mit unserem Verstand daranzugehen, Entdeckungen zu machen oder Theorien zu überprüfen“ (Collins, 2011, S. 17).

[6] Siehe Bergmann 1985.

[7] Oevermann, 2000, S. 84.

[8] Watzlawick et al., 1969, S. 57–61.

[9] Siehe Loer 2023, S. 372.

[10] In dem kurz vor seinem Tod erschienenen Hauptwerk „Die Gesellschaft der Gesellschaft“ hat Niklas Luhmann in einer methodologischen Vorbemerkung formuliert, dass der „Sinngebrauch in sozialen Systemen immer auch Verweisungen auf Unbekanntes, auf Ausgeschlossenes, auf Unbestimmbares, auf Informationsmängel und auf eigenes Nichtwissen mitführt“ (Luhmann, 1998, S. 38). Entsprechend „wäre es, wenn man dem Begriff der Kommunikation eine theoretisch zentrale Bedeutung gibt, notwendig, das immer mitzuerheben, was nicht gesagt wird, wenn etwas gesagt wird; denn im sozialen Verkehr werden die Reaktionen sehr häufig durch eine Mitreflexion des Nichtgesagten bestimmt sein“ (Ebd.).

[11] Siehe Merton, 1995.

[12] „Der Einsatz der Körperkamera ist (…) primär eine präventivpolizeiliche Maßnahme und soll insbesondere in Kontrollsituationen zur Anwendung kommen, bei denen mit einem problematischen Verlauf zu rechnen ist. Ziel ist es, in diesen Fällen durch den offenen Kameraeinsatz eine deeskalierende Wirkung zu erzeugen und damit die Eigensicherung der eingesetzten Polizeikräfte zu erhöhen“ (Arnd, 2016, S. 107).

[13]Siehe Donaubauer, 2017, S. 86. – „Bisherige Erfahrungen deuten darauf hin, daß Körperkameras durchaus ein ergänzendes Einsatzmittel sein können, um die Gewalt gegen die Polizei zu reduzieren“ (Arnd, 2016, S. 104). Sie sind allerdings kein Allheilmittel und sollten die Polizeibeamten nicht dazu verleiten, unaufmerksam zu sein.

[14] Popitz, 2006, S. 158.

[15] Zur Differenz von Konflikt/Gewalt schreibt Collins (2011, S. 36): „Ein Konflikt, und mag er noch so offen geäußert werden, ist nicht das Gleiche wie Gewalt…“.

[16] „Konflikt und Gewalt sind durch einen Prozess der Eskalation und Gegeneskalation miteinander verknüpft“ (Collins, 2011, S. 58).

[17] Luhmann, 1984, 9. Kap.

[18] Weber, 2020.

[19] Popitz, 1992, S. 26.

[20] Ebd., S. 80.

[21] Ebd.

[22] Siehe Feest/Blankenburg, 1972.

[23] Polizeipräsidium Frankfurt, 2014, S. 10.

[24] Kersting et al., 2019, S. 95 u. S. 110.

[25] Loer, 2023, S. 373.

[26] Methodisch notwendig sind deswegen Fallrekonstruktionen, Analysen konkreter Bodycam-Fälle. Das Fehlen solcher Analysen bedeutet gegenwärtig ein erhebliches Forschungsdefizit.

[27] Luhmann 1978, S. 62 Anm. 6.

[28] Siehe Laumer/Welscher, 2023.

[29] Siehe Clasen et al., 2023; zur mangelnden polizeilichen Fehlerkultur auch Seidensticker, 2018.

[30] Feest/Blankenburg 1972, S. 124; siehe Luhmann 1964, S. 304–314. Luhmann nennt an anderer Stelle „ein sehr konkretes, milieubezogenes Kontaktverständnis“ als wichtigen Faktor: „An der Front sehen die Dinge anders aus als in den Stäben, die die Einsätze planen“ (Luhmann 1987, S. 279). Dieses Kontaktverständnis kann in einer informellen Hemdsärmeligkeit Ausdruck finden, die zwar nicht dem Lehrbuch entspricht, sich aber in der Praxis zur Bewältigung von potentiell konfliktiven Situationen bewährt hat. Zu dieser „rough informality“ bemerkt Egon Bittner: „By this standard, patrolmen who are ‚not rough enough,‘ or who are ‚too rough,‘ or whose roughness is determined by personal feelings rather than by situational exigencies, are judged to be poor craftsmen“ (Bittner, 1967, S. 701).

[31] Siehe Goffman, 1988.

[32] Weber, 2020, S. 18; zur Logik der Eskalation siehe Hübner, 2013.

[33] „Die Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) begrüßt grundsätzlich alle (auch technischen) Bemühungen, gewalttätige Angriffe auf Polizeikräfte einzudämmen. Ob und inwieweit so genannte Bodycams geeignete Instrumente sind, die Gewalt tatsächlich zu mindern, soll in Pilotprojekten erforscht werden. Diese Forschungen können durchaus in unterschiedlicher Anwendung erfolgen und sollen ergebnisoffen wissenschaftlich evaluiert werden. Eine ‚Erfolgskontrolle‘ durch die eingesetzten Projektgruppen selbst lehnt die DPolG ab. Keinesfalls dürfen Bodycams zur Verhaltens-, Arbeits- oder Leistungskontrolle eingesetzter PVB eingesetzt werden. Jegliche Anwendung, auch in Versuchen, muss durch Dienstvereinbarungen mit den Personalvertretungen begleitet werden“ (https://www.dpolg.de/ueber-uns/positionen/bodycams/ [letzter Zugriff am 13.06.2023]).